SoZ - Sozialistische Zeitung |
Im 1.Halbjahr 2007 übernimmt Deutschland den Ratsvorsitz in der Europäischen Union. Von Angela Merkel wird
erwartet, dass sie weitere Weichen in Richtung noch stärkerer Deregulierung des Binnenmarkts stellt und vor allem den EU-Verfassungsvertrag wieder
aufs Geleis bringt.
Im November hat das Europäische Parlament mit großer Mehrheit die
umstrittene Dienstleistungsrichtlinie verabschiedet, nach dem ehemaligen EU-Kommissar für Binnenmarktfragen, Frits Bolkestein, als "Bolkestein-
Hammer" bekannt geworden. Entgegen der verbreiteten Meinung, der Richtlinie seien in einem Kompromissvorschlag im Februar 2006 die schlimmsten
Zähne gezogen worden, fallen weite Bereiche der Daseinsvorsorge wie Energie, Wasser und Abfallwirtschaft, Gesundheit, Bildung und soziale
Dienstleistungen in ihren Anwendungsbereich [siehe SoZ 12/06].
Der DGB schlussfolgerte in seiner schriftlichen Stellungnahme im Oktober, dass
"Bestandteile der Dienstleistungsrichtlinie etwa die Ausnahme bestimmter strafrechtlicher Verfolgung nicht mit dem deutschen
Grundgesetz vereinbar sind". Ver.di kritisierte insbesondere die mangelnde "Rechtssicherheit", die ebenso wie die Gleichheit vor dem
Gesetz akut gefährdet ist", da in jedem Land "künftig 27 verschiedene Rechtssysteme in 22 Sprachen nebeneinander
gelten".
Ver.dis Kritik gipfelte in der Anklage, die politisch Verantwortlichen akzeptierten "ein
Europa des Lohn- und Sozialdumpings" mit "steigender sozialer und ökonomischer Unsicherheit", wodurch die "weit verbreitete
Europamüdigkeit zur offenen Europaverdrossenheit" in der deutschen Bevölkerung umschlagen könnte.
Die Dienstleistungsrichtlinie ist ein Ergebnis der Lissabon-Strategie, die auf dem EU-Frühjahrsgipfel 2000 verabschiedet wurde und das Ziel verfolgt,
die EU bis 2010 zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt" zu machen. Um das Lissabon-
Ziel zu erreichen, strebt die EU die Durchsetzung folgender flankierender Maßnahmen an:
Schaffung bzw. Vollendung des Binnenmarkts für Dienstleistungen,
Öffnung bisher abgeschirmter und geschützter Sektoren, d.h. zunehmende
Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und Güter,
stärkere Unternehmerfreundlichkeit, d.h. niedrigere Steuern für
Unternehmen, Verlängerung der (Lebens-)Arbeitszeit (Rente mit 67) und mehr "Eigenverantwortung" der Einzelnen für Bildung
Gesundheit, Rente usw.
sowie Steigerung der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit auf dem
Arbeitsmarkt z.B. durch Minijobs und 1-Euro-Jobs, Aushöhlung des Kündigungsschutzes.
Kritiker bezeichnen die Lissabon-Strategie als "soziale Abrissbirne", die den
Konzernen Riesengewinne beschert, Arbeitsplätze vernichtet, die Kosten für Alters- und Gesundheitsversorgung zunehmend den Einzelnen
aufbürdet und Arbeitsuchende in prekäre Beschäftigungsverhältnisse zwingt. Dabei scheint es, dass Länder mit den niedrigsten
Arbeits- und Sozialstandards in Europa beispielgebend für andere EU-Mitgliedstaaten werden.
Damit "sich Arbeit wieder lohnt", werden europaweit die Sozialleistungen unter
das Existenzminimum gedrückt. Suggeriert wird, die tendenzielle Angleichung der Löhne nach unten sei die einzige Möglichkeit, in der
Konkurrenz mit Billiglohnländern innerhalb und außerhalb Europas bestehen zu können.
Ein Schwerpunkt der deutschen EU-Präsidentschaft ist die weitere Durchsetzung der
Lissabon-Strategie. Mit weiteren "Reformen" ist also zu rechnen. Unter dem Label "Reform der Hartz-Gesetze" könnte
beispielsweise das Workfare-Konzept durchgedrückt werden. Nach einer Studie des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) könnten rein
rechnerisch 800000 Langzeitarbeitslose dadurch in Beschäftigung gebracht werden. Das Workfare-Konzept will den Bezug von Arbeitslosengeld II
konsequent an eine Gegenleistung in Form gemeinnütziger Arbeit knüpfen.
Der Zusammenhang zwischen der Lissabon-Strategie und den neoliberalen
"Reformen" auf nationaler und EU-Ebene ist weder für die deutsche noch für die europäische Öffentlichkeit transparent und
ein Thema. Die Ersetzung des bisherigen Wohlfahrtsstaats durch einen "Workfare"-Staat, der jegliche Form sozialer Sicherungen an das Prinzip von
Leistung und Gegenleistung koppelt, wird immer noch weitgehend im nationalen Kontext diskutiert, die europäische Dimension außer acht
gelassen.
Gewerkschaftsführer und Vertreter anderer Interessengruppen werden als "Reform"-Vermittler ge- und missbraucht und lassen sich in
neoliberale Politik einbinden. Um die Akzeptanz der Lissabon-Strategie zu erhöhen, sollen Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Gruppen
"konstruktiv" an den "Reformen" mitarbeiten. Die EU-Mitgliedstaaten sollen "nationale Programme ausarbeiten, mit denen sie sich
zur Durchführung von Reformen verpflichten und Bürger und Stakeholder (beteiligte Interessengruppen) in den Prozess einbinden".
Dieser Appell steht in der im November 2004 veöffentlichten Halbzeitstudie der
Lissabon-Strategie mit dem schönen Titel "Die Herausforderung annehmen". Mitautor ist der ehemalige Vorsitzende des
Österreichischen Gewerkschaftsbunds Fritz Verzetnitsch.
Die Studie wurde auf dem EU-Gipfel im März 2005 diskutiert. Im
Abschlusskommuniqué des Gipfels betonte die EU-Kommission, dass "der Lissabonner Strategie unverzüglich neue Impulse zu geben
sind". Bei den "Impulsen" handelt es sich u.a. um ein "attraktives Umfeld für Unternehmen, die Verlängerung der
Lebensarbeitszeit, die Senkung staatlicher Beihilfen, die Reform der Sozialschutzsysteme und die Erschließung des Humankapitals". Da das
Humankapital der wichtigste Aktivposten Europas ist, soll "lebenslanges Lernen, geografische und berufliche Mobilität" der Arbeitnehmer die
Wettbewerbsfähigkeit europäischer Konzerne erhöhen, wozu auch "neue Formen der Arbeitsorganisation und eine größere
Vielfalt der Arbeitsverträge" zählen.
Mit der Verabschiedung der umstrittenen Dienstleistungsrichtlinie im November sind die
Lissabon-Apologeten dem Ziel der Vollendung des Binnenmarkts für Dienstleistungen näher gerückt. Die Unternehmen sind aber noch nicht
zufrieden und fordern schon seit langem Erleichterungen bei der Sitzverlegung ihrer Firmen.
Diesen Wunsch möchte EU-Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy nun
erfüllen und kündigte eine "Niederlassungs-richtlinie" an, die es Unternehmen erleichtern soll, ihren Unternehmenssitz in einen anderen
EU-Staat zu verlegen. Dadurch können Firmen von günstigeren Standortfaktoren (z.B. niedrigeren Steuern) in einem anderen EU-Land profitieren,
aber auch eine andere Unternehmensstruktur erreichen. "Die Vorgaben, die im jeweiligen Herkunftsland die Mitbestimmung regeln, sollen Unternehmen
durch die Sitzverlegung allerdings nicht einfach umgehen können", so der Kommentar in der Financial Times.
Komplementär zu den oben skizzierten neoliberalen Konzepten stellte EU-Handelskommissar Mandelson Anfang Oktober unter dem Titel
"Global Europe Competing in the World" eine neue Handelsstrategie vor. Ungeschminkt enthüllt die EU darin ihre Pläne zur
Steigerung der externen Wettbewerbsfähigkeit: Sicherung der Rohstoffversorgung, stärkere Präsenz europäischer Unternehmen auf den
Wachstumsmärkten, Erschließung und Liberalisierung der lukrativen Märkte für öffentliche Aufträge, Beseitigung aller
"nichttarifären Handelshemmnisse" wie umwelt- und arbeitsrechtliche Standards, sowie gesetzgeberische Maßnahmen, die den gelobten
freien Handel so wenig wie möglich behindern.
Auch der wiederholt geäußerte Wunsch der Industrie, stärker an der EU-
internen Gesetzgebung beteiligt zu sein, findet Gehör. Darüber hinaus signalisiert die EU den Konzernen, ihnen Zugang zu
Streitschlichtungsverfahren zu ermöglichen, so dass sie Staaten leichter verklagen können, wenn diese Handelsabkommen verletzen und sie sich
durch "diskriminierende Ordnungspolitik" eingeschränkt fühlen.
Zeitnah dazu hat die Bundesregierung ihr Positionspapier "Globalisierung gestalten:
Externe Wettbewerbsfähigkeit der EU steigern Wachstum und Arbeitsplätze in Europa sichern" veröffentlicht. Als
"Hauptanliegen der künftigen EU-Handelspolitik für europäische Dienstleister" werden "die Marktzugangsbedingungen in
Drittländern, insbesondere den aufstrebenden Schwellenländern" betont. Auch empfiehlt die Bundesregierung der EU, die Reziprozität
für öffentliche Beschaffungsmärkte einzuführen.
Die zeitnahe Veröffentlichung der beiden Strategiepapiere ist sicher kein Zufall, beide
wirken in ihrer Argumentation unterstützend füreinander. In beiden Dokumenten wird offen ausgedrückt, wie das auf Gewinnmaximierung
gegründete kapitalistische System abzusichern ist: durch Eroberung neuer Märkte, Lohndrückung, Überführung von
gesellschaftlichem in privates Eigentum, Rohstoffsicherung und unternehmerfreundliche Gesetze.
Mit dem Stichwort "Humankapital", das in den Lissabon-Dokumenten wiederholt erwähnt wird, wird der Mensch nur unter
Verwertungsaspekten gesehen und damit zur Ware degradiert. Wörter wie "Wettbewerbsfähigkeit" und "Flexibilisierung"
sind ideologische Begriffe, die dem ökonomischen System entsprechen und von den Konzerninteressen, dem fortschreitenden Sozialabbau, einhergehend
mit Privatisierung von gesellschaftlichem Eigentum ablenken sollen.
Gewerkschaften und soziale Bewegungen sind aufgerufen, das viel beschworene Mantra,
dass Wettbewerb und Wachstum Arbeitsplätze schaffen, zu entlarven. Deutschland ist das wettbewerbsfähigste Land der Welt mit einer der
höchsten Produktivitätsraten, und trotzdem oder gerade deshalb werden weiterhin Arbeitsplätze wegrationalisiert.
Neben der Wettbewerbsfähigkeit lautet das andere Zauberwort "Flexibilisierung
der Arbeitmärkte". Trotz einer weitreichenden Deregulierung der Arbeitsmärkte in den letzten zwei Jahrzehnten wurden und werden
Arbeitsplätze vernichtet, weitere Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte dazu genutzt werden, die
europäische Politik und die Rolle der Bundesregierung in der EU stärker zu thematisieren. Die "Lissabon-Strategie" umschreibt eine
gigantische Umverteilungsmaschinerie, die die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht europaweit. Darum ist eine staatliche
Wirtschaftspolitik erforderlich, die sich der Verabsolutierung privater Renditeziele widersetzt am besten europaweit.
Annette Groth
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