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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2007, Seite 12

Mord im Exil

Boris Kagarlitzki über den Fall Litwinenko

Nach dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja sagte ich eine Fortsetzung dieser Geschichte voraus. Leider hatte ich Recht. Die vermutliche Vergiftung Alexander Litwinenkos in London wurde eine Topmeldung.

Einige Tage nach dem Ereignis bestätigte Scotland Yard öffentlich, dass Litwinenko, ein ehemaliger KGB-Offizier, der erst vor einem Monat die britische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, vergiftet wurde. Am 24.November starb er. Zusammen mit dieser Nachricht beeilte sich Litwinenkos Londoner Arbeitgeber, Boris Beresowski, den Namen des Hauptverdächtigen zu nennen — Wladimir Putin.
Der Anschlag auf Litwinenko scheint mit der Ermordung von Anna Politkowskaja in Zusammenhang zu stehen, was den Komplott verwickelter macht. Die Ermittler glauben, dass der frühere KGB-Agent in einem japanischen Restaurant vergiftet wurde, wo er sich mit einem italienischen Journalisten getroffen hatte, der angeblich über Informationen über den Fall Politkowskaja verfügte. Nachdem er von den britischen Ermittlern verhört worden war, tauchte der Journalist aus Angst um sein Leben irgendwo in Italien unter.
Die ganze Situation könnte perfekt als Handlung eines politischen Kriminalromans dienen. Die Regeln dieses Genres verlangen, dass die Beweise bis an die Spitze der Machthierarchie führen und dass die Anzahl der Opfer mit dem Fortgang der Untersuchung steigt, aber letztlich keine Anklage erhoben wird, obgleich alles klar ist wie der lichte Tag.
Litwinenko hatte die Geheimdienste Russlands und des Kreml beschuldigt, durch die Sprengung von Wohnhäusern in Moskau Putin den Weg an die Macht geebnet zu haben. Einige der Argumente Litwinenkos waren ganz überzeugend, einige nicht überzeugend genug. Nun, der Fall der explodierten Häuser wird nie ganz aufgelöst werden, ebensowenig wie die wahre Geschichte des 11.September oder die Ermordung John F. Kennedys und viele andere hochkarätige Fälle im 20.Jahrhundert. Es gibt eine Fülle ähnlicher Beispiele in der Geschichte wie das Verschwinden der beiden Prinzen aus dem Londoner Tower im 15.Jahrhundert. Der Fall wurde weder entsprechend untersucht noch gelöst.
In der Regel verliert die offizielle Version mit der Zeit ihre Glaubwürdigkeit, während alternativen Versionen die Beweise fehlen und die Behörden ostentativ eine Prüfung dieser Versionen ablehnen. Private Ermittlungen produzieren widersprüchliche Fakten und Spekulationen. Aber das Urteil wird von der öffentlichen Meinung geliefert, die stets den bestehenden Mächten gegenübergestellt wird.
Unter den Umständen wäre die für die russische Regierung unvorteilhafteste Taktik die Beschwörung der Gespenster der Vergangenheit. Der in London lebende Litwinenko war kein Stachel im Fleisch der russischen Machthaber, umso mehr als seine Version der Explosionen in Moskau 1999 nur eine von mehreren ist und auch nicht die überzeugendste. Aber wenn der frühere KGB-Agent Opfer eines Anschlags wird, gewinnen seine Beschuldigungen an Glaubwürdigkeit und die ganze Affäre gelangt in die Schlagzeilen. Die Feinde des Kreml werden sich keine Gelegenheit entgehen lassen, um die Vergiftung Litwinenkos als ein weiteres Argument gegen die Machthaber zu benutzen und in eine Reihe mit Fällen wie der Ermordung Politkowskajas und der Explosion der Wohnhäuser im Jahre 1999 zu stellen. Moskau wird erneut vom Westen als Hauptstadt des "Reichs des Bösen" betrachtet werden. Aber was hat der Kreml von alldem?
Nur auf dem ersten Blick scheinen die prominenten Kritiker des gegenwärtigen Regimes die einzigen Opfer der aktuellen Ereignisse. Wenn wir die Situation mehr im Detail betrachten, werden wir finden, dass die Machthaber bei solchen Entwicklungen extrem verwundbar sind. Die Schläge treffen die Kommentatoren des Großen Spiels, während die Oppositionsführer unversehrt gelassen werden. Als Resultat erhält die Opposition ihre Märtyrer und die Machthaber werden herausgefordert. Unter diesen Umständen haben die Pro-Kreml-Analysten allen Grund zu versichern, dass Litwinenkos Vergiftung und die Ermordung der Journalistin bloße Provokationen sind und dass die Opposition selbst und Boris Beresowski persönlich die Dinge organisiert haben, um die herrschende Elite des Kreml zu diskreditieren.
Bei alldem ist es schwer vorstellbar, dass Herr Beresowski seinen engsten Mitarbeiter in London umgebracht hat. Wie bösartig er auch sein mag, verrückt ist er nicht. Herr Beresowski versteht vollkommen, dass er nicht damit davonkäme, wenn Scotland Yard erst einmal etwas herausgefunden hat.
Die Explosionen von 1999 in Moskau widerspiegelten den Kampf um die Macht innerhalb einer herrschenden Elite. Die aktuellen Morde haben denselben Charakter. Weder Präsident Putin noch Herr Beresowski würden solche Morde beauftragen — für beide ist die Möglichkeit, dass das Ereignis auf sie zurückfällt, höher als mögliche Vorteile. Ich vermute, dass es andere auf niedrigeren Rängen gibt, die ihre eigenen Interessen verfolgen und ihre eigenen Methoden haben.
Die Intensivierung des Kampfes um die Macht ist das Ergebnis ihrer Aktivität. Je weniger stabil die Situation im Land ist, desto mehr gibt es eine Grundlage für drastische Veränderungen im politischen Leben des Landes. Die Untergrabung von Russlands Position in der Welt wird es den politischen Eliten erlauben, die Kontrolle über den neuen Präsidenten zu bewahren und ihn zu einer Geisel jener zu machen, die ihn an die Macht geführt haben. Schmutzige und wirkungslose politische Tricks werden den Nachfolger abhängiger von Kräften machen, die hinter dem Kreml-Thron stehen.
Das Große Spiel läuft und dabei steht nicht der Posten des Präsidenten auf dem Spiel, sondern der Kontrollhebel darüber, wer diesen Posten bekommt.

Boris Kagarlitzki ist Direktor des Instituts für Globalisierungsstudien in Moskau. (Übersetzung: Hans-Günter Mull.)



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