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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2007, Seite 14

Stern-Bericht: Neoliberale Strategie zur Bewältigung der Klimakatastrophe

Wer zahlt für das "beispiellose Scheitern des Marktes"?

Mitte November machte der Bericht eines britischen Ökonomen über die wirtschaftlichen Folgen der Klimakatastrophe Furore. Der Autor ist Nicholas Stern, ein Exponent der liberalen Wirtschaftsschule, Leiters des volkswirtschaftlichen Dienstes der britischen Regierung. Er legt dar, wie diejenigen sich einen "Ausweg" aus der Klimakatastrophe vorstellen, die ihn verursacht haben.
Der Stern-Bericht über die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels ist ein Politikum. Zum ersten Mal nimmt eine Gruppe von Ökonomen im Auftrage einer Regierung die Warnungen der wissenschaftlichen Gemeinde ernst und versucht, eine globale Antwort in einer langfristigen Perspektive zu geben.
Die Übung ist beeindruckend. Aber aufgepasst: Der Klimawandel wird zwar von vornherein als "das größte und umfassendste Scheitern des Marktes" definiert, "das es bis heute je gegeben hat", doch die Lösungen, die Sir Nicholas Stern und seine Gruppe anbieten, lassen sich auf einen Nenner bringen: noch mehr Markt, noch mehr Wachstum, noch mehr neoliberale Globalisierung. Man suche den Fehler und stelle sich die Frage: Wer zahlt die Zeche?
Im Unterschied zu anderen Wirtschaftsstudien mäkelt der Stern-Bericht nicht an den Analysen der Klimaforscher herum. Im Gegenteil, er greift sie auf:
"Der Klimawandel ist ein ernsthaftes und dringliches Problem ... Selbst wenn der jährliche Ausstoß an Emissionen [von CO2] nicht zunimmt, wird die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre um das Jahr 2050 das Doppelte erreicht haben wie vor der Industrialisierung, nämlich 550 ppmv CO2eq (Partikel pro Million Volumen; CO2eq sind CO2-Äquivalente — die Quantität eines Gases, die in der Wirkung einer Quantität CO2 entspricht) und wird weiter steigen. Die Emission nimmt aber zu ... Das Niveau von 550 ppmv CO2eq könnte deshalb schon 2035 erreicht sein. Bei einer solchen Konzentration liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die mittlere Erdtemperatur um 2° steigt, bei 77%, einige Modelle sprechen von 99%. Wenn nichts unternommen wird, kann die Konzentration von Treibhausgasen bis zum Ende des Jahrhunderts auf das Dreifache zunehmen, das Risiko, dass sich die Erdtemperatur in den kommenden Jahrzehnten um 5° erwärmt, liegt dann bei 50%."
Der Bericht dröselt auch die Folgen auf: ein Sechstel der Menschheit wird unter Wasserknappheit leiden, die landwirtschaftlichen Erträge gehen zurück, 200 Millionen Menschen sind auf der Flucht, weil der Meeresspiegel steigt, 15—40% der Arten gehen zugrunde...

Die moralischen Kosten

Nichts davon ist neu. Der Bericht stellt nur bekannte wissenschaftliche Tatsachen zusammen. Aber Nicholas Stern ist Leiter des volkswirtschaftlichen Dienstes der britischen Regierung und war früher Chefökonom bei der Weltbank. Indem er das Urteil der Klimaforscher übernimmt, stopft dieser weltweit renommierte Ökonom den letzten das Maul, die die Klimakatastrophe leugnen. Die Debatte ist nicht mehr "ob", sagt er ihnen. Wo liegt sie dann? Stern gibt drei Antworten: 1) die wirtschaftlichen Kosten des Nichtstuns (business as usual); 2) die Kosten der Rettung des Klimas; 3) ein Vergleich der Kosten sowie Instrumente und Maßnahmen, sie im Lichte des Scheiterns von Kyoto maximal zu begrenzen.
Bis zum Ende des 22.Jahrhunderts könnten sich die Kosten für das Szenario "business as usual" auf eine Senkung des Konsums pro Kopf der Bevölkerung von durchschnittlich 20% belaufen. Diese Schätzung liegt höher als frühere, weil der Bericht:
1. nicht nur die wirtschaftlichen Kosten im engeren Sinn (5% Senkung des BIP pro Kopf), sondern auch die Kosten der Folgen für die Gesundheit (bspw. der Anstieg der Todesfälle wegen Ausdehnung der Malaria) und für die Umwelt berücksichtigt;
2. die "positiven Rückwirkungen" berücksichtigt, also die Tatsache, dass die Klimaerwärmung sich selbst verstärkende Momente in Gang setzt (z.B. wenn die Schmelze des Permafrosts im Umfeld der Kontinentalgletscher abrupt große Mengen an Methan freisetzt, das ein sehr starkes Treibhausgas ist);
3. die Auswirkungen des Klimawandels für zukünftige Generationen höher bewertet als andere Studien dieser Art;
4. weil Stern und seine Mitarbeiter moralische Kriterien ins Spiel bringen, um die Tatsache zu korrigieren, dass unter strikt buchhalterischen Gesichtspunkten die Schäden in den Ländern des Südens nicht viel kosten (die Schäden werden geschätzt auf der Basis der "Bereitschaft der Opfer zu zahlen", um die Folgen nicht tragen zu müssen, diese Bereitschaft hängt aber natürlich vom Einkommen ab).
Diese ganze Akrobatik dient allein dem Ansinnen, Dingen einen Preis anzuheften, die keinen haben — das menschliche Leben und die natürlichen Ökosysteme — und so zu tun als stehe er im Einklang mit Kriterien der Moral. Das zeigt aber nur, dass das Wertgesetz immer weniger zum Maßstab des gesellschaftlichen Reichtums taugt. Um die kapitalistischen Entscheidungsträger zu überzeugen, reicht es jedoch nicht ihnen vorzurechnen, dass Hunderte Millionen Menschen in ihrer Existenz bedroht sind, wie das die internationale Expertengruppe Cleuson-Dixence seit Jahre tut; man muss ihnen sagen, was das kostet und welche Folge es für die Wall Street hat.

Nicht zuviel tun und nicht zu schnell

Die Kosten der Rettung des Klimas hängen vom Niveau ab, auf dem man die Konzentration der Treibhausgase stabilisieren will: je stärker und je schneller die Emissionen reduziert werden, desto größer die Chance, das Klima zu retten... desto teurer wird es aber auch.
Eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern plädiert für 450 ppmv, das bedeutet, dass die Emissionen von derzeit 42 Gigatonnen pro Jahr in den kommenden zehn Jahren einen Höhepunkt erreichen und dann jährlich um 5% abnehmen — damit lägen sie in 2050 bei 75% des Werts von 1990. Eine Stabilisierung wird jedoch erst bei 5 Gigatonnen CO2eq pro Jahr erreicht, das ist weniger. Der Stern-Bericht plädiert für 550 ppmv. Die Differenz ist erheblich Bei 450 ppmv steigt die Temperatur zwischen 1° und 3,8°, bei 550 ppmv zwischen 1,4° und 4,6°. Der Bericht optiert aus Kostengründen für 550 ppmv: eine Stabilisierung der Emissionen auf diesem Niveau würde 1% des Weltsozialprodukts kosten — dreimal weniger als eine Stabilisierung auf dem Niveau von 450 ppmv.
Wie fällt das ins Gewicht angesichts der 20% Weltsozialprodukt, die das Szenario "business as usual" kostet, mag man fragen? Da verflüchtigt sich die Moral ganz schnell: "Die Lehre hier ist, dass wir vermeiden müssen, zuviel zu schnell zu tun ... Hinsichtlich der Kosten einer starken Reduzierung z.B. herrscht große Unsicherheit. Fährt man die Emissionen um 60% oder 80% oder mehr zurück, muss man Fortschritte in der Senkung der Emissionen der Industrieproduktion, des Flugverkehrs und auf einer Reihe anderer Gebiete machen, wo die Kosten derzeit schwer abschätzbar sind." Im Klartext: Finger weg von den Profiten und der Logik der Akkumulation.
Ein Prozent des Weltsozialprodukts entspricht 350—400 Milliarden Dollar. Legt man die Schätzungen des Berichts einmal zugrunde (der durch das Wertgesetz verfälscht ist), würde eine Stabilisierung bei 450 ppmv zwischen 1050 und 1200 Milliarden Dollar im Jahr kosten. Das scheint eine gigantische Summe zu sein — aber sie wäre mehr als zu decken durch Einschnitte in die Rüstungshaushalte (1037 Milliarden Dollar 2004, 47% davon allein in den USA) und in die Werbung (2% des BIP in Frankreich 2003) — ganz zu schweigen von der fantastischen Ölrente, die Jahr für Jahr 5000 Milliarden Euro einfährt. Diese Quellen tauchen im Stern-Bericht nicht auf.
Stattdessen findet man die Rehabilitierung der Atomenergie, die jetzt zu einer "sauberen" Energieform avanciert, sowie andere Instrumente, allesamt aus der neoliberalen Mottenkiste: ein weltweit einheitlicher Preis für Kohle; eine Steuer auf die Kohle (die "letzten Endes vom Verbraucher zu bezahlen" ist und kompensiert werden soll durch eine Senkung der Abgabenlasten für die Unternehmen); die totale Flexibilisierung in der Wahl des Ortes, des Zeitpunkts und der Mittel, die Emissionen zu reduzieren — weltweit zu den geringsten Kosten; die Ausweitung und Vertiefung des Handels mit Emissionsrechten; die Durchsetzung der totalen Zirkulationsfreiheit für Produkte und Dienstleistungen, die wenig Kohlenstoff enthalten, über die WTO; eine verschärfte Finanzierung der unternehmensnahen Forschung mit öffentlichen Mitteln; Prämien und andere Anreize zur Förderung des Marktes für erneuerbare Energien usw.
Dieser rein wirtschaftsliberale Ansatz bedeutet konkret dreierlei:
1. bis zum Jahr 2050 und darüber hinaus ist ein Großteil der Senkung der Emissionen von den Ländern des Südens zu tragen — sei es in Form eines Stopps der Entwaldung (der natürlich zu begrüßen ist), sei es in Form von "sauberen" Investitionen, die den Multis einen Markt bescheren, der auf rund 40 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt wird;
2. die großen Konzerne im Energiebereich, Automobilsektor und in der Petrochemie profitieren von diesem Manna, hätten aber zugleich genügend Zeit, ihre jetzigen Anlagen zu amortisieren und sich neuen Technologien zuzuwenden — die verfügbar sind, weil der öffentliche Forschungshaushalt verdoppelt wird, und müssen keinen Cent für die Klimakatastrophe zahlen, die sie verursacht haben;
3. die Zeche zahlen die abhängig Beschäftigten, die Bauern und die Armen in der ganzen Welt — in Form der Kohlesteuer (10 Dollar je Tonne CO2) und durch die Umlage des Kohlepreises auf die Konsumgüterpreise.

Ein ehrgeiziges und gefährliches Projekt

Wir haben mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass das Kyoto-Protokoll durch einen Klimakompromiss zwischen den USA und Großbritannien abgelöst werden wird, dass Blair der Architekt davon sein wollte, dass dieser Kompromiss noch liberaler ausfallen würde als das Kyoto-Protokoll selbst und dass er auf dem Rücken der Dritten Welt, der abhängig Beschäftigten und der Armen ausgetragen würde. Der G8-Gleneagles hatte ihn angebahnt. Der Stern-Bericht bestätigt die Analyse. Vor allem zwei Punkte verdienen hervorgehoben zu werden:
1. Obwohl die Klimaakte der G8 formell am Konzept eine "gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung" der Länder des Nordens und des Südens festhält, das der Klimagipfel in Rio angenommen hatte, entleert der Stern-Bericht dies Konzept seiner verbindlichen praktischen Tragweite. Denn dank der Liberalisierung des Kohlemarkts verschaffen Wideraufforstungsprojekte oder saubere Investitionen den Konzernen und Ländern des Nordens die Möglichkeit, über 50% ihrer Emissionssenkung in den Ländern des Südens zu realisieren.
2. Der Stern-Bericht beschränkt sich nicht darauf, wissenschaftliche Tatsachen zusammenzutragen und sie unter ökonomischen Gesichtspunkten zu beurteilen; es ist ein eminent politischer Text. Bei der Lektüre zeigt sich, dass dahinter eine ehrgeiziges strategisches Projekt steht: Wissenschaft und Moral werden in den Dienst der Manipulation der öffentlichen Meinung gestellt zugunsten von Zielsetzungen, die längst nicht nur mir dem Klimawandel zu tun haben.
Bei vielen Umwelt-NGOs hat der Bericht enthusiastische Kommentare verursacht (der WWF z.B.) Sicher, es eilt. Aber Stern selber betont: der Klimawandel ist "die größte und umfassendste Niederlage des Marktes". Entweder zahlt der Markt dafür, oder er wird dafür sorgen, dass andere die Zeche zahlen: die Ausgebeuteten und Unterdrückten in der Welt, die Gefahr laufen, in ihre größte und umfassendste Niederlage zu laufen. Eine Strategie der Linken ist dringend notwendig!
Der Stern-Bericht rät den Regierungen, Wissenschaft und Moral zu nutzen, um in einem Klima der Gefahr die Kritik an den gesellschaftlichen Strukturen in einem Diskurs über die unvermeidliche "Änderung im Verhalten" zu ertränken. "Eine Politik, die auf die Änderung des Verhaltens abzielt, stellen hohe moralische Anforderungen. Es gibt Beispiele für öffentliches Handeln, die inakzeptabel sind — so die bewusste Desinformation durch Propagandakampagnen. Dennoch würde die Mehrzahl der Menschen eine Politik, die das Verständnis des Klimawandels fördert, als angemessen betrachten und das Fehlen einer solchen Politik als unverantwortlich. Dafür muss die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Belange derer gerichtet werden, die wie künftige Generationen oder die Bewohner der armen Länder aus dem Blickfeld fallen, und es muss der Blick auf die Folgen des Handelns gerichtet werden, nicht auf enge Gruppeninteressen und Standpunkte, die ganze Teile der Bevölkerung ausschließen." Unter dem Mäntelchen der "ökologischen correctness" verbirgt sich ein sehr altes und sehr reaktionäres Politikmuster.

Daniel Tanuro

(Übersetzung: Angela Klein) Der Stern-Bericht trägt den Titel: The Economics of Climate Change und findet sich im Internet unter: www.co2-handel.de/article158_3846.html.



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