SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2007, Seite 06

Gesundheitsreform

Abkehr vom Solidarprinzip

In vielen Bereichen des öffentlichen Sektors der Gesellschaft finden gegenwärtig Veränderungen statt, die mit marktwirtschaftlichen Instrumenten (Wettbewerb, Markt und Privatisierung) gesteuert werden sollen. Das betrifft inzwischen auch die Krankenversorgung. Grundlage der Krankenversorgung sind freilich immer ökonomische Determinanten. Die Frage lautet deshalb: Wo sind die ökonomischen Grenzen, wo werden politische oder ethische Fragen bestimmend?

Die bruchlose Übertragung ökonomischer Gesetze und Instrumente auf außerökonomische Sachverhalte wird als Ökonomisierung bezeichnet — wenn also das Gewinnkalkül (der Tauschwert) die Oberhand über den Gebrauchswert gewinnt. An ihr wird zurecht kritisiert, dass die Menschen, die davon betroffen sind, auf das Menschenbild des Homo oeconomicus (der natürlich- egoistische und Nutzen maximierende Mensch) reduziert werden.
Es geht bei dieser Zuspitzung keineswegs um eine generelle Verurteilung von Ökonomie, sondern um die Kritik ihres Allmachtsanspruchs. Zu fragen ist nicht nur nach dem Zuviel an Ökonomie, sondern auch danach, ob die eingesetzten Instrumente dem jeweiligen Sachverhalt angemessen sind. Die Ökonomie — wenn sie aus der Gesellschaft herausgerissen wird — unterliegt der Gefahr, ihre Grenzen zu sprengen und zur Norm des menschlichen Zusammenlebens insgesamt zu werden. Unter den hegemonialen Bedingungen von Kapital, Markt und Konkurrenz reduziert sich Gesellschaft aber auf das Konstrukt der blanken Marktgesellschaft.
Gesundheit oder Krankheit kann nicht den Charakter einer marktfähigen Handelsware annehmen. Es fällt auf, dass es weltweit kein Gesundheitssystem gibt, das alleine marktwirtschaftlich organisiert ist. Das hängt unter anderem mit folgenden Besonderheiten zusammen:
Gesundheit ist ein lebensnotwendiges Gut. Es hat den Charakter eines hoch besetzten Gebrauchswerts. Gesundheit ist ein kollektives und öffentliches Gut, ähnlich wie Atemluft, Trinkwasser, Bildung, Verkehrs- oder Rechtssicherheit.
Auf Konsumgüter kann man verzichten, auf Krankheit nicht.
Der Patient weiß nicht wann und warum er krank wird, an welcher Krankheit er leiden wird. Er hat in der Regel nicht die Möglichkeit, Art, Zeitpunkt und Umfang der in Anspruch zu nehmenden Leistungen selbst zu bestimmen. Krankheit ist ein allgemeines Lebensrisiko.
Die Nachfrage des Patienten erfolgt zunächst unspezifisch und wird erst durch die Kompetenz eines medizinischen Experten definiert. Es besteht ein erhebliches Informations- und Kompetenzgefälle zugunsten des Arztes. Dieser wiederum hat aufgrund der begrenzten Wissenschaftlichkeit der praktischen Medizin einen großen Ermessensspielraum bei seinem diagnostischen und therapeutischen Vorgehen.
Der Patient befindet sich durch sein Kranksein in einer Position der Unsicherheit, Schwäche, Abhängigkeit und insbesondere der Hilfsbedürftigkeit, häufig in Verbindung mit Angst und Scham.
Schon die Beschreibung des Verhältnisses von Markt und Patient macht deutlich, dass hier öffentliche Schutzfunktionen wahrgenommen werden müssen. Es spricht also viel dafür, dass die Versorgung von Krankheit sich nicht dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage unterwerfen lässt. Das Gesundheitswesen gilt deshalb auch als ein Beispiel für die Theorie des Marktversagens. Die Ergebnisse, die die Verteilungskräfte des Marktes sonst hervorbringen können, sind hier unzureichend. Der Markt ist richtungslos und Ziele müssen ihm vorgegeben werden. Der Staat, das demokratische Gemeinwesen, muss deshalb wichtige Aufgaben wahrnehmen. Er hat den Schutz und die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten, Richtung weisende Entscheidungen müssen politisch gefällt werden.

Gesundheitsreform 2006

Das deutsche Gesundheitssystem hat eine lange Tradition. Es ist in der Welt als Bismarck-Modell bekannt geworden. Seine Kernelemente sind:
Die direkte Kopplung der Finanzierung an die Wirtschaftsentwicklung. Die Finanzierung erfolgt über Beiträge, nicht über Steuern.
Die Beiträge sollten von Kapital und Arbeit paritätisch finanziert werden.
Das Solidaritätsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist mehr als ein Versicherungsprinzip. Das Versicherungsprinzip regelt lediglich einen Schadensausgleich. Beim Solidaritätsprinzip haben die Sozialversicherten einen gleichen Leistungsanspruch bei unterschiedlichen Beiträgen.
Der bargeldlose Verkehr zwischen Arzt und Patient (Sachleistungsprinzip).
Der freie Zugang der Sozialversicherten zu den ambulanten Einrichtungen der Krankenversorgung.
Das deutsche Gesundheitssystem scheint sehr flexibel zu sein, immerhin hat es zwei Weltkriege und zwei große Inflationen überstanden. Freilich muss es immer wieder an die jeweilige gesellschaftliche Entwicklung angepasst werden.
Die beiden großen Parteien, SPD und Union, sind mit unterschiedlichen Modellen für eine Gesundheitsreform in den letzten Bundestagswahlkampf gezogen. Die CDU/CSU propagiert die Kopfpauschale, das Modell der Bürgerversicherung wird in unterschiedlichen Varianten von der SPD, Linkspartei und den Grünen vertreten.
Das Modell der Kopfpauschale bedeutet einen Strukturwandel des Bismarck-Modells. Jeder Versicherte soll die gleiche Pauschale für seine Krankenversicherung bezahlen. Das begünstigt die höheren Einkommen und benachteiligt die niederen. Es ist eine Abkehr vom derzeit geltenden Solidaritätsprinzip, verschiebt die paritätische Finanzierung und entkoppelt die Finanzierung von der Entwicklung der versicherungspflichtigen Einkommen. Die Kopfpauschale ist nahezu bei allen Akteuren und Betroffenen ein sehr ungeliebtes Kind — selbst in weiten Kreisen der Union.
Die Bürgerversicherung ist eine Veränderung im bestehenden System. Die Basis der Finanzierung soll mit diesem Modell über Arbeiter und Angestellte hinaus auf Selbständige und Beamte sowie auf Kapitalerträge ausgeweitet und die Beitragsbemessungsgrenze erhöht werden.

Gesundheitsfonds

In der Großen Koalition müssen sich SPD und Union mit ihren unterschiedlichen Modellen auf eine gemeinsame Gesundheitsreform einigen. Die Verhandlungen führten zu den vorliegenden Eckpunkten einer Gesundheitsreform 2006. Danach soll u.a. ein Gesundheitsfonds eingerichtet werden, die Finanzierung der Krankenversicherung soll um Steuergelder erweitert werden, und die Kassen sollen einen Zusatzbeitrag von ihren Versicherten erheben können.
Der Gesundheitsfonds ist als neue Geldsammelstelle gedacht, aus der dann eine Grundpauschale pro Versicherten an die Krankenkassen überwiesen wird. Die Pauschale kann leicht von Kasse zu Kasse variieren.
Bisher ziehen die Kassen die Beiträge selbst ein. Das soll nach den letzten Meldungen auch so bleiben und ist nicht zuletzt auf den öffentlichen Druck der Gewerkschaften zurückzuführen. Sie kalkulieren darüber hinaus kassenindividuell die Höhe des Beitragssatzes und beschließen ihn in der Selbstverwaltung. Wenn also Kassen mit ihrem Geld für die Versorgung des medizinisch Notwendigen nicht auskommen, müssen sie den Beitragssatz erhöhen, der dann von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt wird.
Mit der Einführung eines Gesundheitsfonds bestimmen die Kassen nicht mehr über die Höhe der Beiträge von Arbeitgebern und Versicherten. Die Beitragshöhe wird gesetzlich festgelegt. Die Krankenkassen verlieren also die Finanzhoheit. Der Aufbau eines Gesundheitsfonds führt somit zu einer partiellen Entmachtung der Kassen. In einer Phase, die eigentlich und generell auf Privatisierung setzt, zieht der Staat mit der Einführung eines Gesundheitsfonds umfassendere Entscheidungsmacht an sich — möglicherweise um weitere Privatisierungen im Gesundheitswesen einfacher durchsetzen zu können.
Sicher nicht zu Unrecht befürchten die Kassen, dass die Einrichtung eines Gesundheitsfonds der Einstieg in das CDU-Modell der Kopfpauschale ist. So heißt es in einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom 29.7.06: "Wenn das bis 2010 gelingt, dann braucht man nur noch den prozentualen Versichertenbeitrag umzumodeln und in einen Pro-Kopf-Betrag umzurechnen und hat eine reinrassige Kopfpauschale ... Es wäre eine geniale Strategie für den Ausstieg aus der sozialen Krankenversicherung, die auf Solidarität gründet, und die gezielte Hinwendung zur Privatisierung des Krankheitsrisikos."
Erhebliche Widerstände von einem dann vielleicht existierenden Gesundheitsfonds, ein abgehobenes bürokratisches Gebilde offensichtlich ohne gewählte Selbstverwaltung, werden kaum zu erwarten sein. Das heißt: Der Widerstand der Kassen heute gegen die Einrichtung eines Gesundheitsfonds ist auch ein Kampf der Kassen gegen die Kopfpauschale in der Zukunft.

Steuermittel statt Beiträge?

Zusätzlich zu den Beiträgen sollen Steuermittel in den Gesundheitsfonds fließen. Das ist nicht ganz neu. In den letzten Jahren flossen bereits pro Jahr 4,2 Milliarden Euro Steuergelder von der Tabaksteuer in die GKV. Nach den Eckpunkten soll die Krankenversicherung der Kinder komplett durch Steuern aus dem Bundeshaushalt finanziert werden (14—16 Milliarden Euro). Damit soll im Jahr 2008 begonnen werden, zunächst mit 1,5 Milliarden Euro. Dieser Betrag soll Jahr für Jahr aufgestockt werden. Dem Bundesfinanzminister ist allerdings heute noch nicht klar, woher das Geld kommen soll. Die geringe Starthöhe des Steuerzuschusses hat bei der SPD Frustrationen hervorgerufen — aber sie hat sie geschluckt!
Grundsätzlich wäre gegen eine Steuerfinanzierung der Krankenversorgung nichts einzuwenden — immerhin handelt es sich bei der Krankenversorgung um eine gesellschaftliche Aufgabe. Angesichts der gegenwärtigen Politik des "schlanken Staates" sind jedoch Zweifel angebracht. Seit Jahren sind die öffentlichen Haushalte klamm. Der Bundesfinanzminister hat enorme Schwierigkeiten, die Maastrichtkriterien zu erfüllen. Um zu sehen, was in Zeiten leer gefegter Kassen passieren kann, brauchen wir gar nicht lange zu spekulieren. Gerade wurden nämlich die 4,2 Milliarden Euro für die GKV aus der Tabaksteuer wieder gestrichen, um Haushaltslöcher beim Bund zu stopfen. Das ist Politik nach Kassenlage. Sie ist für eine nachhaltige Gesundheitspolitik abträglich. Diese darf nicht durch kurzfristige politische Entscheidungen erschüttert werden. Eine solide Krankenversorgung erfordert eine zuverlässige Planungsgrundlage. Und die Krankheiten richten sich schon gar nicht nach der tagespolitischen Finanzsituation des Staates.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob Steuerfinanzierung oder Beitragsfinanzierung sozial gerechter ist. Dann muss man aber genau hinschauen, wie das Steuersystem gestrickt ist, wer davon begünstigt und wer benachteiligt wird.

Aufhebung der Parität

Was passiert, wenn eine Kasse mit der vom Gesundheitsfonds zugewiesenen Grundpauschale nicht auskommt? In diesem Fall sollen nach den Eckpunkten die betroffenen Kassen berechtigt sein, von ihren Versicherten einen Zusatzbeitrag erheben zu dürfen. Dieser Zusatzbeitrag wird allein von den Versicherten der jeweiligen Kasse bezahlt. Die Unternehmen sind daran nicht beteiligt. Die Parität soll hier nicht gelten. Der Zusatzbeitrag soll zwar 1% eines Versichertenhaushalts nicht überschreiten und er soll insgesamt auch nicht mehr als 5% der gesamten Gesundheitsausgaben ausmachen, aber es bedarf keiner großen Fantasie, dass an dieser Schraube schnell gedreht werden kann und sich dann Einkommensschwache einen vollen Versicherungsschutz kaum noch leisten können.
Die "Eckpunkte für eine Gesundheitsreform 2006" zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sind näher an der Kopfpauschale als an der Bürgerversicherung. Von der Bürgerversicherung ist so gut wie nichts mehr übrig geblieben.
Weiter fällt auf, dass auf die eigentlichen Finanzprobleme der GKV nicht hingewiesen wird, geschweige dass dazu Reformvorschläge gemacht würden. Kein Wort wird darüber verloren, dass die neoliberale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, die stagnierenden Erwerbseinkommen und die anhaltende Massenarbeitslosigkeit den Umfang sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung eingedampft hat.
Solange hier keine grundsätzliche Umorientierung stattfindet und die neoliberalen Bedingungen weiterhin als unveränderlich akzeptiert werden, ist die nächste Finanzierungskrise der Krankenversorgung mit oder ohne Gesundheitsfonds vorprogrammiert.

Hans-Ulrich Deppe

Der Autor ist Professor für Medizinische Soziologie und Sozialmedizin am Uniklinikum Frankfurt am Main. Die Langfassung dieses Beitrags ist dem Newsletter des isw zu entnehmen.



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