SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2007, Seite 11

Venezuela nach den Wahlen

Eine neue Partei für die Revolution

Hugo Chávez wusste, was er wollte. Als in der Nacht zum 3.Dezember das Ausmaß seines Sieges bei den Präsidentschaftswahlen deutlich wurde, sang er mit seinen Anhängern im strömenden Regen die Nationalhymne und rief: "Es lebe der Sozialismus!" Die Aufgabe, so Chávez, sei jetzt die Vertiefung der sozialistischen Revolution in Venezuela: "Niemand sollte vor dem Sozialismus Angst haben. Der Sozialismus ist human. Der Sozialismus ist die Liebe... Venezuela ist rot, durch und durch rot."
Zwei Wochen später skizzierte er den ersten großen Schritt in diese Richtung — die Bildung einer vereinigten politischen Partei, welche die disfunktionale Koalition aus Parteiapparaten, die ihn bislang unterstützt hat, ersetzen soll. Er hat auch schon einen Namen dafür: Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV).
Er sprach vor Vertretern der Basisorganisationen, die im ganzen Land in den Stadtvierteln seinen Wahlkampf organisiert hatten, nach seinen Angaben sollen es 11000 "Bataillone", 32800 "Züge" und 3,85 Millionen "Gruppen" gewesen sein. Diese Organisationen, sagte Chávez, sollen sich nicht auflösen, sondern ihre Mitglieder in ein Register eintragen, das die Basis für die neue Partei der sozialistischen Revolution Venezuelas bilden soll.
Das ist ein gewaltiger Schritt, den Revolutionäre innerhalb und außerhalb Venezuelas gewiss unterstützen sollten. Den aktivsten Unterstützern der bolivarianischen Revolution ist seit langem klar, dass in ihrer Bewegung ein großes Loch klafft: Zwischen der durchweg inspirierenden Führung von Chávez und der Vielzahl lokaler Aktivitäten und Formen der Selbstorganisation der Massen fehlt eine effektive, landesweite Organisation.

Die demokratischste Partei Venezuelas

Erst neue Gewerkschaften wie die UNT oder Bauernorganisationen wie die Frente Campesino Ezequiel Zamora haben begonnen, den Mangel an starken, strukturierten sozialen Bewegungen zu beheben. In Venezuela gab es bislang nichts, was mit der Landlosenbewegung in Brasilien, der Bewegung der Indígenas in Ecuador oder der Vielfalt an sozialen und Gewerkschaftsbewegungen in Bolivien vergleichbar wäre.
Andererseits sind die Parteien, die den revolutionären Prozess bislang unterstützt haben — Chávez‘ eigene MVR, aber auch die PPT, Podemos, die Venezolanische KP und einige kleinere Organisationen — als Orte demokratischer, kollektiver politischer Debatte, Entscheidungsfindung und Aktion ausgefallen. Sie haben weitgehend als bürokratische (und bisweilen korrupte) Apparate zur Verteilung von Posten und Privilegien funktioniert — sehr ähnlich den traditionellen Parteien der Vierten Republik der Vor-Chávez-Ära.
Eine wahrhaft effektive, plurale und demokratische politische Massenorganisation für Revolutionäre ist daher dringend erforderlich. Einige von Chávez‘ engsten Beratern haben in den letzten beiden Jahren darüber schon gesprochen. Kleinere Strömungen der venezolanischen revolutionären Linken haben Versuche unternommen, ihre Kräfte zusammenzuführen und die Bildung einer revolutionären Massenpartei anzustoßen.
So lancierten zumeist trotzkistische Strömungen aus der Moreno-Tradition im Juli 2005 die PRS (Partei der sozialistischen Revolution). Die Front der sozialistischen Kräfte (FFS) unter Beteiligung von Utopia und der Liga Socialista war ein anderer Versuch. Doch ohne direkte Unterstützung von Chávez selbst waren sie dazu verurteilt, Minderheiteninitiativen zu bleiben.
Chávez‘ eigene Bemerkungen über die Lancierung seiner Initiative sind ermutigend. Er besteht darauf, dass die neue Partei die demokratischste Partei sein soll, die Venezuela jemals gehabt hat, und von der Basis aus aufgebaut werden muss. Er lädt alle Strömungen der venezolanischen Linken ein, dabei mitzumachen. Die Partei dürfe nicht von wahlpolitischen Erwägungen beherrscht werden, auch nicht von den gegenwärtigen Vorständen der bestehenden Koalitionsparteien.
Chávez hat auch eine Kritik daran entwickelt, wie die bolschewistische Partei in Russland den Kampf der Ideen für den Sozialismus eher erstickte als förderte. Er erinnert daran, wie die wunderbare Losung "Alle Macht den Räten" zur traurigen Realität von "Alle Macht der Partei" degenerierte. All das weist genau auf die Art von demokratischer und revolutionärer politischer Massenorganisation, die erforderlich ist.
Aber es gibt auch große Risiken. Nicht zum ersten Mal werden im Verlauf der bolivarianischen Revolution ernsthafte und notwendige Fragen darüber laut, wie weit die Realität der neuen Partei den Erwartungen gerecht werden wird.

Zwei kritische Fragen

Zwei Fragen werden gestellt: Wer genau wird zu dieser Partei gehören, wenn die meisten der bestehenden Parteien sich darin auflösen, wie es jetzt schon geschieht? Und wird es wirklich möglich sein, mit den Strukturen und der Kultur der Bürokratie, des Paternalismus und der Korruption zu brechen, die so oft selbst die radikalsten Initiativen der Revolution ausgebremst haben?
Noch vor Chávez‘ genannter Rede haben führende Mitglieder der PRS und der UNT wie Stalin Pérez Borges ihre Sorge über die Art und Weise zum Ausdruck gebracht, wie die neue Partei vorbereitet wird. Pérez Borges verwies auf Kommentare einiger "moderater" Gouverneure und MVR-Würdenträger, wonach "alles bereits entschieden" sei, sowie auf Verhandlungen hinter geschlossenen Türen zwischen den Apparaten der wichtigsten Parteien, wie die Posten in der neuen Partei aufzuteilen seien.
Pérez Borges erklärte, Aktivisten der Gewerkschaften und anderer sozialer Bewegungen, politische Strömungen und Intellektuelle würden zu einem "Vereinten Forum demokratischer Debatte" aufrufen, auf dem alle Basiskräfte, die für die Vertiefung der Revolution eintreten, darüber diskutieren könnten, welche Art von Partei sie aufbauen wollen und wie.
Die zweite Frage überschneidet sich mit der ersten und verweist auf ein Paradoxon im Herzen des bolivarianischen Prozesses. Chávez‘ eigene Vorstellung von der neuen Partei mag die beste, radikalste und demokratischste sein — aber die Entscheidung, diesen Schritt zu tun, wurde von ihm getroffen und verkündet, und zwar offensichtlich von ihm allein.
Nun mag dies der einzige Weg sein, um die von der MVR und von anderen Parteiestablishments verursachte Blockade zu durchbrechen. Aber er könnte gerade die radikale sozialistische Demokratie gefährden, die er fördern will. Der prominente venezolanische Linksintellektuelle Edgardo Lander, einer der Organisatoren des Weltsozialforums in Caracas im vergangenen Jahr, brachte es folgendermaßen auf den Punkt: "Was ist in Sachen Pluralismus und Demokratie von einer Partei zu erwarten, deren Gründung auf diese Weise per Dekret verkündet wird? Ist eine demokratische, plurale, polemische Debatte über die Zukunft des Landes möglich, wenn grundlegende Entscheidungen schon als Beschlüsse verkündet werden, noch bevor die Debatte darüber begonnen hat?"

Stuart Piper

Aus: Socialist Resistance (London), Nr.41, Januar 2007 ((Übersetzung: Hans-Günter Mull).

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang