SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2007, Seite 13

Crashkurs China

Ein Reisebericht

"Jetzt ist ein Teil reich, ein anderer arm, das ist besser, als wenn alle arm sind." Mit diesen Worten umschrieb ein Unternehmer, der am Stadtrand von Peking einige kleinere Textilfabriken betreibt, worin für ihn der Fortschritt in China im Vergleich zu der Zeit vor 1978 liegt. Er ist 1949 geboren, genauso alt wie die Volksrepublik, war früher beim Militär, arbeitete dann bei dem damals noch staatlichen Textilunternehmen, dessen stolzer Besitzer er heute ist. In seinem Betrieb ist er in Personalunion Chef, Gewerkschaftsvorsitzender und Parteisekretär. Denn unser Neukapitalist versteht sich selbst völlig bruchlos gleichzeitig als Kommunist. Früher waren alle arm, heute sind einige reich und einige arm und in der Zukunft werden alle reich sein. Das ist dann das Paradies eines neuen undogmatischen Sozialismus. So einfach scheinen sich Chinas kommunistische Kapitalisten die gesellschaftliche Entwicklung vorzustellen. Unser Unternehmer steht mit seinen Ansichten gar nicht so allein. In unterschiedlichen Varianten bekamen wir das nicht von allen aber doch von vielen unserer Gesprächspartner in den folgenden zwei Wochen zu hören.
"Wir" sind in diesem Fall eine Gruppe von 15 linken und kritischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern aus der IG Metall und Ver.di und einem chinesischen Übersetzer, die vom 14. bis 28.Oktober 2006 die Volksrepublik China bereisten. Stationen waren die Hauptstadt Peking, das Dorf Zhaicheng und die Kreisstadt Dingzhou in der Provinz Hebei, die südchinesische Metropole Guangzhou (Kanton) und Hongkong, das seit 1997 als "Sonderverwaltungsregion" zur Volksrepublik China gehört.
Nach einem einführenden Gespräch mit einem Vertreter und einer Vertreterin des China Institute of Industrial Relations, der Gewerkschaftshochschule in Peking, war der Betrieb des obern erwähnten Unternehmers die erste Station unserer Reise. Und damit waren wir mitten drin in der neuchinesischen Realität der "sozialistischen" Marktwirtschaft, wie sie seit 1978 aufgebaut wird.
In diesem Betrieb, einer GmbH, arbeiten in 15 Werkstätten etwa 250 Arbeiterinnen. Sie arbeiten etwa 50—54 Stunden pro Woche. Ihr Lohn, etwa 1000 Yuan (rund 100 Euro) pro Monat, setzt sich aus einem festen leistungsbezogenen Anteil zusammen. Zum Frühlingsfest erhalten sie statt der gesetzlich vorgeschriebenen sieben 27 Tage Urlaub als Ausgleich für die Überstunden. Die meisten sind Wander- oder Bauernarbeiterinnen. Sie stammen nicht aus Peking, sondern aus ländlichen Gegenden Chinas. Es gibt in China eine ausgeprägte Binnenmigration, die jährlich mehrere Millionen Menschen vom Land in die Städte treibt, wo sie Arbeit suchen. Durch das spezielle chinesische Niederlassungsrecht (Hukou), leben sie in der Stadt aber mit einem Status, der dem eines nicht anerkannten aber geduldeten Asylbewerbers in der Bundesrepublik gleicht. Man kann sich in China nur in seinem Geburtsort legal anmelden. Wechselt man ohne ausdrückliche Genehmigung den Wohnort, so hält man sich dort illegal auf. Man kann seine Kinder nicht zur Schule schicken, hat kein Wahlrecht für den kommunalen Volkskongress und ist auch nicht obligatorisch sozialversichert. Als Wanderarbeiter hängt man sehr stark von der Gnade seines Chefs ab, der einem Sozialversicherung und mitunter sogar den Lohn mehr als einen Gnadenerweis gewährt. Als — trotz Staatsbürgerschaft — "Illegaler" ist man quasi rechtlos. Immerhin nimmt der offizielle Gewerkschaftsdachverband ACFTU (All China Federation of Trade Unions) mittlerweile Wanderarbeiter und - arbeiterinnen als gleichberechtigte Mitglieder auf und beginnt zaghaft, sich für ihre Rechte einzusetzen.
Unser altkommunistisch-neukapitalistischer Textilunternehmer versicherte uns jedoch, dass für seine Arbeiterinnen Löhne und Sozialversicherungsbeiträge regelmäßig gezahlt würden. Das wurde uns von einigen Arbeiterinnen, mit denen wir ein Gespräch hatten, bestätigt. Der Chef befand sich jedoch im Nebenraum und konnte vermutlich jedes Wort hören.
Auch der Vormittag des zweiten Tages war den Wanderabeitern und -arbeiterinnen gewidmet. Diesmal handelte es sich aber um eine Selbsthilfeinitiative in einem der vielen Vororte der wuchernden 17-Millionen-Metropole Peking. Diese "Spiritual Home of the Rural Migrants" genannte Initiative bietet Kulturveranstaltungen und praktische Lebenshilfe. Eine Künstlergruppe thematisiert in ihren Liedern und Kunstwerken die Lebenssituation der Wanderarbeiter und trägt das auf Veranstaltungen in Betrieben vor. Es gibt dort außerdem eine Rechtsberatung, einen "Supermarkt der Liebe", in dem Waren günstig angeboten werden und vor allem eine Schule. Diese wird von den Kindern der Wanderarbeiter, die wegen Hukou nicht regulär zur Schule können, besucht und bietet außerdem Abendkurse für Erwachsene. Ein Ausdruck der zwiespältigen offiziellen Haltung zu den Wanderarbeitern ist die Tatsache, dass die Abschlüsse dieser Schule staatlich anerkannt werden.
Einen ganzen Tag verbrachten wir im China Institute of Industrial Relations, der Gewerkschaftshochschule der ACFTU in Peking. Auch hier hörten wir viel von der Harmonie zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und viele freundliche, diplomatische Worte, aber wenig darüber, wie die Gewerkschaft ihre Rolle unter den gegebenen Umständen neu definiert. Unsere Gesprächspartner waren außer dem Parteisekretär und einigen Dozentinnen und Dozenten Studierende des Instituts. Bei diesen handelte es sich aber nicht um Aktive im Sinne von kämpferischer Gewerkschaftsarbeit sondern um verdiente Bestarbeiter und -arbeiterinnen, die in ihrem Betrieb bspw. dadurch aufgefallen waren, dass sie Rationalisierungsvorschläge gemacht hatten. Mit diesen kleinen Stachanows und Henneckes war keine Diskussion über die Erneuerung der Gewerkschaften nicht nur in China zu führen. Der Tag war aber trotzdem lehrreich, warf er doch ein bezeichnendes Licht auf den Zustand der offiziellen chinesischen Gewerkschaften.
Auf dem Lande, im Dorf Zhaicheng in der Provinz Hebei, etwa 200 km südlich von Peking, besuchten wir das James Yan Rural Reconstruction Institute. Dieses Institut widmet sich der Förderung ökologischer Landwirtschaft und ökologischen Hausbaus. Zu diesem Zweck werden im Institut sog. Elitebauern ausgebildet, die für beides in ihren Dörfern werben sollen. In einem riesigen Land wie China ist eine solche Arbeit natürlich wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Ökologie spielt im Wirtschaftswunderland China keine große Rolle und wird eher als Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung gesehen. Eine Einstellung, die auch in Europa verbreitet ist, wenn sie auch hier in letzter Zeit scheinbar zurückgegangen ist. Ein Hoffnungszeichen ist das Interesse vieler Studierender, die freiwillig für ein Praktikum in das abgelegene Institut kommen. Ein Gespräch mit dem Parteisekretär des Ortes war weniger ergiebig. Für ihn schien die Welt in Ordnung zu sein, obwohl viele seiner dörflichen Mitbürger und Mitbürgerinnen, vor allem die jungen, als Wanderarbeiter unterwegs sind. Sein einziges Problem schien zu sein, dass sich einige Dorfbewohner nicht genug um ihre alten Eltern kümmern, wofür sie in altmaoistischer Manier öffentlich kritisiert werden.
In der Kreisstadt Dingzhou verschafften wir uns auf einem Stadtrundgang einen Eindruck vom Leben in einem Ort, der nach chinesischen Maßstäben mit 200000 Einwohnern als Kleinstadt gilt. Dabei erfuhren wir, dass in dieser Gegend etwa 30000 chinesische Muslime leben, die über 17 Moscheen verfügen. Eine davon, die bereits im 14.Jahrhundert gebaut worden war, besuchten wir. Der Imam lebt von den Spenden seiner Gemeinde, die ihre Religion recht unbehindert ausüben kann.
In der Stadt Guangzhou, die in Europa als Kanton bekannt ist, war der Gewerkschaftsvorsitzende unser erster Gesprächspartner. Er nannte einige Probleme wie den Arbeitskräfteüberschuss, die fehlende innergewerkschaftliche Demokratie, die Benachteiligung der Wanderarbeiter durch das Hukou-System und Unregelmäßigkeiten bei der Lohnauszahlung beim Namen. Die kantonesische Gewerkschaftsorganisation kümmere sich speziell um die Wanderarbeiter und habe ein spezielles Büro für sie eingerichtet. Er gab zu, dass unser Besuchsprogramm nicht repräsentativ sei, sondern aus einer Auswahl von Vorzeigeeinrichtungen bestehe. Diese waren eine Autofabrik von Honda, eine Aufzug- und Rolltreppenfabrik des US-amerikanisch-deutschen Konzerns Otis, eine ehemals staatliche Textilfabrik, eine Wohnanlage für Wanderarbeiter und das Arbeitsamt.
In den drei Fabriken fiel die enge Einbeziehung der jeweiligen Gewerkschaftsführung in die Betriebsleitung auf. Die Gewerkschaftsfunktionäre waren echte Komanager der Fabriken und erfüllten dort in etwa die Funktion eines Personalchefs. In allen drei Betrieben waren die Beschäftigten auffallend jung und mit kurzfristigen (ein bis drei Jahre) Zeitverträgen beschäftigt. Bei Otis gibt es eine Regelung, wonach Arbeiter, die bei einem Ranking zu den schlechtesten 5% gehören, entlassen werden können. Die Gewerkschaft im Betrieb kritisiert dies nicht, es ist aber fragwürdig, ob diese Praxis legal ist.
In Hongkong war der Generalsekretär des unabhängigen Gewerkschaftsverbands HKCTU einer unserer Gesprächspartner. Er beschrieb seinen Verband als regierungsunabhängig, kritisch und kämpferisch. Außer für Arbeitnehmerrechte setze sich sein Verband für Bürgerrechte und gegen die kapitalistische Globalisierung ein. So mobilisierte sie gegen ein WTO-Treffen und mit einer Demonstration von 700000 Menschen (10% der Bevölkerung Hongkongs) gegen ein repressives Gesetz gegen "Subversion". Ein Problem ist die Abwanderung der Industrie aus Hongkong ins benachbarte Perlflussdelta. Die HKCTU organisiert seitdem vorwiegend Beschäftigte in Dienstleistungsbetrieben, u.a. so prekäre wie die immer noch zahlreichen weiblichen Hausangestellten aus Indonesien und den Philippinen. Bei einem Treffen mit der Women‘s Workers Association bekamen wir einen ungefilterten Einblick in die Arbeits- und Wohnsituation von Frauen in Hongkong.
Nach der Absolvierung eines vollgepackten Programms, das auch für vier Wochen gereicht hätte, gibt es bei den meisten von uns mehr Fragen als Antworten. Wir bekamen einen kleinen Einblick in die soziale Realität des bevölkerungsreichsten Landes der Welt, das dabei ist, sich zu einem ökonomischen Giganten zu entwickeln. Ein Anfang, auf dem aufgebaut werden kann, ist damit gemacht.

Andreas Bodden

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