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Die Führungsriege der Partei der Oktoberrevolution wurde von Stalin in den
"Moskauer Prozessen" liquidiert. Sie fanden im August 1936, im Januar 1937 und im März 1938 statt. Nach
Unterlagen des NKWD, des organisatorischen Zentrums des Stalinschen Terrors, wurden in den Jahren 1937 und 1938
etwa 2,5 Millionen Menschen verhaftet und etwa 680000 hingerichtet. Ein großer Teil der in Verbanntenkolonien und
Zwangsarbeitslagern internierten 3,5 Millionen Häftlinge kam ebenfalls ums Leben. Entgegen bürgerlicher wie
stalinistischer Geschichtsschreibung war Stalin nicht der Vollstrecker, sondern der Totengräber der
Oktoberrevolution.
Im ersten, im August 1936 inszenierten großen
Schauprozess gegen Sinowjew, Kamenew und neun andere alte Bolschewiki, denen entsprechend der Technik der
"Amalgam"-Bildung noch fünf geständnisfreudige Provokateure beigesellt waren, behauptete die Anklage,
Trotzki und sein älterer Sohn, Leo Sedow, hätten in Absprache mit der Gestapo die Ermordung der sowjetischen
Führung geplant. Die Angeklagten gestanden, wurden zum Tode verurteilt und umgehend erschossen. Die Beschuldigten
waren dazu gedrängt worden, Mitschuldige zu benennen, und so stand am Ende des Verfahrens schon die Angeklagtenriege
für den zweiten Schauprozess fest und spätestens nach diesem auch diejenige für den dritten.
Die Zusammensetzung der "sowjetfeindlichen"
Gruppen, die die Anklage präsentierte, und die von ihr erhobenen Anschuldigungen wurden von einem Prozess zum
anderen immer abenteuerlicher. Trotzki, der in Norwegen bzw. in Mexiko Asyl gefunden hatte, und Leo Sedow, der im Januar
1938 in Paris von einem GPU-Agenten vergiftet wurde, waren die (abwesenden) Hauptangeklagten. Sie sollten die
Verschwörer organisiert und ihnen Direktiven zur Ermordung Stalins und der stalinistischen Führung
übermittelt haben.
Stalin war der Repräsentant einer immer wieder
"gesäuberten" und schließlich gleichgeschalteten Partei; diese Partei war das politische Organ der
sowjetischen Bürokratie, die die Kontrolle über die verstaatlichten Produktionsmittel des Landes usurpiert
hatte. Alle Ängste dieser neuen Bürokratie und ihres Beherrschers Stalin manifestierten sich in Wyschinskis
Anklagekatalogen. Andrej Wyschinski stammte aus polnischem Adel und war zur Zeit der Oktoberrevolution Menschewik.
Nachdem Eugen Paschukanis im Januar 1937 als "Schädling" erschossen worden war, rückte Wyschinski,
der Ankläger in den großen Schauprozessen, zum führenden sowjetischen Rechtstheoretiker auf. Er vertrat
die Auffassung, "Geständnisse" von Angeklagten seien in Strafverfahren als hinreichende Schuldbeweise zu
werten.
Stalin plante seit 1934 nicht nur die Beseitigung der
Zögernden unter seinen Anhängern (wie Ordshonikidse), sondern die Eliminierung einer jeden überhaupt
denkbaren Ersatzführung. Ein solcher "politischer Genozid" (Isaac Deutscher) ließ sich nur
bewerkstelligen, wenn die früheren Oppositionellen zu Kriminellen gestempelt wurden und wenn es gelang, den
Volkszorn von der für Hunger, Geheimdienstkontrolle und Blutvergießen verantwortlichen Stalin-Führung
abzulenken und gegen die designierten "Volksfeinde" zu richten. Der "Totengräber der
Revolution", wie Trotzki ihn schon 1926 genannt hatte, der mit Hilfe der GPU in der Lage war, Millionen Menschen im
eigenen Land umbringen zu lassen und der seine Mörderbanden nach Frankreich, Spanien und Mexiko aussandte, um
Dissidenten zur Strecke zu bringen, wähnte, seine Gegner würden ihm Gleiches mit Gleichem vergelten und zwang
seine Opfer, diesen Wahn durch ihre "Geständnisse" zu verifizieren.
Abgesehen von dem Anschlag auf Kirow, gab es weder in den
30er noch in den 40er Jahren irgendein Attentat auf Stalin oder einen seiner Kumpane. Darum wurden den angeklagten
"Terroristen" oder den mitangeklagten Ärzten ersatzweise natürliche Todesfälle und Auftragsmorde
der Geheimpolizei zur Last gelegt. Die früheren Revolutionäre und Ex-Oppositionellen, die Stalin vor Gericht
stellen und erschießen ließ, waren aufgrund ihrer marxistischen Schulung zutiefst von der Sinnlosigkeit des
"individuellen Terrors" überzeugt. Der einzige aus der alten Lenin-Partei, der unablässig von Morden
und Attentaten träumte und solche anordnete, weil er "Palastrevolutionen", "Putschversuche",
"Fünfte Kolonnen" und eine neue Revolution gegen die bürokratische Kaste fürchtete, war Stalin
selbst.
Die Angeklagten und die überall im Lande zu
Hunderttausenden eingesperrten, verbannten und erschossenen "Diversanten und Schädlinge" starben als
Sündenböcke für das Desaster der Zwangskollektivierung und für das Zurückbleiben der
Industrieproduktion hinter den ehrgeizigen Zielen der ersten Fünfjahrespläne. Ihnen wurde die Verantwortung
für das Scheitern des Stalinschen Projekts des Aufbaus einer (allen kapitalistischen Staaten überlegenen)
sozialistischen Gesellschaft auf dem Territorium der Sowjetunion zugeschoben.
Stalin, als Generalsekretär der KPdSU auch Herr der
"Dossiers", die über Millionen Mitglieder Auskunft gaben, war ein Meister der Personalisierung. Und da die
Sowjetmenschen auch noch zwanzig Jahre nach der Revolution um Brot anstehen mussten, versuchte der "Baumeister des
Sozialismus", sie mit eigens von ihm erfundenen Schauspielen von ihrer Misere abzulenken und ihnen
"Volksfeinde" zum Fraß vorzuwerfen. Die großen, vor sorgfältig ausgesuchtem Publikum
inszenierten Prozesse waren moderne Mysterienspiele, ein "Theater der Grausamkeit", dessen 54 unfreiwillige
Darsteller die Aufführungen in ihrer großen Mehrheit nicht überlebten. Das grässliche Spektakel
ermöglichte es Stalin, sich den Massen als einen wiedererstandenen mythischen Drachentöter zu
präsentieren.
Die Verhältnisse, die der Verwirklichung seiner
Utopie entgegenstanden, kamen in der Gestalt prominenter "Saboteure" (und ihrer Helfershelfer) auf die
Bühne des "Oktobersaals", wurden tagelang geschmäht und schließlich unter allgemeinem Beifall
zur Strecke gebracht. Robert Conquest berichtet: "Als [am 27.1.1937] die Urteile [im Pjatakow-Radek-Prozess]
verkündet wurden, versammelte sich eine Menge von 200000 Menschen auf dem Roten Platz. Es herrschte eine Temperatur
von minus 27 Grad und die Menge lauschte den Reden, die Chruschtschow und Schwernik von sich gaben, und demonstrierte
spontan gegen die Angeklagten. [Die Demonstranten] trugen Transparente, auf denen die sofortige Vollstreckung der
Todesurteile verlangt wurde."
Die vielfach redigierten Protokolle der Verhandlungen
wurden in der Prawda veröffentlicht, in größter Eile in 13 Sprachen übersetzt und dann in großer
Auflage verbreitet. Das Für-wahr-Halten der "Geständnisse" der Angeklagten und die Überzeugung,
dass bei den Prozessen alles mit rechten Dingen zugegangen sei, gehörten fortan zum Katechismus der Mitglieder und
Freunde der stalinistischen Kirche. Im Potjomkinschen Dorf des "real existierenden" Sozialismus verdeckte
das Moskauer Gewerkschaftshaus den "Archipel GULag". Die Prozesse der 30er Jahre dienten als Deckerinnerung
für den Massenterror, für Stalins Holocaust, von dem die Moskautreuen wenig wussten und noch weniger wissen
wollten. "Ungläubige" galten ihnen als verblendete Reaktionäre. Renommierte Literaten wie Lion
Feuchtwanger, der Augenzeuge des Prozesses von 1937 war, oder Heinrich Mann verteidigten die Moskauer Prozesse ebenso wie
der Philosoph Ernst Bloch.
Erst am Vorabend des Untergangs der KPdSU und der
Sowjetunion wurden 1988 die Urteile der Moskauer Prozesse aufgehoben und die meisten Angeklagten rehabilitiert. Millionen
von Parteikommunisten und Sympathisanten in aller Welt wollten Stalins Verbrechen nicht wahrhaben und verloren so ihre
politisch-moralische Integrität. Den "Trotzkismus" hielten sie für ihren Todfeind, in Stalin sahen
sie den einzigen Garanten für den Fortschritt der Menschheit, und sie waren fest entschlossen, ihre eigene Politik
der jeweiligen "Generallinie", also den Sicherheitsinteressen der sowjetischen Führung unterzuordnen.
Nicht kooperierende Angeklagte wurden in den
Gefängnissen des NKWD grausam gequält oder gleich erschossen. Nur von Sinowjew, Kamenew und Bucharin heißt
es, sie seien "nicht im engeren Sinne" gefoltert worden. Wie bei den Hexenprozessen vergangener Jahrhunderte
wurden die Gefangenen gezwungen, sich das Wahnsystem der Inquisitoren in solchem Maße zu eigen zu machen, dass sie
imstande waren, es durch neue Phantasmen zu bereichern und zu "bestätigen".
Die Furcht vor Schlägen oder Verstümmelung und
die Hoffnung auf Begnadigung und Verschonung der Familienangehörigen reichten hin, die alten Revolutionäre zu
brechen und in willenlose Marionetten der Prozessregie zu verwandeln. Bei einigen mag auch der Wille eine Rolle gespielt
haben, den Despoten als einen (wie immer unwürdigen) Verteidiger der verstaatlichten Produktionsmittel noch im
Abgehen mit größtmöglicher Legitimation auszustatten.
Nach dem zweiten Schauprozess gegen Pjatakow und Radek im
Januar 1937 fand eine Plenartagung des Zentralkomitees statt, die sich vom 23.Februar bis zum 5.März hinzog. Es
handelte sich dabei sowohl um ein Tribunal als auch um ein Konzil. Bucharin und Rykow, Stalins vormalige Bundesgenossen
und Opponenten, wurden verdammt und dem NKWD übergeben, Stalin selbst aber wie ein Pharao des Sowjetstaats gefeiert.
Unter den 21 Angeklagten des dritten Schauprozesses befanden sich drei Mitglieder des Leninschen Politbüros
(Bucharin, Rykow, Krestinski), der Führer der trotzkistischen Linksopposition bis zum Jahre 1934, Rakowski, sowie
der vormalige Chef der GPU, Jagoda.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ Stalin in den
osteuropäischen Satellitenstaaten noch eine ganze Reihe von weiteren Schauprozessen nach "Moskauer" Art
inszenieren, um die mit Hilfe der Roten Armee und der GPU an die Macht gelangten "Bruderparteien" zu
disziplinieren.
Hitler mobilisierte den aktiven Teil der deutschen
Zwischenschichten und zerschlug die Arbeiterorganisationen. Mit dem Segen des großen Kapitals und der
bürgerlichen Parteien errichtete er, unterstützt von Armee und Verwaltung, einen "totalitären"
Führerstaat. Stalin schaltete zunächst die marxistisch orientierten Oppositionsgruppen in der bolschewistischen
Partei aus, brach dann den Widerstand der bäuerlichen Mehrheit gegen die Verstaatlichung des Bodens und organisierte
mit Unterstützung der selbst vom Terror gebeutelten Bürokratie, die die verstaatlichten Produktionsmittel
kontrollierte, ebenfalls ein "totalitäres" Regime. Ideologen beider Staaten träumten von Autarkie,
bis die politisch-militärischen Führungen im Zweiten Weltkrieg den Wirtschaftsraum zur Verwirklichung ihrer
Utopien gewaltsam erweiterten.
Die beiden Diktatoren versuchten zuerst, miteinander zu
paktieren, und begannen dann einen Kampf auf Leben und Tod. Beide Staaten waren höchst unterschiedlichen Versionen
einer Utopie verpflichtet, der des "nationalen Sozialismus". Beide opferten diesem zum Scheitern verurteilten
Projekt Millionen von Menschenleben. Hitler und die Seinen glaubten, nur "das internationale Judentum" mit
seinen beiden "Hauptquartieren" im Kreml und an der Wallstreet verhindere die Herstellung einer arischen
"Volksgemeinschaft" und die Einigung Europas unter deutscher Oberherrschaft, und fassten den Plan, die
europäischen Juden auszurotten.
Stalin war überzeugt, der Aufbau des
"Sozialismus in einem Lande" werde von Abweichlern, Verrätern und Terroristen, die im Solde deutscher und
japanischer Faschisten stünden kurz: von der "Fünften Kolonne" der "Trotzkisten"
sabotiert. Er beschloss, alle Ungläubigen, Nonkonformisten und Dissidenten "liquidieren" zu lassen. In
Hitlers "Weltanschauung" repräsentierten die "Juden" (und hinter ihnen die
"Plutokraten") das schlechthin "Böse"; in Stalins Phantasmagorie waren Kulaken und
("trotzkistische") "Volksfeinde" Teufel in Menschengestalt. Der "nationale Sozialismus" und
die klassenlose "Volksgemeinschaft" waren die verhängnisvollsten Utopien des 20.Jahrhunderts. Als der
deutsche kapitalistische Industriestaat und die sowjetische Entwicklungsdiktatur in den Dienst dieser reaktionären
Projekte gestellt wurden, zog jene Barbarei herauf, vor der die internationalistischen Sozialisten die Menschheit hatten
bewahren wollen.
Helmut Dahmer
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