SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2007, Seite 24

Vor 70 Jahren:

Die Moskauer Prozesse

Die Führungsriege der Partei der Oktoberrevolution wurde von Stalin in den "Moskauer Prozessen" liquidiert. Sie fanden im August 1936, im Januar 1937 und im März 1938 statt. Nach Unterlagen des NKWD, des organisatorischen Zentrums des Stalin‘schen Terrors, wurden in den Jahren 1937 und 1938 etwa 2,5 Millionen Menschen verhaftet und etwa 680000 hingerichtet. Ein großer Teil der in Verbanntenkolonien und Zwangsarbeitslagern internierten 3,5 Millionen Häftlinge kam ebenfalls ums Leben. Entgegen bürgerlicher wie stalinistischer Geschichtsschreibung war Stalin nicht der Vollstrecker, sondern der Totengräber der Oktoberrevolution.
Im ersten, im August 1936 inszenierten großen Schauprozess gegen Sinowjew, Kamenew und neun andere alte Bolschewiki, denen entsprechend der Technik der "Amalgam"-Bildung noch fünf geständnisfreudige Provokateure beigesellt waren, behauptete die Anklage, Trotzki und sein älterer Sohn, Leo Sedow, hätten in Absprache mit der Gestapo die Ermordung der sowjetischen Führung geplant. Die Angeklagten gestanden, wurden zum Tode verurteilt und umgehend erschossen. Die Beschuldigten waren dazu gedrängt worden, Mitschuldige zu benennen, und so stand am Ende des Verfahrens schon die Angeklagtenriege für den zweiten Schauprozess fest — und spätestens nach diesem auch diejenige für den dritten.
Die Zusammensetzung der "sowjetfeindlichen" Gruppen, die die Anklage präsentierte, und die von ihr erhobenen Anschuldigungen wurden von einem Prozess zum anderen immer abenteuerlicher. Trotzki, der in Norwegen bzw. in Mexiko Asyl gefunden hatte, und Leo Sedow, der im Januar 1938 in Paris von einem GPU-Agenten vergiftet wurde, waren die (abwesenden) Hauptangeklagten. Sie sollten die Verschwörer organisiert und ihnen Direktiven zur Ermordung Stalins und der stalinistischen Führung übermittelt haben.
Stalin war der Repräsentant einer immer wieder "gesäuberten" und schließlich gleichgeschalteten Partei; diese Partei war das politische Organ der sowjetischen Bürokratie, die die Kontrolle über die verstaatlichten Produktionsmittel des Landes usurpiert hatte. Alle Ängste dieser neuen Bürokratie und ihres Beherrschers Stalin manifestierten sich in Wyschinskis Anklagekatalogen. Andrej Wyschinski stammte aus polnischem Adel und war zur Zeit der Oktoberrevolution Menschewik. Nachdem Eugen Paschukanis im Januar 1937 als "Schädling" erschossen worden war, rückte Wyschinski, der Ankläger in den großen Schauprozessen, zum führenden sowjetischen Rechtstheoretiker auf. Er vertrat die Auffassung, "Geständnisse" von Angeklagten seien in Strafverfahren als hinreichende Schuldbeweise zu werten.
Stalin plante seit 1934 nicht nur die Beseitigung der Zögernden unter seinen Anhängern (wie Ordshonikidse), sondern die Eliminierung einer jeden überhaupt denkbaren Ersatzführung. Ein solcher "politischer Genozid" (Isaac Deutscher) ließ sich nur bewerkstelligen, wenn die früheren Oppositionellen zu Kriminellen gestempelt wurden und wenn es gelang, den Volkszorn von der für Hunger, Geheimdienstkontrolle und Blutvergießen verantwortlichen Stalin-Führung abzulenken und gegen die designierten "Volksfeinde" zu richten. Der "Totengräber der Revolution", wie Trotzki ihn schon 1926 genannt hatte, der mit Hilfe der GPU in der Lage war, Millionen Menschen im eigenen Land umbringen zu lassen und der seine Mörderbanden nach Frankreich, Spanien und Mexiko aussandte, um Dissidenten zur Strecke zu bringen, wähnte, seine Gegner würden ihm Gleiches mit Gleichem vergelten und zwang seine Opfer, diesen Wahn durch ihre "Geständnisse" zu verifizieren.
Abgesehen von dem Anschlag auf Kirow, gab es weder in den 30er noch in den 40er Jahren irgendein Attentat auf Stalin oder einen seiner Kumpane. Darum wurden den angeklagten "Terroristen" oder den mitangeklagten Ärzten ersatzweise natürliche Todesfälle und Auftragsmorde der Geheimpolizei zur Last gelegt. Die früheren Revolutionäre und Ex-Oppositionellen, die Stalin vor Gericht stellen und erschießen ließ, waren aufgrund ihrer marxistischen Schulung zutiefst von der Sinnlosigkeit des "individuellen Terrors" überzeugt. Der einzige aus der alten Lenin-Partei, der unablässig von Morden und Attentaten träumte und solche anordnete, weil er "Palastrevolutionen", "Putschversuche", "Fünfte Kolonnen" und eine neue Revolution gegen die bürokratische Kaste fürchtete, war Stalin selbst.
Die Angeklagten und die überall im Lande zu Hunderttausenden eingesperrten, verbannten und erschossenen "Diversanten und Schädlinge" starben als Sündenböcke für das Desaster der Zwangskollektivierung und für das Zurückbleiben der Industrieproduktion hinter den ehrgeizigen Zielen der ersten Fünfjahrespläne. Ihnen wurde die Verantwortung für das Scheitern des Stalin‘schen Projekts des Aufbaus einer (allen kapitalistischen Staaten überlegenen) sozialistischen Gesellschaft auf dem Territorium der Sowjetunion zugeschoben.
Stalin, als Generalsekretär der KPdSU auch Herr der "Dossiers", die über Millionen Mitglieder Auskunft gaben, war ein Meister der Personalisierung. Und da die Sowjetmenschen auch noch zwanzig Jahre nach der Revolution um Brot anstehen mussten, versuchte der "Baumeister des Sozialismus", sie mit eigens von ihm erfundenen Schauspielen von ihrer Misere abzulenken und ihnen "Volksfeinde" zum Fraß vorzuwerfen. Die großen, vor sorgfältig ausgesuchtem Publikum inszenierten Prozesse waren moderne Mysterienspiele, ein "Theater der Grausamkeit", dessen 54 unfreiwillige Darsteller die Aufführungen in ihrer großen Mehrheit nicht überlebten. Das grässliche Spektakel ermöglichte es Stalin, sich den Massen als einen wiedererstandenen mythischen Drachentöter zu präsentieren.
Die Verhältnisse, die der Verwirklichung seiner Utopie entgegenstanden, kamen in der Gestalt prominenter "Saboteure" (und ihrer Helfershelfer) auf die Bühne des "Oktobersaals", wurden tagelang geschmäht und schließlich unter allgemeinem Beifall zur Strecke gebracht. Robert Conquest berichtet: "Als [am 27.1.1937] die Urteile [im Pjatakow-Radek-Prozess] verkündet wurden, versammelte sich eine Menge von 200000 Menschen auf dem Roten Platz. Es herrschte eine Temperatur von minus 27 Grad und die Menge lauschte den Reden, die Chruschtschow und Schwernik von sich gaben, und demonstrierte spontan gegen die Angeklagten. [Die Demonstranten] trugen Transparente, auf denen die sofortige Vollstreckung der Todesurteile verlangt wurde."
Die vielfach redigierten Protokolle der Verhandlungen wurden in der Prawda veröffentlicht, in größter Eile in 13 Sprachen übersetzt und dann in großer Auflage verbreitet. Das Für-wahr-Halten der "Geständnisse" der Angeklagten und die Überzeugung, dass bei den Prozessen alles mit rechten Dingen zugegangen sei, gehörten fortan zum Katechismus der Mitglieder und Freunde der stalinistischen Kirche. Im Potjomkin‘schen Dorf des "real existierenden" Sozialismus verdeckte das Moskauer Gewerkschaftshaus den "Archipel GULag". Die Prozesse der 30er Jahre dienten als Deckerinnerung für den Massenterror, für Stalins Holocaust, von dem die Moskautreuen wenig wussten und noch weniger wissen wollten. "Ungläubige" galten ihnen als verblendete Reaktionäre. Renommierte Literaten wie Lion Feuchtwanger, der Augenzeuge des Prozesses von 1937 war, oder Heinrich Mann verteidigten die Moskauer Prozesse ebenso wie der Philosoph Ernst Bloch.
Erst am Vorabend des Untergangs der KPdSU und der Sowjetunion wurden 1988 die Urteile der Moskauer Prozesse aufgehoben und die meisten Angeklagten rehabilitiert. Millionen von Parteikommunisten und Sympathisanten in aller Welt wollten Stalins Verbrechen nicht wahrhaben und verloren so ihre politisch-moralische Integrität. Den "Trotzkismus" hielten sie für ihren Todfeind, in Stalin sahen sie den einzigen Garanten für den Fortschritt der Menschheit, und sie waren fest entschlossen, ihre eigene Politik der jeweiligen "Generallinie", also den Sicherheitsinteressen der sowjetischen Führung unterzuordnen.
Nicht kooperierende Angeklagte wurden in den Gefängnissen des NKWD grausam gequält oder gleich erschossen. Nur von Sinowjew, Kamenew und Bucharin heißt es, sie seien "nicht im engeren Sinne" gefoltert worden. Wie bei den Hexenprozessen vergangener Jahrhunderte wurden die Gefangenen gezwungen, sich das Wahnsystem der Inquisitoren in solchem Maße zu eigen zu machen, dass sie imstande waren, es durch neue Phantasmen zu bereichern und zu "bestätigen".
Die Furcht vor Schlägen oder Verstümmelung und die Hoffnung auf Begnadigung und Verschonung der Familienangehörigen reichten hin, die alten Revolutionäre zu brechen und in willenlose Marionetten der Prozessregie zu verwandeln. Bei einigen mag auch der Wille eine Rolle gespielt haben, den Despoten als einen (wie immer unwürdigen) Verteidiger der verstaatlichten Produktionsmittel noch im Abgehen mit größtmöglicher Legitimation auszustatten.
Nach dem zweiten Schauprozess gegen Pjatakow und Radek im Januar 1937 fand eine Plenartagung des Zentralkomitees statt, die sich vom 23.Februar bis zum 5.März hinzog. Es handelte sich dabei sowohl um ein Tribunal als auch um ein Konzil. Bucharin und Rykow, Stalins vormalige Bundesgenossen und Opponenten, wurden verdammt und dem NKWD übergeben, Stalin selbst aber wie ein Pharao des Sowjetstaats gefeiert. Unter den 21 Angeklagten des dritten Schauprozesses befanden sich drei Mitglieder des Lenin‘schen Politbüros (Bucharin, Rykow, Krestinski), der Führer der trotzkistischen Linksopposition bis zum Jahre 1934, Rakowski, sowie der vormalige Chef der GPU, Jagoda.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ Stalin in den osteuropäischen Satellitenstaaten noch eine ganze Reihe von weiteren Schauprozessen nach "Moskauer" Art inszenieren, um die mit Hilfe der Roten Armee und der GPU an die Macht gelangten "Bruderparteien" zu disziplinieren.
Hitler mobilisierte den aktiven Teil der deutschen Zwischenschichten und zerschlug die Arbeiterorganisationen. Mit dem Segen des großen Kapitals und der bürgerlichen Parteien errichtete er, unterstützt von Armee und Verwaltung, einen "totalitären" Führerstaat. Stalin schaltete zunächst die marxistisch orientierten Oppositionsgruppen in der bolschewistischen Partei aus, brach dann den Widerstand der bäuerlichen Mehrheit gegen die Verstaatlichung des Bodens und organisierte mit Unterstützung der selbst vom Terror gebeutelten Bürokratie, die die verstaatlichten Produktionsmittel kontrollierte, ebenfalls ein "totalitäres" Regime. Ideologen beider Staaten träumten von Autarkie, bis die politisch-militärischen Führungen im Zweiten Weltkrieg den Wirtschaftsraum zur Verwirklichung ihrer Utopien gewaltsam erweiterten.
Die beiden Diktatoren versuchten zuerst, miteinander zu paktieren, und begannen dann einen Kampf auf Leben und Tod. Beide Staaten waren höchst unterschiedlichen Versionen einer Utopie verpflichtet, der des "nationalen Sozialismus". Beide opferten diesem zum Scheitern verurteilten Projekt Millionen von Menschenleben. Hitler und die Seinen glaubten, nur "das internationale Judentum" mit seinen beiden "Hauptquartieren" im Kreml und an der Wallstreet verhindere die Herstellung einer arischen "Volksgemeinschaft" und die Einigung Europas unter deutscher Oberherrschaft, und fassten den Plan, die europäischen Juden auszurotten.
Stalin war überzeugt, der Aufbau des "Sozialismus in einem Lande" werde von Abweichlern, Verrätern und Terroristen, die im Solde deutscher und japanischer Faschisten stünden — kurz: von der "Fünften Kolonne" der "Trotzkisten" sabotiert. Er beschloss, alle Ungläubigen, Nonkonformisten und Dissidenten "liquidieren" zu lassen. In Hitlers "Weltanschauung" repräsentierten die "Juden" (und hinter ihnen die "Plutokraten") das schlechthin "Böse"; in Stalins Phantasmagorie waren Kulaken und ("trotzkistische") "Volksfeinde" Teufel in Menschengestalt. Der "nationale Sozialismus" und die klassenlose "Volksgemeinschaft" waren die verhängnisvollsten Utopien des 20.Jahrhunderts. Als der deutsche kapitalistische Industriestaat und die sowjetische Entwicklungsdiktatur in den Dienst dieser reaktionären Projekte gestellt wurden, zog jene Barbarei herauf, vor der die internationalistischen Sozialisten die Menschheit hatten bewahren wollen.

Helmut Dahmer

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