SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2007, Seite 10

Rente mit 67

IG Metall probt politischen Streik

Hunderttausende Beschäftigte demonstrierten vor der 2.Lesung im Bundestag erneut gegen die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters. Sie nahmen sich dabei ein Recht, das ihnen bisher verwehrt wurde.
Seit der 1.Lesung des Gesetzes zur Heraufsetzung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahren am 14.Dezember haben etwa 200000 Beschäftigte vor allem aus dem Organisationsbereich der IG Metall an Protestaktionen teilgenommen. In Dutzenden von Betrieben wurde bis zu drei Stunden die Arbeit niedergelegt. Die größten Demonstrationen gab es in den VW-Werken mit insgesamt 30000 Teilnehmern, gefolgt von DaimlerChrysler in Sindelfingen und BMW in München. Die IG Metall hatte die Arbeitsniederlegung durch eine bundesweite Fragebogenaktion in den Betrieben zur Rente mit 67 vorbereitet. Das Ergebnis: die Regierungspläne sind extrem unpopulär. Im Werk DaimlerChrysler in Berlin-Marienfelde lehnten 98,2% der etwa 5000 Befragten die Erhöhung des Renteneintrittsalters kategorisch ab.
"Die Kolleginnen und Kollegen sind froh, wenn sie den Rentenbeginn überhaupt erreichen", sagt ein Betriebsrat des Berliner DC-Werks. "Man braucht nur einen Blick auf das schwarze Brett mit den Todesanzeigen zu werfen, um zu sehen, dass es sehr viele Kollegen schon jetzt nicht bis zur Rente schaffen."
Am 26.2., dem Tag der zweiten Lesung des Gesetzes, waren nochmal Kundgebungen und Aktionen angesagt. Der Aufruf der Gewerkschaften zu Arbeitsniederlegungen ist ein klarer Fortschritt gegenüber der bisherigen Praxis des reinen Unterschriftensammelns. Es war auch ein kluger Schritt für den Angriff auf die repressive Rechtslage in Sachen politischer Streik ein Thema zu wählen, bei dem sich die Gewerkschaft einer überwältigenden Zustimmung sicher sein kann.
Die wichtigsten politischen Weichenstellungen für das aktuelle Arbeitskampfrecht fanden in den 50er Jahren statt. Sie standen schon im Zeichen der gesellschaftspolitischen Restauration. Im Mittelpunkt des "Roll back" bei der Arbeitsverfassung stand zuerst das Mitbestimmungsgesetz in der Montanindustrie, danach das Betriebsverfassungsgesetz. Hier kam es zum sog. "Zeitungsstreik" — 48 Stunden Streik vom 27. bis 29.Mai 1952, der in der Folge zu meist erfolgreichen Schadensersatzforderungen der Unternehmer führte. Das Arbeitgeberlager setzte sich politisch wie juristisch durch. Die meisten Arbeitsgerichte werteten den Streik als "rechtswidrigen politischen Streik".
Hauptkontrahenten in der damaligen Auseinandersetzung waren auf konservativer Seite der Arbeitsrechtler Hans-Carl Nipperdey, der schon das "Arbeitsrecht" der Nazis legitimierte, und Wolfgang Abendroth als Vertreter der gewerkschaftlichen Linken.
Für Nipperdey war die "Störung des Arbeitsfriedens" das typische Merkmal eines Arbeitskampfs, "um durch Druck ein bestimmtes Ziel oder Fernziel zu erreichen". Wesentlich ist hierbei das Bild einer "befriedeten Wirtschaftswelt", die offenbar sinnwidrig "gestört" wird. Die Ablehnung des politischen Streiksrechts wird von konservativer Seite ferner damit begründet, dass nirgendwo organisierten Interessensgruppen das Recht eingeräumt sei, auf die staatliche Willensbildung anders Einfluss zu nehmen als auf dem dafür vorgesehenen Wege des Wahlrechts, des Petitionsrechts wie auch der Freiheit der Versammlung und Meinungsäußerung. Streik sei Nötigung des Parlaments und Einschränkung des "freien Mandats". Eine "Pression" sahen konservative Verfassungsrechtler auch in der Urabstimmung, die die IG Metall in Schleswig Holstein 1956 noch während der Friedenspflicht durchführte. Das Urteil des BAG vom 31.10.58 folgte diesen Überlegungen.
Im Gegensatz dazu stellten Verfassungstheoretiker, die den Gewerkschaften und der Linken nahe standen, die Offenheit der ökonomischen Ordnung und eine Vorstellung von Demokratie in den Mittelpunkt. Es müsse einen Prozess geben, in dem die existierende Staatsordnung von einer formalen zu einer inhaltlichen Demokratie voranschreitet, um größere und dauerhafte Legitimität zu erhalten. Auf das real existierende Ungleichgewicht der Klassen bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse verwies auch Hermann Heller in seiner 1973 erschienen Schrift Politische Demokratie und soziale Homogenität:
"Die radikalste formale Gleichheit wird ohne soziale Homogenität zur radikalsten Ungleichheit und die Formaldemokratie zur Diktatur der herrschenden Klasse. Die ökonomische und zivilisatorische Überlegenheit gibt den Herrschenden genügend Mittel in die Hand, um durch direkte und indirekte Beeinflussung der öffentlichen Meinung die politische Demokratie in ihr Gegenteil zu verkehren. Die finanzielle Beherrschung von Partei, Presse, Film und Literatur, gesellschaftliche Influenzierung von Schule und Hochschule, vermag sie, selbst ohne direkte Bestechung, zu einer virtuosen Beeinflussung der bürokratischen und Wahlmaschine zu bringen, so dass alle demokratische Form gewahrt und eine Diktatur dem Inhalt nach erreicht wird. Sie ist um so gefährlicher, weil anonym und unverantwortlich. Sie macht die politische Demokratie zur Fiktion, indem sie die Form der Repräsentationsbestellung wahrt und ihren Inhalt verfälscht."
Auch Wolfgang Abendroth widersprach der konservativen Auffassung vom "freien Mandat" und dem Vorwurf der "Nötigung" parlamentarischer Organe. Eine Beschränkung der politischen Willensbildung auf den Wahlakt, auf Petition und auf individuelle Meinungsäußerung lehnte er ab. In den umstrittenen Arbeitsniederlegungen sah er nicht mehr als einen politischen Demonstrationsstreik, der verfassungsrechtlich legitim sei, weil er dazu diene, den politischen Entscheidungsträgern den Willen einer bedeutenden sozialen Gruppe zu verdeutlichen, damit dieser bei der Entscheidungsfindung Berücksichtigung finde.
Dabei sei es der sozialen Realität der Lohnabhängigen als abhängig Beschäftigte geschuldet, dass dieses Kampfmittel alternativlos sei, wenn es darum gehe, der sozialen Macht und den vielfältigen Einflussmöglichkeiten ihrer sozialen Gegenspieler etwas Wirksames entgegenzusetzen. Abendroth war der Auffassung, dass "demonstrativer Druck" nicht der Demokratie abträglich sei, sondern dass dieser eine notwendige Folge der in der Gesellschaft vorhandenen gegensätzlichen Interessen sei. Die Forderung nach einer "freien Verhandlung" ohne "sozialen Druck" sei eine Fiktion und nur als "totalitäre Diktatur" realisierbar.

Jochen Gester

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