SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2007, Seite 11

Für ein anderes Europa!

Wider die eitle Hofferei

Wolf-Dieter Narr darüber, was die EU zusammenhält und auf welche Füße sie gestellt werden muss

"Und doch brauchen wir heute mehr denn je eine Europäische Union, die eine wirksame Menschenrechtspolitik verfolgt. Die anhaltenden Krisen im Nahen Osten und im Sudan verlangen von Europa eine Rolle, die sich auf kollektive Stärke und auf die Überzeugung des eigenen Wertekanons stützt, damit die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, die bereits fortschreitende Menschenrechtskatastrophe aufzuhalten, überwunden werden kann. Eine weitere wichtige Aufgabe der EU besteht darin zu verhindern, dass sich die Polarisierung des erst vor einem halben Jahr eingerichteten UN-Menschenrechtsrats weiter verstärkt."
"Gerade jetzt, wo der EU von ihrem eigenen Parlament mit einem vernichtenden Bericht bescheinigt wurde, dass Europa an gravierenden Menschenrechtsverletzungen beteiligt war, wäre es ein Zeichen echter Führungsstärke, wenn die deutsche Ratspräsidentschaft Verantwortung übernehmen und den Rat zur Bekräftigung bewegen würde, dass die Union in der Tat die Pflicht hat, Entführungen, Folterungen, ‘Verschwindenlassen‘ zu unterbinden und zu verhindern."
Starke Worte, treffliche Worte der bundesdeutschen Sektion von Amnesty International, die Ende des letzten Jahres ein "Zehn-Punkte- Programm ... für die deutsche Ratspräsidentschaft der Europäischen Union" vorgelegt hat? Nein! Von hohlem Pathos getragene Worte! Sie dienen der Kontinuität europäischer (Selbst- )Täuschung. Sie schallen umso lautleerer, je mehr man das verdienstvolle menschenrechtliche Engagement von AI unterstützt. Die irrend wirrenden Annahmen überpurzeln sich. Als sei die EU alles in allem nach innen und außen eine Bastion materiell verwirklichter Menschenrechte.
Das blaue Papier von AI hebt denn auch an: "Die Menschenrechtspolitik der Europäischen Union (EU) ist volljährig geworden." Die Zuckergusssprache, die unionseuropäische Reden ohnehin durchwaltet, der "goodspeak" (Orwell), die Schummelsprache herrschender Politik, sie wird von AI noch überzuckert. Als vermöchte die deutsche, auf ein halbes Jahr begrenzte Ratspräsidentschaft, selbst wenn sie wollte — aber kann sie denn wollen?! —, die EU ins schmale, steilufrig umstellte Fahrwasser binnen- und außereuropäisch wirksamer Menschenrechtspolitik zu steuern. Welch groteske Fehleinschätzung allein der gegebenen institutionellen Möglichkeiten. Nicht davon zu reden, dass "die Kanzlerin" "im Ungefähren bleibt", wie ihr Renate Künast in der insgesamt ebenso flach-vagen Bundestagsdebatte zur deutschen Ratspräsidentschaft am 14.12.2006 vorgehalten hat. Was könnte sie denn schon — die "arme" Merkel?! "Führungsstärke" demonstrieren, wie AI verlangt, indem es sich nahezu vollkommen auf die fehl leitende Arroganz etablierter Politik, ihrer Institutionen und Funktionen einlässt?
Auch kritische Feststellungen Oskar Lafontaines in besagter Debatte, die EU kennzeichneten "Lohndumping, Sozialdumping und Steuerdumping", dienen allenfalls dazu, sich und einer Minderheit anderer rhetorisch selbst zu genügen. Diese Kritik bis hin zur wohlfeilen Forderung, eine europäische Verfassung müsse durch "Volksabstimmung" abgesegnet werden, durchbricht nicht den herrschenden Rahmen. Sie unterstellt, es genüge ein runderneuerter Verfassungsentwurf und einige andersgewillte Politiker — und schon laute die Devise: Freie Fahrt für ein sozialpolitisch angemessen im Weltmeer steuerndes Europa. Heißt linke Politik, Illusionen verbreiten, bis man selbst herrschaftsgemäß von den Fleischtöpfen Ägyptens kosten kann?

Die harten Fakten

Als bornierter Ideologe trifft Guido Westerwelle den europäischen Sachverhalt, und damit — unausgesprochen — all seine Probleme besser: "Deswegen stellt der Binnenmarkt", so wortquillt er in derselben Debatte, "gewissermaßen ein Fitnessprogramm auf diese Herausforderungen dar". Gemeint ist vor allem der "weltweite Wettbewerb". Hier strahlt das Interesse, das die EU-Staaten zusammenhält und ihre Expansion durchpulst. Hieraus verstehen sich die "Maßverhältnisse", die den erneut im goodspeak formelhaft wiederholten "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" bestimmen: den binneneuropäischen Wohlstand für die mehrheitlichen Interessen ungleich und expansiv zu sichern. Darum all die enormen Anstrengungen, Europa einzugrenzen und alles hart auszugrenzen, was diesen Interessen gefährlich werden könnte (siehe als letzte Verlautbarung dieser Interessen die "Schlussfolgerung des Vorsitzes Europäischer Rat vom 14. und 15.Dezember 2006").
Neben der puren, präventiv gekehrten Repression steht beispielsweise das "Migrationsmanagement" im Zentrum. "Effektive Identifizierung", verstärkte "Grenzkontrollen", auf "Arbeitsmarktbedürfnisse" abgestimmte "zirkuläre und temporäre Migration", der Ausbau der "europäischen Grenzschutzagentur" mit dem nicht zufällig militaristisch klingenden Namen "Frontex" sollen vorabgetrieben werden. Dazu sind ein "europäisches Überwachungssystem" ebenso erforderlich wie die "Aufstellung schneller Grenzschutzteams". Diesen könnte, so wird erwogen, im Zusammenhang "der humanitären Hilfe" eine "Modellfunktion" zukommen. Lager, in die "Abschüblinge" gepfercht werden, sind darum innerhalb der hochzivilisierten europäischen Staaten ebenso selbstverständlich wie Lager vor den Toren der EU. Beispielsweise im neuen westlichen Musterstaat Libyen.
In konkurrenzstürmischen Zeiten ist jedoch nicht nur das weltmarkt- und weltmilitärexpansive Europa gegen alle "unerwünschten Ausländer" auf alle erdenklichen Arten vor- und nachzusichern — was vor allem die neue "Afrikapolitik" ausmacht. In solchen Zeiten muss auch im Innern, jeder Mitgliedstaat für sich und in freundschaftlichem Wettbewerb mit dem anderen effizient, flexibel und mobil hochgerüstet werden.
Dem entsprechen eine lerntödliche Bildungspolitik, eine Ungleichheit und Verelendung fördernde Sozial- und Arbeitsmarktpolitik im nationalstaatlich-unionseuropäischen Ballett. Sie entsprechen der monomanen "Lissabon- Strategie", die EU zur ökonomischen Führungsmacht der Welt zu trimmen. Darum auch die globale Militärpräsenz. Darum müssen die BRD wie die EU an allen Hindukuschs dieser Welt tödlich, zerstörerisch, mit einigen Brisen verfehlter "Entwicklungshilfe" gesichert werden. Dem dient der Aufbau einer unsäglichen "Verteidigungs- und Sicherheitsidentität" als das wahre Markenzeichen der EU.

Kooperation und Vielfalt

Wer die pazifistische Idee eines Europa, das in seiner Vielfalt um die besten demokratischen und sozialistischen Gestaltungen in einem dissonanten Konzert vieler Instrumente ringt, noch nicht "realpolitisch" der paradoxen Dynamik Multipler Sklerose geopfert hat, der ist heute individuell und kollektiv mehr denn je gefordert. Der darf nicht an dem glücklicherweise in Frankreich und Holland gescheiterten, 2003 vorgelegten "Verfassungsentwurf" ansetzen, um einem hybriden Regulierungskomplex global kapitalistischer ökonomischer Machtungetüme einen zusätzlichen Legitimationsschleier verpassen zu helfen. Als habe es sich bei diesem von wenigen Spitzenbürokraten gezimmerten Entwurf von oben je um mehr als den Schein einer Verfassung gehandelt.
Selbst die schon vorab verabschiedete "Charta der Grundrechte der Europäischen Union" zeichnet sich primär durch zwei Eigenschaften aus: durch ihren Kern, die vier Grundfreiheiten der EU: Freiheit von Kapital, Güterverkehr, Dienstleistung und im abhängigen Nachklapp von Arbeit; und durch ihre nachdrückliche Unverbindlichkeit.
Die Riesenaufgabe besteht in einem Doppelten: Zum einen müssen Verbindungen und Kooperationen zwischen europäischen — wie anderen — Ländern "von unten" lebendig inszeniert werden. Hier sind oft sehr brauchbare Ansätze vorhanden. Ihnen wird vom Schlagschatten des Brüsseler Monstrums das nötige Licht geraubt.
Zum anderen muss konzeptionell und in langsam abgestimmten Schritten ein demokratischer Verfassungsrahmen gebastelt werden, der die regionale, die ethnische, auch gegebenenfalls die nationale Vielfalt bewahrt, zugleich aber Prozesse der Kooperation und des Ausgleichs erlaubt, die im europäischen wie globalen Kontext erforderlich sind. Nur dann kann gehofft werden, dass die enormen aggressiven Potenzen und Aktualitäten, die in der globalen kapitalistischen Machtdynamik täglich weiter akkumuliert werden, von den europäischen Ländern mit Widerlagern versehen werden und einem wahrhaft kosmopolitischen Gegenentwurf weichen.
Politische Fantasie, das rarste Gut, ist am meisten gefragt. Dazu immer erneute Anstrengungen sie kommunal, regional zu gestalten. Den lebensbedrohlichen Torheiten der innovationstollen und zugleich innovationsdummen EU und ihrer schon in sich selbst alles andere als demokratisch menschenrechtlich funktionstüchtigen Mitgliedstaaten ist nur mit wohlbedachter und begründeter Opposition zu begegnen. So man nicht in der riesigen Täuschungssuppe mit nicht wenigen Fettaugen wurstsüchtig mitschwimmen will (und muss). Wer möchte nicht, und sei der Himmel noch so verdunkelt, unter Brüsseler Geldregen stehen? Gerade weil der so ungleich tropft.

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