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Vor 50 Jahren, im März 1957, besiegelten die Römischen
Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die europäische
Nukleargemeinschaft (Euratom). In diesen Tagen wird dieser Akt als die größte friedensstiftende
Maßnahme auf dem europäischen Kontinent der letzten 200 Jahre gefeiert. Doch die Römischen
Verträge nehmen vorweg, was heute durch den EU-Verfassungsvertrag für alle Zeiten festgeschrieben
werden soll: Markt, freien Wettbewerb und autokratischen Regierungsstil als Verfassungsgrundsatz. FRANCO
RUSSO erklärt, wie die Nachkriegsverfassungen Europas dadurch auf den Kopf gestellt wurden.
Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes rückt die Würde des Menschen als
"unantastbar" in den Mittelpunkt und erlegt jeder staatlichen Gewalt auf, sie zu respektieren und
zu schützen. Artikel 2 der italienischen Verfassung "erkennt und garantiert die unverletzbaren
Rechte des Menschen, sowohl als Einzelner wie auch in seinem sozialen Umfeld", und beruft sich in
Artikel 41 auf die "Menschenwürde" als Einschränkung der wirtschaftlichen
Aktivität. Vertreter der neoliberalen Schule, in Italien bspw. vom Juristen Fabio Merusi, haben
eindeutig bestätigt, dass die Regierungen mit den Römischen Verträgen über die
Errichtung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine Zeitbombe geschaffen haben, die in den 60er
und 70er Jahren explodierte und sie dann dazu zwang, sich Formen der governance zu geben, die die
technokratische Rolle des Regierens betonen und die Regierungen in einem ständigen Prozess des
Aushandelns öffentlicher Entscheidungen mit den Wirtschaftsmächten sehen. Die Römischen
Verträge haben an die Stelle des "keynesianischen" Eingreifens in die Wirtschaft den Markt
und den Konkurrenzkampf gesetzt.
Das Vorhaben, den Wettbewerbsmarkt in den
Verfassungsrang zu erheben, stand kurz vor der Realisierung, wären nicht die beiden Nein zum
Verfassungsvertrag in der französischen und niederländischen Volksbefragung dazwischen gekommen.
Der dritte Teil dieses Vertrags erhebt die neoliberale Politik der Union in den Verfassungsrang.
Die "Gründungsväter"
der Europäischen Gemeinschaft kannten die Dramen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise der
30er Jahre und die Schrecken der beiden Weltkriege, sie fühlten sich verpflichtet, darauf eine Antwort
zu geben, um Europa zu befrieden: Sie taten es, indem sie die politische und ökonomische Instrumente
der kapitalistischen Gesellschaft einsetzten. Sie wussten, um den Konflikt in Europa zu überwinden,
der seine Wurzeln in der bewaffneten Gegenüberstellung zwischen Frankreich und Deutschland hatte,
mussten die beiden Volkswirtschaften miteinander verflochten werden, angefangen von den beiden
Schlüsselsektoren der Kriegsproduktion Kohle und Stahl. Sie hofften dadurch das Terrain
für eine politische Integration vorzubereiten.
Für beide Projekte, die politische und
die wirtschaftliche Integration, konnte man auf historische Erfahrungen und politische Projekte
zurückgreifen. In den 20er und 30er Jahren war das Stahlkartell errichtet worden (1926, es wurde 1933
erneuert) es hielt dem Angriff der "Staatsräson" nicht stand, obwohl die großen
Konzerne es verstanden, ihre Interessen zu vertreten; vor allem aber zielte das Gewaltregime Hitlers darauf
ab, die deutsche Wiederbewaffnung zu fördern.
1950 ging es nicht allein darum, ein neues
Wirtschaftskartell zu errichten, man musste ihm auch einen "Sinn" und eine politische
"Dimension" geben. Dieser fand sich in den verschiedenen föderalistischen Projekten, die in
den Jahren des antifaschistischen Kampfes gereift waren (man denke nur an das Manifest von Ventotene, das
im Jahr 1941 von den Italienern Altiero Spinelli und Ernesto Rossi verfasst wurde). Nach dem Ende des
Krieges erhielten sie neuen Schwung durch europäische Kongresse und Konferenzen.
Das wichtigste Treffen war der Kongress von
Den Haag, der am 7.Mai 1948 eröffnet wurde. Dort legten die "europäistischen
Europaverfechter" ihre verschiedenen Konzepte dar: Konföderation, Integration von
Wirtschaftszweigen, Föderation ohne dass es ihnen gelang, den Prozess des europäischen
Aufbaus in Gang zu setzen. Von diesem Kongress ging jedoch der Anstoß zur Gründung des Europarats
aus; dieser verabschiedete die "Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten" am 4.November 1950 in Rom das war ein erstes wirksames Instrument für
eine supranationale (staatenübergreifende) Garantie der Grundrechte gegenüber den einzelnen
Staaten.
Die Erklärung Robert Schumans vom
9.Mai 1950 hatte die ökonomische Integration und den föderalistischen Aufbau Europas zur Achse.
Eine Hohe Behörde sollte die Fusion der Märkte und die Ausweitung der Produktion von Kohle und
Stahl regeln, um die materielle Möglichkeit eines Krieges zwischen Deutschland und Frankreich bereits
im Keim zu ersticken und mit Hilfe einer europäischen Gemeinschaft die Grundlage für eine
europäische Föderation zu legen die sei "unabdingbar für den Erhalt des
Friedens".
Die wirtschaftliche Integration, die
"Fusion" der Märkte, sollte zu einer politischen Union führen, das war am Anfang das
Ziel. Es schlug jedoch fehl, weil der Plan der wirtschaftlichen Integration fortgeführt werden konnte,
die politische Integration jedoch fehlschlug. Heute dominieren Markt und Unternehmen die Europäische
Union: die kapitalistische Wirtschaft dominiert die ganze Gesellschaft.
Die Geschichte der Europäischen
Gemeinschaften und der Union ist die des Aufbaus eines Binnenmarkts, einer Gemeinschaft von Handelsleuten.
Deren wichtigste Etappen waren die Zollunion, der Gemeinsame Markt und später der Binnenmarkt; die
Integration nach Wirtschaftssektoren wie sie die Römischen Verträge vorsahen; die Agrarpolitik;
die Stabilisierung der Wechselkurse durch Geldmengenpolitik; die Währungsunion und die Kontrolle der
öffentlichen Haushalte, begleitet von der Privatisierung der Monopole und der öffentlichen
Dienste und von der Liberalisierung des Arbeitsmarktes.
Der Vertrag von Maastricht erhob
"stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und ordentliche monetäre Verhältnissen
sowie eine nachhaltige Zahlungsbilanz" in den Rang von Grundsätzen (EG-Vertrag, Art.4) und hat
damit eine richtiggehende "Wirtschaftsverfassung" entworfen. Eine solche ist im dritten Teil des
EU-Verfassungsvertrags enthalten; damit hat sich die ordoliberale Freiburger Schule die Doktrin von
einer "sozialen Marktwirtschaft", auf die sich in Deutschland das Modell des rheinischen
Kapitalismus gründete nunmehr überwältigt von der Globalisierung in Luft
aufgelöst.
Mit Hilfe der Institutionen der EWG und
später der EU haben sich die Regierungen legislative Funktionen angeeignet, sie haben sich der
parlamentarischen Kontrolle entzogen und agieren in einem Vakuum politischer Verantwortung. Mit Hilfe der
verschiedenen Ministerräte haben die Regierungen weite Bereiche der gesetzgebenden Gewalt der
Kontrolle der nationalen Parlamente und des europäischen Parlaments entzogen. Letzteres hat mit den
Jahren die Befugnis errungen zu kooperieren und "mitzuentscheiden", doch bis heute verfügt
es nicht einmal über das Recht zur Gesetzesinitiative. Diese ist ausschließliche das Monopol der
EU-Kommission, und der Verfassungsvertrag ändert an dieser Sachlage nichts (siehe Art.I-26 und III-
396). In der Union machen die Regierungen die Gesetze und bestimmen zugleich über ihre
Durchführung das sind die "Direktiven", die die Regierungen unmittelbar ohne
Vermittlung der nationalen Parlamente umsetzen. Die Regierungen haben ihre Vorherrschaft in der Form des
Primats des Europäischen Rats durchgesetzt, er bestimmt die politische Richtung in der Union; er ist
keinem repräsentativen Organ gegenüber verantwortlich und seine Entscheidungen sind unanfechtbar.
Der Mehrebenenkonstitutionalismus kann
helfen politische Initiativen zu erfinden, die mit den Gepflogenheiten zwischenstaatlicher Politik brechen.
Einen Hinweis des frühen Hans Kelsen aufgreifend, fasst er die Möglichkeit ins Auge, "die
Verfassung vom Staat zu trennen", also eine Verfassungsdemokratie ohne Staat von unten zu errichten,
in der Gesellschaft und Institutionen auf verschiedenen Ebenen (der lokalen, regionalen, nationalen und
europäischen) miteinander kommunizieren, über Mechanismen der direkten Beteiligung und der
Vertretung, die von der Verfassung festgelegt werden. In deren Zentrum stehen die Grundrechte, die
politisches Handeln zugleich lenken und begrenzen.
Die "europäischen
Verfassungstraditionen", die sich in den universellen Menschenrechten materialisieren, wurden in
historischen Kämpfen errungen und in die Verfassungen der zweiten Nachkriegsära gegossen
man denke nur an die ersten zwanzig Artikel des Grundgesetzes oder an den ersten Teil der italienischen
Verfassung. Sie bilden die Grundlage der europäischen Verfassungsdemokratie und das Naturrechtsubstrat
für das positive Recht es kann von keinem Gesetzgeber angetastet und zur Verfügung
gestellt werden und sei es eine verfassungsgebende Versammlung.
Die Tatsache, dass gesellschaftliche
Subjekte mit dem Nein in den Volksbefragungen zum Verfassungsvertrag verfassungsgebenden Boden betreten
haben, bietet deshalb die Chance, dass die Bevölkerungen zum europäischen Parlament und zu den
nationalen Parlamenten in eine direkte Beziehung treten und damit ein Mehrebenensystem ins Leben rufen, das
eine die Verfassung ausarbeiten und in einem gemeinsamen europäischen Referendum verabschieden kann.
Mit ihrer "verfassunggebenden" Beteiligung können die Völker einen Kompetenzzuwachs des
Europäischen Parlaments legitimieren. Dieses wäre dann berufen, die Regierungskonferenzen bei der
Ausarbeitung der Verfassung zu ersetzen. Sie würde einem europäischen Referendum vorgelegt und
würde damit zum Gründungsakt der politischen Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger
Europas.
Franco Russo
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