SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2007, Seite 20

"Congo River"

Annäherung an Afrikas Lebensrealität

Am 14.Dezember 2006 startete der Film Congo River im Forum der Berlinale. Jetzt ist er im Programmkino angelaufen. Dort habe ich ihn gesehen und war stark beeindruckt. Der belgische Regisseur Thierry Michel hat einen Film über Afrika gemacht, der zeigt, wie der Überlebensalltag im viertgrößten Land des schwarzen Kontinents heute aussieht.
Congo River ist der achte Film, den der Dokumentarfilmer Thierry Michel innerhalb der letzten zehn Jahre in Afrika gedreht hat, davon fünf im Kongo. Der bekannteste ist Mobutu, roi du Zaďre. Der Regisseur drehte für Congo River sieben Monate, vier davon nur mit kongolesischen Mitarbeitern. Das Team war auf der gesamten Reise mit den gleichen Transportmitteln unterwegs wie die Einheimischen — Flussboote, Beiboote und Einbäume. Allein das erforderte Mut. Thierry: "Wir haben uns mit Flusswasser gewaschen, Fische aus dem Fluss gegessen — das Leben der anderen geteilt. Das ermöglichte es uns, den Menschen so nah wie möglich zu sein und ihre Lebensbedingungen, ihre Wahrheit zu reflektieren."
Der Film nimmt die Zuschauer mit auf eine Reise von der Mündung bis zur Quelle des Kongo. Das Filmteam begleitet die reisenden Afrikaner auf der 1734 Kilometer befahrbaren Strecke des 4374 Kilometer langen Flusses von Kisangani nach Kinshasa. Dabei verbindet Thierry die Bilder des Schiffsalltags mit der Geschichte des kolonialen Erbes und seiner Spuren. Als Zeugen aus der die Gegenwart prägenden Vergangenheit treten der Forschungsreisende David Livingstone ebenso auf wie die belgischen Könige Leopold und Baudouin. Unvergessen im kollektiven Gedächtnis sind aber auch Patrice Lumumba und der bizarre Diktator Mobutu, dessen Schlossruine im Urwald eine geradezu symbolische Bedeutung für das Schicksal des Landes bekommt.
Thierry zeigt das komplexe Bild einer afrikanischen Gesellschaft, in der archaische Stammestraditionen und der Katholizismus ebenso realitätsmächtig sind wie das unvorstellbare Leid, mit dem Besatzungs- und Bürgerkriege das Land überzogen haben — immer wieder auf der Suche nach Ausbeutung der reichen Bodenschätze, aus denen sich heute auch Kinder ein paar Cents verdienen, indem sie aus Gesteinsbrocken ehemaliger Minen Edelmetallreste heraushämmern.
Der Filmteam zeigt den Alltag der Afrikaner, die auf vier rostigen, von einem Schleppkahn gezogen Eisenbarkassen, ein schwimmendes kleines Dorf bilden, in dem Fracht, Haustiere und Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht existieren müssen.
Die Fahrt auf dem Fluss ist der einzig verbleibende Weg, auf dem die Bewohner des Landes aus den unteren in die oberen Landesteile gelangen können. Straßen und Eisenbahnlinien sind durch Krieg und Plünderungen sowie durch den besitzergreifenden Urwald unpassierbar. Die Reise auf dem Wasser ist lebensgefährlich. Immer wieder laufen Schiffe auf Sandbänke auf. Gefahren- und Tiefenmarkierungen gibt es nicht und die Kapitäne arbeiten mit alten, zerfallenen und selbst korrigierten Karten sowie mit Hilfe von Stangen, bei denen ihre Assistenten die Wassertiefe ermitteln und per Handzeichencode kommunizieren. Kenternde Schiffe führen mitunter zum Ertrinken der halben Besatzung oder halten das Schiff über Monate auf der Sandbank gefangen.
Was diesen Film so wohltuend von der gängigen Afrikaberichterstattung unterscheidet ist die Einstellung des Kameramanns, der die Afrikaner auf Augenhöhe behandelt und den Blick auf den Lebensmut und die Charakterstärke der Menschen richtet, die sich einer Realität stellen, um die sie niemand beneiden kann.
Thierry Michel: "Ich wollte verstehen, wie dieser vergessene Kontinent, der ein totales Desaster und so viele Tragödien erlebt hat — den Sklavenhandel, die koloniale Eroberung, den Unabhängigkeitskampf, Kriege, Diktaturen —, heute beginnt, sich aus dem Scherbenhaufen neu zu formieren. Umso mehr, als dieser Fluss die Basis für diese Neugestaltung und diese Lebensphase sein wird."
Zu Beginn des Films habe ich mich darüber geärgert, dass Leute hinter mir durch das Reißen von Witzen aller Art den Eindruck erweckten sie seien im falschen Film. Nach zehn Minuten war damit Schluss und im ganzen Kino spürte man, das dieser Film auf radikale Weise menschlich ist und gefangen nimmt.

Jochen Gester

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang