SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2007, Seite 12

Das Projekt Klassenanalyse@BRD

Den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen

Zu Zeiten des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg behauptete die bürgerliche Soziologie in der BRD, an die Stelle der Klassengesellschaft sei eine breite Mittelstandsgesellschaft getreten — die Arbeiterklasse gebe es nicht mehr. Linke, die mit der Gewerkschaftsbewegung über Kreuz lagen, griffen diese Behauptung auf ihre Weise auf, indem sie erklärten, die Arbeiterbewegung sei nunmehr vollständig in das kapitalistische System integriert. Die dramatische Polarisierung der Einkommensverhältnisse seit den 90er Jahren hat den Begriffen Kapitalismus und Klassengesellschaft eine neue Akzeptanz verliehen. Müntefering erntete vor zwei Jahren 75% Zustimmung für seine "Kapitalismuskritik" — von einem neu gewonnenen Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse mögen die meisten Linken dennoch nicht reden.
Die Marx-Engels-Stiftung hat im Frühjahr 2003 ein auf mehrere Jahre angelegtes Forschungsprojekt begonnen, das Projekt Klassenanalyse@BRD. Bisher erschienen dazu drei Bände und etwa 40 Artikel. Sie befassen sich mit Fragen wie der "Wiederkehr der Proletarität", Differenzierungen in der Arbeiterklasse, Ursachen für die Ohnmacht der Arbeiterklasse.
EKKEHARD LIEBERAM hat im Rahmen des Projekts gerade eine Schrift mit dem Titel Die Unterschichtendebatte fertiggestellt. Für die SoZ sprach Angela Klein mit ihm.

Welches Anliegen verfolgt ihr mit dieser Arbeit?

Es geht uns um die differenzierte Analyse jener gesellschaftlichen Entwicklung seit den 90er Jahren, die du mit dem Begriff der "Polarisierung der Einkommensverhältnisse" beschrieben hast. Ich würde das als eine andauernde, sehr vielgestaltige Verschärfung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit bezeichnen. Uns interessieren die Erscheinungen und Zusammenhänge, in denen diese Verschärfung des Klassengegensatzes zum Ausdruck kommt, und auch wie die davon Betroffenen darauf politisch reagieren. Dabei ist es natürlich auch notwendig, jene soziale Gruppe genauer zu bestimmen, die in oder an der Seite der herrschenden Klasse von der neoliberalen Politik profitiert. Es gibt Spaltungslinien und neue Segmentierungsprozesse unter denen, die zur Klasse der abhängig Arbeitenden gehören. Es gibt das Phänomen der sozialen Verunsicherung, eben der Prekarisierung aller Lebens- und Beschäftigungsverhältnisse, dabei wächst eine soziale Gruppe am Rand der Gesellschaft heran. Sie wird bekanntlich als Prekariat oder auch als Unterschicht oder Subproletariat bezeichnet.
Zentral ist für uns das Verhältnis von Klassenstrukturierung und Klassenformierung. Wir sind bemüht, die unterschiedlichen Sozialstrukturen innerhalb der arbeitenden Klasse, aber auch ihr Klassenempfinden und Klassendenken aufzudecken und jene Punkte zu bestimmen, wo der Klassenantagonismus in besonders krasser Weise seinen Ausdruck findet. Damit wollen wir dazu beitragen, das Widerstandspotenzial zu bestimmen, aber auch das was die unterschiedlichen Gruppen von abhängig Arbeitenden und sozial Ausgegrenzten eint.

Klassenanalyse braucht einen Klassenbegriff — und sei es als Arbeitshypothese. Wie definierst du Arbeiterklasse?

Unter Arbeiterklasse verstehe ich die unmittelbar Mehrwert produzierende Klasse, d.h. diejenigen, deren Arbeit das Kapital vermehrt: also die Arbeiter und auch viele Angestellte vor allem in den Industriebetrieben. Ganz grob können wir meiner Meinung nach in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft zwei Grundklassen nach ihren Einkommensquellen und ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Produktion unterscheiden: Da sind zum einen die Eigentümer von Kapital, ihr Einkommen ist der Profit. Da sind zum anderen diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft besitzen, die abhängig Arbeitenden in ihrer Gesamtheit, die ich als arbeitende Klasse bezeichne. Ihr Einkommen ist der Arbeitslohn.
Kern der bloßen Eigentümer von Arbeitskraft bzw. der arbeitenden Klasse ist die Arbeiterklasse. Zur Klasse der bloßen Arbeitskrafteigentümer gehört die überwiegende Mehrheit aller abhängig Arbeitenden, so auch die Scheinselbstständigen, auch die sozial Ausgegrenzten gehören dazu. Sie alle haben gemeinsame Interessen gegen das Kapital.
Hinzu kommt eine Mittel- oder Zwischenklasse. Darunter verstehe ich, in Übereinstimmung mit Karl Marx, vor allem die Klasse der industriellen, kommerziellen, wissenschaftlichen, administrativen und politischen Leiter. Sie üben im kapitalistischen Verwertungsprozess und im politischen System Aufsichts- und Verwaltungsfunktionen aus. Ihre Spitzengruppe gehört zur herrschenden Klasse des Kapitals.

Wozu soll die Unterscheidung zwischen Arbeiterklasse und arbeitender Klasse gut sein? Und welchen Nutzen hat es, am Begriff der Arbeiterklasse festzuhalten?
Am Begriff der Arbeiterklasse halte ich deswegen fest, weil es nach wie vor eine Mehrwert produzierende Klasse gibt, die in direkter Konfrontation zum Kapital steht, ihr stehen deshalb besondere machtpolitische Mittel zur Verfügung — z.B. der Generalstreik, der in einem Callcenter ohne rechte Wirkung bliebe. Darin stimme ich übrigens mit Lenin völlig überein, der ja auch zwischen Industriearbeiterklasse und der "ganzen Masse der Werktätigen" unterschieden hat. Die Arbeiterklasse ist nach wie vor die Klasse, die am unmittelbarsten mit dem Kapital konfrontiert ist, im Zentrum des kapitalistischen Wirtschaftssystems steht und so auch über die machtpolitischen Mittel verfügt, die Interessen aller abhängig Arbeitenden nachdrücklich gegen das Kapital zur Geltung zu bringen, gegebenenfalls auch dadurch, das sie "den ganzen Laden" lahmlegt.
Jürgen Kuczynski, der vor etwa 40 Jahren die Größe der Arbeiterklasse nach ähnlichen Kriterien, wie ich sie nannte, berechnet hat, kam damals zu dem Ergebnis, dass zur Arbeiterklasse der Bundesrepublik 42% der Erwerbspersonen gehören. Nach meinen recht groben Berechnungen gehören heute zwischen 25 und 30% dazu. Zur arbeitenden Klasse kann man grob etwa 75-80% der Erwerbstätigen zählen.

Ihr hebt auf den praktischen politischen Nutzen eurer Untersuchungen ab, worin besteht er?

Allgemeine Ratschläge, wie etwa den, dem Klassenkampf von oben endlich auch den entschiedenen Klassenwiderstand von unten entgegenzusetzen, kann man sicherlich auch erteilen, wenn man ohne Detailanalyse die Grundstruktur unserer Klassengesellschaft durchschaut. Allerdings müssen viele auch wieder lernen diese zu durchschauen. Der junge Marx schlug einmal vor, die Verhältnisse dadurch zum Tanzen zu bringen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorspielt. Eine exakte Darstellung unserer tief gespaltenen Gesellschaft mit einer armen Unterschicht und einer immer reicheren Oberschicht, mit Einkommensunterschieden von 1 zu 1000 usw. ist eine solche Melodie.
Für eine taugliche Handlungsorientierung linker Politik ist eine richtige Prognose ganz wichtig. Unsere analytisch begründete Prognose besagt: Ungeachtet aller Spaltungen und Segmentierungen gibt es ein übergreifendes Interesse der arbeitenden Klasse gegen das Kapital. Auf der Tagesordnung steht das Zusammengehen von Ausgebeuteten und Ausgegrenzten. Linke Politik muss dieses gemeinsame Interesse durch ein Programm zum Ausdruck bringen, das zusammenführt — z.B. durch strikte Opposition gegen den Neoliberalismus, Besteuerung der Reichen, Arbeitszeitverkürzung, Arbeitsbeschaffungsprogramme und soziale Grundsicherung. Die derzeitige Hegemonie des Kapitals verbietet jede Kungelei mit den Regierenden. Wir müssen davon ausgehen, dass sich soziale Verunsicherung und soziale Not der arbeitenden Klasse weiter verschärfen, wenn dem nicht durch Gegenmacht und Gegenwehr Einhalt geboten wird. Einen anderen Weg wird es nicht geben.

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