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Zu Zeiten des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg behauptete die
bürgerliche Soziologie in der BRD, an die Stelle der Klassengesellschaft sei eine breite
Mittelstandsgesellschaft getreten die Arbeiterklasse gebe es nicht mehr. Linke, die mit der
Gewerkschaftsbewegung über Kreuz lagen, griffen diese Behauptung auf ihre Weise auf, indem sie
erklärten, die Arbeiterbewegung sei nunmehr vollständig in das kapitalistische System integriert.
Die dramatische Polarisierung der Einkommensverhältnisse seit den 90er Jahren hat den Begriffen
Kapitalismus und Klassengesellschaft eine neue Akzeptanz verliehen. Müntefering erntete vor zwei
Jahren 75% Zustimmung für seine "Kapitalismuskritik" von einem neu gewonnenen
Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse mögen die meisten Linken dennoch nicht reden.
Die Marx-Engels-Stiftung hat im
Frühjahr 2003 ein auf mehrere Jahre angelegtes Forschungsprojekt begonnen, das Projekt
Klassenanalyse@BRD. Bisher erschienen dazu drei Bände und etwa 40 Artikel. Sie befassen sich mit
Fragen wie der "Wiederkehr der Proletarität", Differenzierungen in der Arbeiterklasse,
Ursachen für die Ohnmacht der Arbeiterklasse.
EKKEHARD LIEBERAM hat im Rahmen des
Projekts gerade eine Schrift mit dem Titel Die Unterschichtendebatte fertiggestellt. Für die SoZ
sprach Angela Klein mit ihm.
Welches Anliegen verfolgt ihr mit dieser Arbeit?
Es geht uns um die differenzierte Analyse jener gesellschaftlichen Entwicklung seit den 90er Jahren,
die du mit dem Begriff der "Polarisierung der Einkommensverhältnisse" beschrieben hast. Ich
würde das als eine andauernde, sehr vielgestaltige Verschärfung des Widerspruchs zwischen Kapital
und Arbeit bezeichnen. Uns interessieren die Erscheinungen und Zusammenhänge, in denen diese
Verschärfung des Klassengegensatzes zum Ausdruck kommt, und auch wie die davon Betroffenen darauf
politisch reagieren. Dabei ist es natürlich auch notwendig, jene soziale Gruppe genauer zu bestimmen,
die in oder an der Seite der herrschenden Klasse von der neoliberalen Politik profitiert. Es gibt
Spaltungslinien und neue Segmentierungsprozesse unter denen, die zur Klasse der abhängig Arbeitenden
gehören. Es gibt das Phänomen der sozialen Verunsicherung, eben der Prekarisierung aller Lebens-
und Beschäftigungsverhältnisse, dabei wächst eine soziale Gruppe am Rand der Gesellschaft
heran. Sie wird bekanntlich als Prekariat oder auch als Unterschicht oder Subproletariat bezeichnet.
Zentral ist für uns das
Verhältnis von Klassenstrukturierung und Klassenformierung. Wir sind bemüht, die
unterschiedlichen Sozialstrukturen innerhalb der arbeitenden Klasse, aber auch ihr Klassenempfinden und
Klassendenken aufzudecken und jene Punkte zu bestimmen, wo der Klassenantagonismus in besonders krasser
Weise seinen Ausdruck findet. Damit wollen wir dazu beitragen, das Widerstandspotenzial zu bestimmen, aber
auch das was die unterschiedlichen Gruppen von abhängig Arbeitenden und sozial Ausgegrenzten eint.
Klassenanalyse braucht einen Klassenbegriff und sei es als Arbeitshypothese. Wie definierst
du Arbeiterklasse?
Unter Arbeiterklasse verstehe ich die unmittelbar Mehrwert produzierende Klasse, d.h. diejenigen, deren
Arbeit das Kapital vermehrt: also die Arbeiter und auch viele Angestellte vor allem in den
Industriebetrieben. Ganz grob können wir meiner Meinung nach in der heutigen kapitalistischen
Gesellschaft zwei Grundklassen nach ihren Einkommensquellen und ihrer Rolle in der gesellschaftlichen
Produktion unterscheiden: Da sind zum einen die Eigentümer von Kapital, ihr Einkommen ist der Profit.
Da sind zum anderen diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft besitzen, die abhängig Arbeitenden in ihrer
Gesamtheit, die ich als arbeitende Klasse bezeichne. Ihr Einkommen ist der Arbeitslohn.
Kern der bloßen Eigentümer von
Arbeitskraft bzw. der arbeitenden Klasse ist die Arbeiterklasse. Zur Klasse der bloßen
Arbeitskrafteigentümer gehört die überwiegende Mehrheit aller abhängig Arbeitenden, so
auch die Scheinselbstständigen, auch die sozial Ausgegrenzten gehören dazu. Sie alle haben
gemeinsame Interessen gegen das Kapital.
Hinzu kommt eine Mittel- oder
Zwischenklasse. Darunter verstehe ich, in Übereinstimmung mit Karl Marx, vor allem die Klasse der
industriellen, kommerziellen, wissenschaftlichen, administrativen und politischen Leiter. Sie üben im
kapitalistischen Verwertungsprozess und im politischen System Aufsichts- und Verwaltungsfunktionen aus.
Ihre Spitzengruppe gehört zur herrschenden Klasse des Kapitals.
Wozu soll die Unterscheidung zwischen Arbeiterklasse und arbeitender Klasse gut sein? Und welchen
Nutzen hat es, am Begriff der Arbeiterklasse festzuhalten?
Am Begriff der Arbeiterklasse halte ich
deswegen fest, weil es nach wie vor eine Mehrwert produzierende Klasse gibt, die in direkter Konfrontation
zum Kapital steht, ihr stehen deshalb besondere machtpolitische Mittel zur Verfügung z.B. der
Generalstreik, der in einem Callcenter ohne rechte Wirkung bliebe. Darin stimme ich übrigens mit Lenin
völlig überein, der ja auch zwischen Industriearbeiterklasse und der "ganzen Masse der
Werktätigen" unterschieden hat. Die Arbeiterklasse ist nach wie vor die Klasse, die am
unmittelbarsten mit dem Kapital konfrontiert ist, im Zentrum des kapitalistischen Wirtschaftssystems steht
und so auch über die machtpolitischen Mittel verfügt, die Interessen aller abhängig
Arbeitenden nachdrücklich gegen das Kapital zur Geltung zu bringen, gegebenenfalls auch dadurch, das
sie "den ganzen Laden" lahmlegt.
Jürgen Kuczynski, der vor etwa 40
Jahren die Größe der Arbeiterklasse nach ähnlichen Kriterien, wie ich sie nannte, berechnet
hat, kam damals zu dem Ergebnis, dass zur Arbeiterklasse der Bundesrepublik 42% der Erwerbspersonen
gehören. Nach meinen recht groben Berechnungen gehören heute zwischen 25 und 30% dazu. Zur
arbeitenden Klasse kann man grob etwa 75-80% der Erwerbstätigen zählen.
Ihr hebt auf den praktischen politischen Nutzen eurer Untersuchungen ab, worin besteht er?
Allgemeine Ratschläge, wie etwa den, dem Klassenkampf von oben endlich auch den entschiedenen
Klassenwiderstand von unten entgegenzusetzen, kann man sicherlich auch erteilen, wenn man ohne
Detailanalyse die Grundstruktur unserer Klassengesellschaft durchschaut. Allerdings müssen viele auch
wieder lernen diese zu durchschauen. Der junge Marx schlug einmal vor, die Verhältnisse dadurch zum
Tanzen zu bringen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorspielt. Eine exakte Darstellung unserer tief
gespaltenen Gesellschaft mit einer armen Unterschicht und einer immer reicheren Oberschicht, mit
Einkommensunterschieden von 1 zu 1000 usw. ist eine solche Melodie.
Für eine taugliche
Handlungsorientierung linker Politik ist eine richtige Prognose ganz wichtig. Unsere analytisch
begründete Prognose besagt: Ungeachtet aller Spaltungen und Segmentierungen gibt es ein
übergreifendes Interesse der arbeitenden Klasse gegen das Kapital. Auf der Tagesordnung steht das
Zusammengehen von Ausgebeuteten und Ausgegrenzten. Linke Politik muss dieses gemeinsame Interesse durch ein
Programm zum Ausdruck bringen, das zusammenführt z.B. durch strikte Opposition gegen den
Neoliberalismus, Besteuerung der Reichen, Arbeitszeitverkürzung, Arbeitsbeschaffungsprogramme und
soziale Grundsicherung. Die derzeitige Hegemonie des Kapitals verbietet jede Kungelei mit den Regierenden.
Wir müssen davon ausgehen, dass sich soziale Verunsicherung und soziale Not der arbeitenden Klasse
weiter verschärfen, wenn dem nicht durch Gegenmacht und Gegenwehr Einhalt geboten wird. Einen anderen
Weg wird es nicht geben.
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