SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2007, Seite 14

Marx statt Keynes

Für eine Kritik der effektiven Nachfrage

Seit der Verkündung der Agenda 2010 durch den damaligen Bundeskanzler und SPD-Vorsitzenden Gerhard Schröder im Frühjahr 2003 ist eine Neuformierung der deutschen Linken im Gange. Es gibt aber keine Kritik an der Selbstbeschränkung der deutschen Nachkriegssozialdemokratie und der Gewerkschaften auf Reformen im Rahmen des Kapitalismus. Im Gegenteil. Oskar Lafontaine hat die keynesianische Warnung vor einer gefährlichen Nachfragelücke, die größeren Wohlstand und Beschäftigung verhindere, geradezu zu einem Erkennungszeichen der neuen Linksfraktion im Bundestag gemacht.
Das Argument ist populär. Das Alltagsbewusstsein hält eine "Produktion um der Produktion willen" für widersinnig. Man zitiert gerne Henry Ford: "Autos kaufen keine Autos." Zu geringe Löhne und Gehälter erscheinen als ein Missverständnis, das nur auf die Kurzsichtigkeit und betriebswirtschaftliche Borniertheit der Unternehmer zurückzuführen ist. Tatsächlich sprechen sich die Keynesianer aller Richtungen keinesfalls für unkontrolliertes Wachstum der Arbeitseinkommen aus. Ihre Theorien weisen nicht dem Konsum der Beschäftigten und des Staates, sondern den Investitionen die entscheidende Rolle für die Entwicklung der effektiven Nachfrage zu.
Ihre Frage ist: Was bestimmt die Investitionen? Die traditionelle Antwort von Joan Robinson und Luigi Pasinetti verknüpfte unmittelbar Wachstums- und Profitrate. Bei hohen Investitionen waren auch die Profite hoch, in ihrem Modell waren die Kapitalisten an Stagnation und Wachstum immer selbst schuld, der Konsum war nur eine abhängige Variable. Für die Aufschwungphase des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg war dies ein mehr als plausibler Zusammenhang.
Erst nach den ersten Erfahrungen der langen Akkumulationskrise der 70er Jahre kamen neue Modelle auf, die der Konsumnachfrage eine eigenständige Bedeutung bei langfristiger Auslastung des Kapitals einräumten. Dabei könnten durchaus höhere Löhne langfristig mit höheren Profiten einhergehen, das Alltagsbewusstsein habe Recht. Der Klassenantagonismus der klassischen und marxschen politischen Ökonomie schien wachstumstheoretisch aufgehoben zu sein.
Diese Position — wie sie vielen Beiträgen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans- Böckler-Stiftung zugrunde liegt und von großen Teilen der Memorandum-Gruppe geteilt wird — bezieht ihren politischen Charme daraus, dass sie eine Lösung ökonomischer Widersprüche in der Besserstellung der arbeitenden Klasse sieht. Ein nachhaltiger Erfolg einer kapitalfreundlichen, sog. angebotsorientierten Politik wird aus rein theoretischen Gründen für unmöglich erklärt. Die wirtschaftspolitische Doktrin der neuen Linkspartei lag vor, ehe die Parteigründung geplant war.
Leider reagiert die Neuformierung der deutschen Linken auf eine kapitalistische Entwicklung, die mit diesem harmonischen Bild nicht viel zu tun hat. Vielmehr verflüchtigte sich seit den 80er Jahren selbst der alte Zusammenhang von Profiten und Akkumulation. War die Krise Ende der 70er Jahre noch mit einem Rückgang der Profitrate zu erklären, so ging die Wiederherstellung einer höheren Profitrate nicht mit einer Rückkehr zu mehr Investitionen einher. Ein jüngste Studie von Till van Treeck sieht darin den Einfluss der geänderten Finanzstrukturen: die Shareholder verprassen ihren Value, statt ihn zu investieren. Zuviel, statt zu wenig Konsum lautet damit das vorläufig letzte Wort aus der keynesianischen Richtung zu den Wachstumsschwierigkeiten des Kapitals in den Metropolen.
Marxisten sollten die Schwierigkeiten der keynesianischen Kollegen kennen, müssen sie aber nicht teilen. Vor Jahren bereits hat Anwar Shaikh eine reproduktionstheoretische Synthese der Wachstumstheorie vorgelegt. Er geht nicht von fragwürdigen Annahmen über das Investitionsverhalten der Kapitalisten, sondern von den Bilanzbeziehungen einer Volkswirtschaft aus, von der Veränderung des Produktionspotenzials durch Investitionen in Fixkapital und die Steuerung der Auslastung durch Investitionen in zirkulierendes Kapital. Denn, wie schon die antiken Philosophen wussten: "Keinesfalls können die Götter aus Nichts irgend etwas erschaffen" (Lukrez) — und was die Götter nicht können, funktioniert auch im real existierenden Kapitalismus nicht. Deshalb setzt der Konflikt um den Mehrwert nicht erst bei der Verteilung auf dem Markt ein. Jamee K. Moudud hat weiterführend Shaikhs Ergebnisse in eine Darstellung der Kreditbeziehungen und Zahlungsströme einer modernen kapitalistischen Ökonomie eingebettet.
Was sich nun leisten ließe, ist eine Kritik der effektiven Nachfrage, eine Analyse der ökonomischen Klassenkämpfe. Doch seit fast dreißig Jahren ist keine Arbeit von Anwar Shaikh mehr auf deutsch veröffentlicht worden. Die Marxisten hierzulande haben mit Wirtschaftswissenschaft zumeist nichts am Hut — die Wirtschaftswissenschaftler nichts mit Marxismus. Auch deshalb geht die neue Linkspartei mit Doktrinen an den Start, die den aktuellen gesellschaftlichen Konflikten nicht einmal theoretisch gewachsen sind.

Sebastian Gerhardt

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