SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2007, Seite 18

Europa einigen mit den Methoden von 1871

Mit Hilfe der EU strebt Deutschland nach neuer Weltmachtrolle

Zu Beginn dieses Jahres hat die deutsche Regierung die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernommen, sie führt für sechs Monate die Geschäfte des Staatenbunds. Damit sind besondere Möglichkeiten der Einflussnahme verbunden. Der Ratspräsident sei "Gesicht und Stimme" der EU, heißt es schon seit einiger Zeit mit gewichtigem Unterton in der deutschen Hauptstadt. Bereits im vergangenen Jahr schrieb die Bundesregierung ihrem EU-Vorsitz eine solche Bedeutung zu, dass man sich fragen konnte, ob sie etwa die Union während ihrer Amtszeit gänzlich auf den Kopf stellen wolle. Dem Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso wurde das anmaßende Gerede über eine "besondere Verantwortung" Deutschlands so unangenehm, dass er erklärte, es sei "nicht fair, alle Last auf den Schultern Deutschlands abzuladen"; er rief damit kaum verhüllt in Erinnerung, dass auch andere Staaten die Entwicklung der EU mitgestalten wollen.
Zum zentralen Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft hat die Bundesregierung erklärt, einen Weg zur Verabschiedung der EU-Verfassung zu finden. Der vorliegende Verfassungsentwurf entspricht den Berliner Vorstellungen für die künftige Entwicklung Europas in hohem Maße. Die darin vorgesehene Straffung einer gemeinsamen Außenpolitik würde es ermöglichen, weltpolitische Konzepte, die von der deutschen Strategie abweichen, gerade auch britische Konzepte, zu schwächen und langfristig vielleicht sogar auszuschalten — jedenfalls dann, wenn die deutsche Position innerhalb der EU so dominant bleibt, wie sie es gegenwärtig ist.
Die Planungen zur kontinuierlichen militärischen Aufrüstung in Europa, die im Verfassungsentwurf enthalten sind, entsprechen exakt dem deutschen Vorhaben, mit Hilfe der EU die eigene, noch nicht für ausreichend erachtete Militärmacht zu stärken. Von solchen Gedanken ausgehend, haben Politikberater aus dem Umfeld der Bertelsmann-Stiftung, des wohl einflussreichsten privaten deutschen Thinktanks, vor vier Jahren ein Szenario entwickelt, das eine künftige "Supermacht Europa" beschreibt.
Im Strategiepapier der Stiftung heißt es, Voraussetzung für das Entstehen einer solchen Supermacht sei eine europäische Verfassung, auf deren Grundlage sämtliche zentralen Politikfelder in der Union vergemeinschaftet werden könnten. Damit werde letztlich auch der Aufbau einer europäischen Armee möglich, die unter Brüsseler Oberkommando und damit auch unter deutschem Einfluss über Atomwaffen verfüge — nämlich über das Nuklearpotenzial Frankreichs und Großbritanniens.
Zu den weiteren Perspektiven heißt es im Strategiepapier: "Die Supermacht Europa verabschiedet sich endgültig von der Idee einer Zivilmacht und bedient sich uneingeschränkt der Mittel internationaler Machtpolitik." Das Papier schließt mit der Bemerkung, "das große politische und wirtschaftliche Machtpotential der EU" erlaube "den Vergleich mit den USA".
Für Machtstrategien, die in diese Richtung zielen, ist die EU-Verfassung nützlich. Das erklärt, warum die deutsche Regierung so hartnäckig an dem Verfassungsentwurf festhält, der nach demokratischen Maßstäben als gescheitert gelten muss. "Der Ratifikationsprozess in den Mitgliedstaaten muss weitergehen", forderte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, als die Bevölkerung Frankreichs den Vertragstext Ende Mai 2005 mit deutlicher Mehrheit verworfen hatte. Nach dem zweiten "Nein" wenige Tage später in den Niederlanden äußerten sich Fachleute etwas vorsichtiger. Die einfache Wiederholung eines Referendums könne man sich nur in einem kleineren EU-Staat, etwa in der Tschechischen Republik, leisten, meinte eine Expertin der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung abfällig.
Vom deutschen Ziel, die Verfassung mit ihren wesentlichen politischen Gehalten in der einen oder anderen Form durchzusetzen, wich in Berlin jedoch niemand ab. Die Debatte um den Vertragsentwurf reduzierte sich auf Überlegungen, wie man das Papier gegen klare Bevölkerungsmehrheiten durchsetzen könne.
Die Konzepte, die in Berlin seit dem doppelten Nein vor fast zwei Jahren bis heute diskutiert wurden, enthalten zahlreiche blanke Drohgebärden, vermitteln aber einen Eindruck davon, wie Deutschland reagiert, wenn es in der EU nicht nach seinem Willen geht. Da gibt es den Plan — wieder aus dem Umfeld der Bertelsmann-Stiftung —, den Verfassungsentwurf in Einzelteile zu zerlegen und die Einzelteile in Form von multilateralen Abkommen in Geltung zu setzen, ohne die Bevölkerung dazu zu befragen. Vom Ausschluss derjenigen Länder, die die Verfassung nicht ratifizieren wollen, war ebenso die Rede wie von einer Zwei- Klassen-EU mit eingeschränkten Stimmrechten für Verweigerer im Europäischen Rat und im Europäischen Parlament.
Schließlich wurde erwogen, die EU quasi über Nacht vom Staatenbund in einen Bundesstaat umzuwandeln und ein europaweites Referendum über den Verfassungsentwurf abzuhalten. Auf diese Weise könnte etwa die deutsche Bevölkerung den britischen Widerstand per Abstimmung besiegen.
Die besonderen Vorbehalte in Großbritannien werden von deutschen Regierungsberatern sorgfältig registriert. Im vergangenen Frühjahr kam die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), ein weiterer einflussreicher Thinktank, zu dem Ergebnis, prinzipiell könnten die britischen Widerstände mit einer Medienkampagne ausgeschaltet werden. Zwar orientiere sich die BBC an der "eurofreundlichen Seite", doch könnten Probleme mit den Printmedien entstehen. Die SWP rechnete vor, einer Gesamtauflage von rund 2,75 Millionen bei der europafreundlichen britischen Tagespresse stehe eine Gesamtauflage von rund 8,2 Millionen bei den euroskeptischen Zeitungen in Großbritannien gegenüber.
Mit Blick auf Großbritannien sind wohl auch die Berliner Drohungen formuliert worden, die mit historischen Analogien arbeiten. Nur die EU könne "den Rahmen für dauerhaften Frieden, Freiheit, Wohlstand und auch für Demokratie bilden", ließ der damalige Bundeskanzler Schröder im Sommer 2005 mitteilen. Ohne die weitere europäische Einigung, sollte das heißen, drohen Krieg, Unfreiheit, Armut und Diktatur. Ein SPD-Europaabgeordneter warnte zur selben Zeit vor "Allianzen", wie sie "schon 1914 in den Super-Gau des 20.Jahrhunderts führte[n]" — vor einem neuen Bündnis einigungswilliger Achsenmächte, vielleicht gegen Frankreich, mit Sicherheit gegen Großbritannien.
Ins Zentrum der deutschen EU-Ratspräsidentschaft führt der Gedanke, man könne eine weitere Straffung der EU, vielleicht auch die Verfassung, nur auf dem Umweg über die Außen- und Verteidigungspolitik erzwingen. Die Idee ist keineswegs neu. Schon der Überfall auf Jugoslawien im Jahr 1999 wurde in der deutschen Presse als "europäischer Einigungskrieg" bezeichnet; mit ihm gelang es, trotz vorheriger Widerstände, einen Krieg, den Deutschland führen wollte, gemeinsam zu führen und damit eine Vereinheitlichung der EU-Außenpolitik nach deutschen Vorstellungen auf einem exemplarischen Gebiet, nämlich in der Südosteuropa-Politik, durchzusetzen. Diese Einigungsmethode ist für deutsche Verhältnisse wirklich alt, sie führte bekanntlich bereits 1871 nach drei von Preußen gewonnenen "Einigungskriegen" zur Gründung des Deutschen Reichs.
Auf einer hochrangig besetzten Tagung der Bertelsmann- Stiftung hieß es im vergangenen Frühjahr ganz ähnlich, die EU lasse sich wohl nur weiterentwickeln, wenn man äußere Bedrohungen ins Zentrum der politischen Propaganda rücke. "Energie, Terror, Migration" seien geeignete Themen noch unterhalb der Schwelle des Krieges, um die europäischen Staaten unter tatsächlichem oder angeblichem externen Druck zusammenzuschweißen. "Energie, Terror, Migration" — das sind zentrale Schlagworte der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.
Wie das Zusammenschweißen funktionieren soll, kann man beispielhaft an der Energiepolitik beobachten. Deutschland befindet sich hier in einem langfristig angelegten Klärungsprozess, der sich auf die gesamte Rohstoffwirtschaft bezieht und für die kommenden Jahrzehnte die Versorgung der deutschen Wirtschaft mit den nötigen Ressourcen sicherstellen soll. Mit einem deutschen "Rohstoffkongress" ist der Prozess vor zwei Jahren eingeleitet worden, er wird in diesem Jahr zu konkreten Ergebnissen kommen.
Ausgegliedert wurden die Energieressourcen, die seit einem "Energiegipfel" vom vergangenen Frühjahr gesondert behandelt werden. Hochrangig besetzte Arbeitsgruppen und Konferenzrunden erstellen Konzepte, auf deren Basis die Bundesregierung in Kooperation mit den einschlägigen Unternehmen darauf hinwirken soll, dass Deutschland hinreichend mit preisgünstiger Energie versorgt wird.
Wichtig ist vor allem die Belieferung der Bundesrepublik mit Erdöl und Erdgas aus dem Ausland, daher ist neben dem Bundeswirtschaftsministerium auch das Auswärtige Amt an den Planungen beteiligt. In der zweiten Hälfte dieses Jahres soll eine "energiepolitische Gesamtstrategie" fertig sein, die einschneidende Konsequenzen für die zukünftige deutsche Außenpolitik haben wird. Berlin nutzt dabei die EU für seine nationalen Ziele.
"Die im Zusammenhang mit der Energieversorgung auftretenden Probleme", heißt es in Kreisen der Bertelsmann-Stiftung, werden sich "im Alleingang nicht lösen lassen, so dass eine verstärkte europäische Integration in diesem Bereich erforderlich scheint. Als primärer Handlungsauftrag kristallisiert sich daher die Formulierung einer gemeinsamen, europäischen Energiestrategie heraus."
Diesem Vorhaben stimmten die EU-Staats- und Regierungschefs im März 2006 zu — zu einem Zeitpunkt, als in Berlin die Vorbereitungen für den ersten "Energiegipfel" auf Hochtouren liefen. Die Bundesregierung erarbeitet jetzt als Ratspräsidentin einen "Energie-Aktionsplan", der im März verabschiedet werden soll. Danach dürfte feststehen, welche Erfordernisse der zukünftigen deutschen Energieversorgung von Brüssel bedient werden und was Berlin darüber hinaus selbst in die Hand nehmen muss. Die Ergebnisse liegen somit rechtzeitig vor, um in die nationale deutsche Energiestrategie einfließen zu können.
Vor allem aber bildet die gemeinsame Energiestrategie eine Basis, auf der eine gemeinsame Außenpolitik konkretisiert werden muss. Denn die von Berlin forcierte Energiestrategie erfordert unter anderem eine Option für bestimmte Lieferstaaten, an der sich dann die diplomatischen Aktivitäten auszurichten haben. Damit stellt die Energiestrategie Hebelkraft zur Verfügung, mit der Deutschland abweichende außenpolitische Konzepte schwächen kann.
Vielleicht wird Zentralasien ein Beispiel hierfür. Das Gebiet rund um das Kaspische Meer mit seinen großen Energievorkommen gehört zu den Regionen, denen die Bundesregierung besondere Aufmerksamkeit widmet. Eine neue EU-Zentralasienstrategie ist während der deutschen Ratspräsidentschaft in Arbeit.
Interessengegensätze innerhalb der EU sind erst kürzlich offen zutage getreten, als im November die Verlängerung der Sanktionen gegen Usbekistan auf der Tagesordnung stand. Die Sanktionen waren verhängt worden, nachdem usbekische Sicherheitskräfte im Mai 2005 ein Massaker an Aufständischen verübt hatten. Berlin, das möglichst rasch engere Beziehungen zu den Staaten Zentralasiens etablieren will, hatte von Beginn an auf relativ schwache Sanktionen gedrungen und diese schon bald gebrochen. Deutsche Diplomaten bemühten sich in der zweiten Jahreshälfte 2006 um eine vollständige Aufhebung der Sanktionen und gerieten dabei in Konflikt mit einer ganzen Reihe anderer EU-Mitgliedstaaten, die eine härtere Gangart gegen Taschkent befürworteten. Der Streit betrifft wegen der umfangreichen Energieressourcen Usbekistans auch die EU-Energiestrategie, womöglich gelingt es Berlin im Verlauf der Debatte, ihn zu seinen Gunsten zu entscheiden.
Die Strategie, mit den Schlagworten "Energie, Terror, Migration" die EU-Außenpolitik auf einer deutschen Linie zu vereinheitlichen, könnte hier einen baldigen Erfolg erzielen. Viel wichtiger als Zentralasien ist für die europäische Energieversorgung jedoch Russland. Die EU-Kommission schätzt, dass die EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2030 rund 70% ihres gesamten Erdgasverbrauchs durch Importe decken müssen; heute sind es nur 40%. Während von diesen 40% gegenwärtig rund zwei Fünftel aus Russland geliefert werden, dürften es im Jahr 2030 rund drei Fünftel sein, in fernerer Zukunft sogar vier Fünftel. Russland wird wirklich große Bedeutung für die EU-Energieversorgung haben, und in Deutschland glaubt man: auch für die britische Energieversorgung.
Vor wenigen Wochen schrieb eine einflussreiche deutsche Tageszeitung, Großbritannien werde "schon 2020 gezwungen sein, 90% seines Gasbedarfs zu importieren, Russland dürfte dann auch für London ein wichtiger Partner werden." Läuft alles nach deutschem Plan, dann wird die Energieversorgung Großbritanniens — wie auch die anderer EU-Staaten — in einigen Jahren deutscher Kontrolle unterliegen.
Die enge Zusammenarbeit deutscher Konzerne mit russischen Firmen, die womöglich in 20 Jahren drei Fünftel der europäischen Erdgasimporte liefern werden, ist inzwischen weithin bekannt. Die deutsche Eon AG — der weltweit größte private Energiekonzern, der gegenwärtig versucht, die spanische Endesa zu übernehmen und damit seine globale Dominanz in Europa und Südamerika auszubauen — besitzt über ihre Tochterfirma Ruhrgas Anteile am russischen Monopolisten Gazprom und unterhält mit ihm langfristige Lieferverträge; der Vorstandsvorsitzende von Eon hat als einziger Westeuropäer einen Sitz im Direktorium von Gazprom.
Der deutsche Chemiekonzern BASF hat über seine Tochterfirma Wintershall als erstes ausländisches Unternehmen überhaupt direkten Zugang zu einem bedeutenden sibirischen Erdgaslager bekommen und betreibt gemeinsam mit Gazprom den Gashändler Wingas. Auch deutsche Finanzkonzerne kooperieren mit Russland. Die Dresdner Bank unterhält eine langjährige strategische Partnerschaft mit Gazprom und hat das Unternehmen sowohl bei der Firmenexpansion als auch bei der Entwicklung seiner Geschäftsstrategie beraten. Die Deutsche Bank hat den russischen Energieriesen mit Großkrediten unterstützt.
Die Stärke der deutschen Position lässt sich leicht erkennen, wenn man die Vorgänge um die Ressourcenausbeute auf Sachalin betrachtet. Manche mögen sich daran erinnern, wie der Kreml dort gegen Shell vorgegangen ist und dessen Position geschwächt hat.
Das ist nicht alles. Nicht nur arbeiten deutsche Firmen eng mit russischen Energieunternehmen zusammen, die nach Ansicht Berlins in Zukunft auch Großbritannien umfangreich beliefern werden; Moskau will zudem Deutschland zur Drehscheibe für die Erdgasverteilung in Westeuropa machen. Dadurch werde sich die Bedeutung der Bundesrepublik in der westeuropäischen Energiewirtschaft stark verändern, meinte Staatspräsident Putin, als er im Herbst Dresden besuchte.
Das war eine höfliche Umschreibung für einen umfassenden Machtzuwachs, der sich bereits mit Nord Stream, der sog. Ostsee-Pipeline, angekündigt hat. Nord Stream hat vor allem in Polen für Ärger gesorgt, weil die Gasleitung polnisches Territorium umgeht und damit der Regierung in Warschau eine Einflusskarte im internationalen Machtpoker nimmt. In Polen werden jetzt wieder alte Ängste vor einer deutsch-russischen Umklammerung wach.
Vergleichsweise wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Nord Stream, im Dezember 2000 von der EU in den Status eines Transeuropäischen Netzwerks für Energie (TEN- E) erhoben, auf europäischer Seite nur von deutschen Unternehmen getragen wird, nämlich von BASF und Eon. Da Nord Stream große Bedeutung für die westeuropäische Gasversorgung haben wird, hätte man eigentlich erwartet, dass auch ein Unternehmen aus einem anderen westeuropäischen Staat beteiligt wird, um den nationalen Einfluss etwas zu streuen. Doch das ist nicht der Fall. Der Geschäftsführer von Nord Stream ist ein Deutscher und der ehemalige Bundeskanzler Schröder Vorsitzender des Aktionärsausschusses. Über die Tochterfirma Gazprom Germania will der Konzern die westeuropäischen Märkte von Deutschland aus erobern. Gazprom Germania wird in den kommenden Jahren bis zu 3 Milliarden Euro investieren, unter anderem in den Bau des zweitgrößten britischen Erdgasspeichers Saltfleetby.
Die exklusive deutsch-russische Zusammenarbeit, die andere westeuropäische Unternehmen ausschließt und Deutschland zum Kontrolleur der westeuropäischen Erdgasversorgung machen wird, hat eine Entsprechung in der militärischen Kooperation der beiden Länder. Im Herbst haben Pläne, den deutsch-französischen Rüstungslieferanten EADS enger mit der russischen Luftfahrtindustrie zu verkoppeln, für großes Aufsehen gesorgt. Dabei handelt es sich aber nur um die berühmte Spitze des Eisbergs.
Seit Jahren finden gemeinsame deutsch-russische Militärübungen statt. Bereits im Juni 2004 haben die Verteidigungsminister beider Länder vereinbart, in binationaler Kooperation militärische Geräte und Ausrüstungen zu entwickeln. Im Dezember hat Russland den ersten deutschen Spionagesatelliten ins Weltall befördert.
Wie polnische Analytiker besorgt feststellen, ist die Weltraumkooperation Berlins mit Moskau inzwischen enger als die mit Washington oder Paris. Der Kreml erlaubt sogar, dass russische Flugzeuge auf einem deutschen Flughafen, nämlich in Leipzig, für NATO-Militärtransporte zur Verfügung gestellt werden, obwohl damit internationales Recht gebrochen wird: Völkerrechtler halten ausländische Truppenbewegungen in Leipzig für einen Verstoß gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die Verlegung ausländischer Streitkräfte in das Gebiet der ehemaligen DDR verbietet.
Der vermutete deutsch-russische Bruch des Zwei-plus-Vier- Vertrags, eines internationalen Abkommens über Deutschland, erinnert an eine frühere Phase deutsch-russischer Militärkooperation. Zu Beginn der 20er Jahre begannen Berlin und Moskau eine geheime Zusammenarbeit, die Rüstungsfirmen und Armeen beider Länder einbezog. Für Deutschland ging es darum, die Beschränkungen des Versailler Vertrags zu umgehen. Deutsche Soldaten durften auf sowjetischem Territorium den Einsatz von Giftgas erproben, eine Panzerschule unterhalten und Flugübungen durchführen — alles Dinge, die der Vertrag nicht gestattete.
Historiker urteilen, die deutsche Wehrmacht wäre 1939 ohne die sowjetische Beihilfe wohl noch nicht gänzlich kriegsfähig gewesen. Moskau und Berlin setzten ihre Kooperation genaugenommen sogar bis zum 22.Juni 1941 fort, dem Tag, an dem das Deutsche Reich die Sowjetunion überfiel. Im September 1939 schlossen die beiden Staaten einen Grenz- und Freundschaftsvertrag über die neue gemeinsame Grenze im ausgelöschten Polen. Noch in den ersten beiden Kriegsjahren stellte der Kreml den Hafen Murmansk als Operationsbasis sowohl für Handels- und Passagierschiffe als auch für Kriegsschiffe aus Deutschland zur Verfügung, die sich im Kampf gegen Großbritannien befanden. Ein Kenner der deutsch-russischen Beziehungen urteilte neulich in einem Interview mit German-foreign-policy.com, die gegenwärtige Intensivierung der deutsch-russischen Militärkooperation weise deutliche Parallelen zu den 20er und frühen 30er Jahren auf. Der Unterschied zu damals bestehe vor allem darin, "dass man damals politische Entrüstung verspürte, während das Ganze heute so gut wie von niemandem wahrgenommen wird".
Die Schaukelpolitik zwischen Ost und West, die die deutsch-russische Kooperation der Berliner Regierung in den 20er und frühen 30er Jahren ermöglichte, ermöglicht sie ihr auch heute, und ganz wie damals bringt diese Schaukelpolitik Deutschland einen weiteren Zuwachs an Macht. Dies äußert sich nicht nur in kleinen, aber schmerzhaften Sticheleien gegen die USA, wie man sie kürzlich in der globalen Energiekonkurrenz beobachten konnte. Dabei ging es um das russische Shtokman-Feld, eines der weltweit größten bekannten Erdgasvorkommen.
Ursprünglich hatten Moskau und Washington beabsichtigt, das Gas zu verflüssigen und mit Schiffen in die USA zu transportieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel gelang es bei einem ihrer ersten Treffen mit dem russischen Präsidenten, dessen Regierung zu einem Schwenk zu bewegen. Wie Putin im Herbst bekannt gab, soll das Shtokman-Gas nun teilweise in die Ostsee-Pipeline geleitet werden und geht damit nicht in die USA, sondern nach Deutschland.
Mag der Streit um das Shtokman-Feld noch als Beispiel für gewöhnliche Konkurrenz verbucht werden, so trifft das auf andere Aktivitäten Berlins nicht mehr zu. Die Bemühungen um eine europäische Raumfahrt etwa sprechen eine deutliche Sprache. Man dürfe im All nicht "das Feld den Amerikanern überlassen", forderten deutsche Weltraumexperten kürzlich und verlangten, auf dem Mond müsse "eine Kolonie nicht unter dem US-Sternenbanner, sondern unter der Flagge der Europäer" entstehen. "Wer den Orbit im Griff hat, hat eine Machtstellung", erklärte im November ein führender Fachmann. Wenige Wochen danach wurde — wie erwähnt, mit russischer Hilfe — der erste deutsche Spionagesatellit im Weltall stationiert, weitere werden in Kürze folgen.
Bereits ein Jahr zuvor war der erste Satellit des EU- Navigationssystems Galileo auf seine Erdumlaufbahn gebracht worden. Über Galileo hieß es bereits vor Jahren in einer von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie, das Navigationssystem werde Brüssel wichtige Aufklärungsfähigkeiten verschaffen und damit grundsätzlich die Führung von Kriegen gegen Interessen der USA ermöglichen.
Die scharfe Konkurrenz zu den USA schließt enge Zusammenarbeit auf vielen Feldern keineswegs aus: Es ist ja gerade das Spezifische an der deutschen Schaukelpolitik, dass sie sich nicht auf eine Seite festlegen lässt und mit wechselnden Partnern Spielraum und Einfluss gewinnt. Ein gutes Beispiel für die deutsch-amerikanische Kooperation bietet die Zerschlagung Jugoslawiens, die in diesen Tagen vollendet werden könnte — mit der Abspaltung des Kosovo. Die deutsche Vorreiterrolle bei der Auflösung des Belgrader Staates ist bekannt, sie ist auch bei der Sezession der südserbischen Provinz zu beobachten. Ein deutscher UN-Gouverneur hat Prishtina schon vor Jahren ein eigenes Strafrecht verschafft und ein Freihandelsabkommen mit Albanien oktroyiert. Der gegenwärtige deutsche UN-Gouverneur, zuvor für die kosovarische Wirtschaft zuständig, verkauft die in dem Gebiet ansässigen Staatsunternehmen ans Ausland, übrigens ohne die rechtmäßige Besitzerin, die Regierung in Belgrad, auch nur zu konsultieren. Bei der Vorbereitung der Kosovo-Sezession arbeitet Berlin eng mit Washington zusammen — und hält auf diese Weise den heftigen Widerstand innerhalb der EU nieder.
Abschließend sei noch auf die innere Entwicklung in Deutschland hingewiesen. Der Neonazismus wird hier wieder stärker. Die NPD gewinnt vor allem im Osten der Bundesrepublik an Einfluss, neonazistische Gewalttäter machen ganze Regionen zu "No-go-areas" für Nichtdeutsche und Andersdenkende. Der Neonazismus ist vor allem ein innerdeutsches Problem, er trägt zur inneren Formierung Deutschlands bei und schafft ein Klima, in dem sich auch die Regierung den Griff nach harten innenpolitischen Maßnahmen leicht erlauben kann. Auch nur ansatzweise mehrheitsfähig — und damit eine strategische Bedrohung — sind neonazistische Organisationen auf absehbare Zeit aber wohl nicht. Ihre partiellen Erfolge verweisen jedoch darauf, dass die deutschen Eliten jederzeit die nationale Karte spielen können, wenn es mit dem europäischen Blatt nicht so recht klappt.
Der gegenwärtige Innenminister Schäuble hat das in den 90er Jahren in einem berühmt gewordenen Strategiepapier getan. Darin verlangte er die Erweiterung der EU in Richtung Osten und drohte, im Fall westlicher Widerstände "könnte Deutschland aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen". Schäubles Papier wurde am 1.September 1994 veröffentlicht — dem 55.Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen. Ähnliche Drohungen waren vor eineinhalb Jahren aus der SPD zu hören. Der nationale Alleingang ist nach wie vor die Peitsche, mit der Berlin die europäischen Staaten auf seine EU-Linie zwingt.
In einer weltweiten deutschen Hegemonialpolitik mit Hilfe der EU lauern echte Gefahren auch für die Menschen in Deutschland. Es gibt deutliche Anzeichen, dass eine zunehmende innere Formierung für künftige europaweite und globale Machtkämpfe im Gange ist. Die deutsche Ratspräsidentschaft bildet auch hierfür ein gutes Beispiel. Bundeskanzlerin Merkel hat im Dezember die Opposition zu Geschlossenheit in Angelegenheiten des EU-Vorsitzes aufgerufen, Vizekanzler Müntefering hat verlangt, die Bevölkerung müsse "eine ähnliche Begeisterung" zeigen "wie zur Fußball-WM". Mit Hintergrundgesprächen und Massenveranstaltungen bemüht sich die Bundesregierung, Widerstände gegen die deutsche EU-Politik auszuschalten. Es gibt einen "Europa-Dialog mit der Zivilgesellschaft", Schulprojekttage, eine "Deutsche Bürgerkonferenz" — alles zu dem Zweck, die Menschen auf die Berliner Europapläne einzuschwören.
Ähnliche Unternehmungen sind aus früheren Phasen der deutschen Geschichte bekannt, sie dienten jeweils dazu, die deutsche Expansion in Europa und der Welt vorzubereiten und zu begleiten. Welche Folgen das im vergangenen Jahrhundert zweimal hatte, auch für die deutsche Bevölkerung, das wissen wir alle. Wer eine erneute Wiederholung verhindern will, muss vor den sich immer stärker durchsetzenden hegemonialen Tendenzen in Deutschland warnen.

Horst Teubert

Der Autor ist Mitglied der Redaktion von German Foreign Policy und betreut dort die Informationen zur deutschen Außenpolitik. Beim vorstehenden Beitrag handelt es sich um eine Rede, die Horst Teubert am 29.Januar 2007 in London im Portcullis House hielt. Die vollständige Fassung der hier gekürzten Version ist nachzulesen unter www.german-foreign-policy.com.





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