SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2007, Seite 20

Revolutionäre Reformen

Mohssen Massarrat: Kapitalismus, Machtungleichheit, Nachhaltigkeit. Perspektiven Revolutionärer Reformen, Hamburg (VSA) 2006, 309 S., 18,80 Euro

Mohssen Massarrat, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac und gelegentlich auch Interviewpartner dieser Zeitung, hat sich in seinem neuesten Buch eine Reihe ausgesprochen anspruchsvoller wissenschaftlicher und politischer Aufgaben gestellt.
Das Buch gliedert sich in zwei große Teile. Der erste Teil widmet sich der Beschreibung und Analyse des weltpolitischen Istzustands, insbesondere des US-amerikanischen Hegemonialsystems, sowie der laut Massarrat unzureichenden theoretischen Aufarbeitung dieses Zustands durch die Linke. Diese habe sich in eine analytische und argumentative Sackgasse begeben. Diese "Kapitalismusfalle" sei im Grunde zurückzuführen auf eine ökonomistische Verengung kapitalismus- und imperialismuskritischer Analysen (Massarrat nennt hier Mandel, Callinicos und Harvey), bei der letztlich alle (welt-)politischen Konflikte als Folge von Kapitalverwertungsmechanismen und Klassenkonflikten gefasst würden. Als einziger Ausweg werde entsprechend die unmittelbare sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft postuliert. Damit habe die Linke eine unglaublich hohe Hürde aufgebaut, was letztlich in eine Selbstblockade führen müsse.
Wie kann diese Selbstblockade überwunden werden? Auf theoretischer Ebene versucht Massarrat dies, indem er der ökonomischen Kritik eine Theorie der Macht hinzufügt, die es dann konkret politisch erlaubt, "Systembrüche zu identifizieren und mobilisierungsfähige Reformprojekte zu konzipieren". Träger dieser Projekte sollte eine "Allianz für Frieden, ökologischen Ausgleich und Gerechtigkeit" sein, die zwar gegen die gegenwärtige neoliberale Welt- und Kriegsordnung, aber nicht per se antikapitalistisch sein müsse.
Im zweiten Teil seines Buchs versucht Massarrat, konkrete Alternativen zu Neoliberalismus und Kapitalismus in Form von "revolutionären Reformen" herauszuarbeiten. Die theoretische Grundlage einer solchen Strategie bildet ein "Fünf-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit" (ökologische, ökonomische, soziale Nachhaltigkeit, ergänzt um eine politisch-institutionelle und eine kulturelle Dimension), Deglobalisierung, Selbstorganisation und eine neue Ethik der Nachhaltigkeit.
An fünf Projekten zeigt Massarrat exemplarisch auf, wie solche "revolutionären Reformen" seiner Ansicht nach konkret umgesetzt werden könnten: Verkürzung der Arbeitszeit und Grundeinkommen als Form der Deglobalisierung in den kapitalistischen Zentren; ein "globaler Klima-New Deal", in dem bestimmte Staaten zu Vorreitern bei einer neuen Weltklimaordnung werden; eine "Demokratisierung der Demokratie" mit einer stärkeren Beteiligung von NGOs im nationalen Rahmen; der Aufbau einer UN-Behörde zur Krisenprävention unter Beteiligung von NGOs auf internationaler Ebene; und schließlich die Schaffung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten.
Unter dem Stichwort "De- Hegemonialisierung" skizziert Massarrat abschließend Schritte zum Übergang zu einer neuen Weltordnung. In diesem Szenario spielt Europa eine entscheidende Rolle. Es bedürfe "der aktiven Rolle von Europa als Zivilmacht und einer weltweiten Allianz mit Multilateralisten aller Staaten, USA eingeschlossen, um den Weg einer multilateralen Weltordnung beschreiten zu können", schreibt Massarrat.
Allerdings: War es nicht gerade der Entwurf für eine europäische Verfassung, der Neoliberalismus und Aufrüstung gesetzlich festschreiben wollte? Wie weit kann und darf man von der realen Politik Europas abstrahieren? Ist schließlich Multilateralismus ein Wert an sich? So ist die Besetzung Afghanistans zur Zeit durchaus eine recht multilaterale Angelegenheit. Dennoch ist sie — hier würde Massarrat ohne Zweifel zustimmen — nicht weniger abzulehnen.

Harald Etzbach

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