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Er war kein gern gesehener Gast der Sonderberichterstatter Vernor Múņoz, der vor einem Jahr im
Auftrag des neu eingerichteten Menschenrechtsrats der UNO zehn Tage lang deutsche Schulen besuchte. Nun liegt der Bericht vor und der Teil
über Deutschland hat schon im Vorfeld für viel Aufregung gesorgt und ist ein einziger Tadel.
Es hat die Gemüter der Verantwortlichen in Deutschland sehr erregt,
dass da ein Rechtsprofessor aus dem fernen Costa Rica angereist kommt und das deutsche Bildungssystem harsch kritisiert.
Auf das deutsche Schulsystem aufmerksam geworden war er durch die PISA-
Studien. Seine Auswahl der zu untersuchenden Länder die Mitglieder der Kommission haben da freie Hand fiel auf
Großbritannien, Botswana, Malaysia, Marokko und Deutschland. Ihm ging der Ruf voraus, er sei ein Verfechter des gemeinsamen Lernens.
Das klang nicht gut in den Ohren der Kultusminister. Mit Hochmut reagierten sie auf die beschämende Kritik am gegliederten Schulsystem
und wiesen sie scharf zurück. Sie behaupteten frech, Herr Múņoz habe das "komplexe deutsche Schulsystem nicht
verstanden", nachdem die Versuche der Einflussnahme nicht erfolgreich waren. Es zeigte sich, dass er ein unbeirrbarer kritischer
Beobachter war, der die Schwächen im deutschen Schulsystem schnell erkannte.
Sein Besuch wurde von den deutschen Behörden minutiös
geplant, und doch gelang es ihm, den üblichen Ablauf zu durchbrechen. So bestand er darauf, mit den Schülern allein zu sprechen,
damit diese sich offen und ehrlich äußern konnten. Manchmal unterbrach er auch einen allzu routinierten Vortrag mit unbequemen
Fragen, bspw. in einer Berliner Schule mit der Frage nach dem Anteil von Lehrern mit Migrationshintergrund und nach der Anzahl von Lern- und
Körperbehinderten in den Integrationsklassen. In Potsdam erkundigte er sich während des Besuchs einer Kindertagesstätte
nach der nächsten Schule und landete ganz ungeplant in einem heruntergekommenen Plattenbau, wohin ihn die deutschen Behörden
freiwillig niemals begleitet hätten, denn dort warteten keine vorbereiteten Reden auf ihn.
In Köln besuchte er die Roma-Schule "Amaro Kher", ein
Projekt des Rom e.V., wo in einem von der Stadt zur Verfügung gestellten heruntergekommenen Gelände Flüchtlingskinder von
"Geduldeten" aus dem ehemaligen Jugoslawien auf den Besuch in einer Regelschule vorbereitet werden. Erstaunlich fand er, dass
dieses Projekt nur deshalb vom Land mitfinanziert wird, um der Kriminalität vorzubeugen und nicht, weil es der Bildungsgerechtigkeit dient.
Bis 2005 waren diese Kinder noch von der Schulpflicht ausgenommen. Kein Wunder, dass sich die nordrhein-westfälischen Landesminister
nicht blicken ließen, denn dann hätten sie sich anhören müssen, dass es der UNO-Beauftragte unerträglich findet,
wie hierzulande mit Flüchtlingskindern umgegangen wird.
Ende März dieses Jahres legte er seine allgemeinen Ausführungen
zum Menschenrecht auf Bildung dem UN-Rat in Genf vor. Der Bericht über Deutschland war nicht mehr als eine Anlage und hat doch
für viel Zündstoff gesorgt. Und das waren seine wesentlichen Kritikpunkte:
Der Föderalismus in der Bildungspolitik gewährt Kindern
keine einheitlichen Bildungschancen, weil die Bildungsausgaben der einzelnen Bundesländer erheblich variieren (von 3800 bis 6300 Euro
pro Jahr) und die Lehrpläne nicht aufeinander abgestimmt sind.
Viel zu früh werden die Zehnjährigen auf die einzelnen
Schulformen aufgeteilt ein Sortieren in Begabte und Nichtbegabte, in Schnelle und Langsame, das sich entgegen allen Beteuerungen
später kaum noch korrigieren lässt.
Kinder mit Migrationshintergrund werden "bildungspolitisch
bewusst ungleich behandelt", das Drei-Klassen-Schulsystem wirkt gegenüber Kindern aus unteren sozialen Schichten ausgrenzend.
Ebenso das Sonderschulwesen; es trennt vor allem und sondert ab und
nutzt kaum die Chancen zur Integration.
Flüchtlingskindern wird hierzulande Gleichgültigkeit
entgegengebracht; in einigen Bundesländern (wie in Baden-Württemberg, Hessen und Saarland) unterliegen sie nicht einmal der
Schulpflicht.
Die Vorschulerziehung ist einseitig, weil streng formal auf die
Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten im Deutschen ausgerichtet; dabei gerät das "Spielen als pädagogisches Mittel und
Grundrecht" aus dem Blickfeld.
Auf die pädagogischen Herausforderungen, so Múņoz, reagiere
man in Deutschland damit, dass Kinder und Jugendliche "weitergereicht" würden. Sie werden vor allem nach unten
weitergereicht, in dieser Beziehung ist das deutsche Schulsystem "durchlässig".
Trotzig wird das dreigliedrige Schulsystem jedoch verteidigt. Der
Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK), Jürgen Zöllner (SPD), meint es biete "genügend
Durchlässigkeit." Aber auch wenn sich die KMK noch so sehr gegen eine Strukturdebatte wehrt, das Ende der Hauptschule ist nur
noch eine Frage der Zeit und der Run auf die Gesamtschulen zeigt deutlich, dass unser Drei-Klassen-Schulsystem längst ausgedient hat.
Zum Abschluss fordert Múņoz Deutschland auf, sein mehrgliedriges
Schulsystem "noch einmal zu überdenken" und eine nationale Debatte über die derzeitigen Bildungsstrukturen einzuleiten.
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