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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2007, Seite 14

Das iranische Atomprogramm

Recht auf ein Drohpotenzial

Souveränität unter den Bedingungen der neuen Weltordnung

von Marcus Hawel

Im Westen herrscht großes Misstrauen gegenüber dem iranischen Atomprogramm. Möglicherweise dient es auch dem Zweck, Atombomben zu bauen. Das Misstrauen wäre nicht so groß, würde der iranische Staatspräsident Ahmadinejad nicht gleichzeitig auch eine antisemitische Rhetorik an den Tag legen. Im Kern geht es jedoch darum, dass der Iran eine Politik betreibt, die den Interessen des Westens fundamental zuwiderläuft.
Nach einem Satz von Carl Schmitt ist Souverän, wer über den Ausnahmezustand verfügt. Wendet man diesen Satz auf die heutige Zeit an, kommt man zu dem Ergebnis, dass in der postbipolaren Weltordnung nur noch ganz wenige Staaten souverän sind. Der globale Krieg gegen den Terrorismus, insbesondere der Angriff auf den Irak, hat gezeigt, was Staaten, die auf der Liste der potenziell Anzugreifenden stehen, benötigen, um einen solchen Angriff zu verhindern: eine Atombombe.
Während des Kalten Krieges galt die Verfügungsgewalt über Atombomben als das entscheidende Merkmal für Souveränität. Bei einem Kräftegleichgewicht zwischen West und Ost besaß die Atombombe mehr den Charakter einer politischen als einer militärischen Waffe. Sie diente zur Abschreckung, ihre Existenz sollte garantieren, dass sie nicht eingesetzt würde, sofern militärische Parität bestand.
Zwar schloss das Gleichgewicht nicht aus, dass jede Atommacht weiterhin nach militärischer Überlegenheit strebte. Das gehörte jedoch ebenso zur Glaubwürdigkeit und damit zur immanenten Logik der Abschreckung wie die mehr oder weniger glaubhaft vorgetragene kaltblütige Einsatzbereitschaft. "In dem Augenblick jedoch, in dem man das militärische Potenzial lediglich auf seinen Abschreckungseffekt reduzierte, akzeptierte man zumindest verbal das Gewaltverbotsprinzip und gestand grundsätzlich zu, dass militärisches Potenzial auf Verteidigung, d.h. hier auf Vergeltung eines vorausgegangenen Angriffs beschränkt bleiben müsse. Eine Militärstrategie des Blitzkrieges, d.h. also des überraschenden Erstschlages, konnte damit offen nicht propagiert werden" (Gerhard Stuby).
Mit der Auflösung der bipolaren Weltordnung verlor die atomare Abschreckung zunächst an Bedeutung. Die USA machten als einzig verbliebene Supermacht ihr ius ad bellum (Recht auf Krieg) zunehmend als ein exklusives Recht geltend; sie müssen keine ernsthaften Gegenschläge befürchten, weil ihnen keine militärische Macht gewachsen ist.

Zurück zur alten Logik?

Für Staaten, die von der imperialen Strategie der USA und zunehmend auch der EU bedroht werden, gilt die Abschreckung nach wie vor als ein Verteidigungsszenario, sofern sie über Atombomben verfügen — wie etwa Pakistan oder vermutlich Nordkorea. Sie können sich damit diplomatische Beziehungen zu den USA, der EU usw. erzwingen, und können nicht, wie der Irak, "einfach" angegriffen werden.
Aus der Perspektive des Iran wäre das Streben nach einer Atombombe mithin durchaus rational. Ob es auch vernünftig ist, ist eine andere Frage. Der Präsident des Iran kann nach einem Mittel suchen, mit dem er verhindert, dass sich der Westen, insbesondere die USA, immer wieder und auch mit Waffengewalt in seine staatlichen Angelegenheiten und die der gesamten Golfregion einmischen, um die reichhaltigen Erdölressourcen unter Kontrolle zu bekommen. Wenn der Iran dieses Mittel in einem Atomprogramm findet, durch das er zur zweiten regionalen Großmacht aufsteigt, dann sind diejenigen dafür verantwortlich, die im letzten Jahrzehnt völkerrechtswidrige Angriffskriege geführt haben.
Steigen der Iran und gegebenenfalls auch andere Ölstaaten zu Atommächten auf, werden sie militärisch weniger angreifbar. Das verschafft ihnen bei den Verhandlungen um Öl- und Gaslieferungen an den Westen, China und andere von diesen Ressourcen abhängige Mächte eine komfortable Position. Die Preise für Rohöl und Gas würden umso stärker steigen, je mehr die Opec zum Monopol wird und auch durch militärische Gewalt davon nicht abgebracht werden kann — davon würden auch Russland und Venezuela profitieren, weshalb sie zum Iran eine andere Position einnehmen als die USA.
Die immer knapper werdende Ressource könnte auf dem Weltmarkt zu stetig steigenden Preisen verkauft werden. Auf anderen Wegen als dem Handel wäre dies nicht mehr zu durchkreuzen. Da zu befürchten ist, dass sich um die Zuteilung von natürlichen Rohstoffen wie Öl und Gas, aber auch Wasser ein gefährlicher Konflikt zwischen den Weltmächte entzündet und Weltkrieg daraus werden könnte, muss die Frage gestellt werden: Was passiert, wenn einzelne OPEC-Staaten zu Atommächten aufsteigen?
Ein Ressourcenkrieg ist schon längst im Gange. Saudi-Arabien war bislang das entscheidende Ölförderland. Durch eine Änderung seiner Fördermenge — und durch die OPEC — konnte es den Ölpreis maßgeblich beeinflussen. Ab 1990 gelangte der Irak ins Fadenkreuz der USA, weil die Kapazitäten der Saudis dauerhaft nicht ausreichen. Ihren Einfluss auf den Iran haben die Amerikaner seit 1979 verloren.

Krieg gegen den Iran?

Es gibt Anzeichen dafür, dass ein Krieg gegen den Iran in absehbarer Zeit bevorsteht. Der Druck auf ihn wird kontinuierlich erhöht. Alles erinnert an den Vorkrieg gegen den Irak. Die zeitweilige Gefangennahme britischer Marinesoldaten durch den Iran oder auch seine Androhung, gegebenenfalls den Atomwaffensperrvertrag aufzukündigen, sollte der Westen militärisch gegen den Iran vorgehen, zeigt wie dieser Konflikt eskalieren kann.
Wieviel davon im Augenblick nur Drohgebärde ist, die dem Zweck dient, Druck für eine diplomatische Lösung aufzubauen, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Offensichtlich ist der Wille zum Krieg auf Seiten der USA vorhanden. Das Vermögen könnte im Augenblick fehlen. Der amerikanische Präsident George W. Bush hat in der westlichen Welt, vor allem aber in der US-amerikanischen Bevölkerung zuviel Glaubwürdigkeit verspielt. Diese stellt sich mehrheitlich gegen den Präsidenten und fordert einen Truppenabzug aus dem Irak — und zwar endgültig, nicht damit dieselben Truppen anschließend in den Iran einfallen. Fehlende Legitimation war für die USA bisher allerdings kein ausreichender Grund, einen Krieg zu unterlassen, wie das Beispiel Vietnam gezeigt hat.
Weder die EU noch Japan oder China, am wenigsten das selbst Ressourcen liefernde Russland sind im Augenblick willens zu einem solchen Waffengang. Alle profitieren sie vom Antiamerikanismus in der Golfregion und sind an Geschäften interessiert, solange man eben noch Geschäfte machen kann. Dass sich das auf der bilateralen politischen Ebene zuweilen immer deutlich anders anhört, deutet lediglich darauf hin, dass in der Politik in den seltensten Fällen ein einziges Motiv die Richtung des politischen Handelns anleitet; und die Zurückhaltung wird in Zustimmung und Unterstützung umschlagen, wenn ein Angriff auf den Iran erst einmal beschlossene Sache ist.
Der Iran folgt einer Logik, von der er nur um den Preis des Verlusts der Kontrolle ablassen kann, weil diese Logik von den USA und der EU in Gang gesetzt wurden, als sie die völkerrechtswidrigen Kriege in Jugoslawien, Afghanistan und gegen den Irak führten: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt, in diesem Fall in der Golfregion.
Selbst die rein zivile Nutzung der Atomenergie folgt derselben Logik: Im Bewusstsein der Endlichkeit der eigenen Ressourcen geht es dem Iran nach seinen eigenen Worten darum, in der Energiegewinnung langfristig nicht vom Westen abhängig zu werden. Auch diese Argumentation ist rational, und sie wäre insofern auch legitim, als sich die westlichen Staaten, aber auch China, Indien ua. dieses Recht ebenfalls herausnehmen. Für den Westen wie auch für den Iran und andere Erdöl- oder Gaslieferanten gilt jedoch: Die einzige vernünftige Lösung wäre die, sich mittels regenerativer Energiegewinnung mittelfristig von den fossilen Trägern unabhängig zu machen. Alles andere steuert langfristig auf einen Weltkrieg zu.

Die Existenz Israels

Bedroht ein iranisches Atomprogramm die Existenz Israels? Zweifellos ist der iranische Präsident Ahmadinejad ein Antisemit und Islamist, und er steht der Tradition von Khomeinis revolutionären Garden näher als dem autoritären Typus eines säkularen Herrschers à la Hussein oder Milosevic. Zugleich aber dürfte ihm ein Realitätssinn nicht abzusprechen sein. So wie früher die Behauptung von Hans Magnus Enzensberger nicht zutraf, der Saddam Hussein als "Wiedergänger Hitlers" dämonisierte, so lässt sich heute nicht behaupten, Ahmadinejad würde die Konsequenzen eines atomaren Angriffs auf Israel ignorieren, oder diese seien ihm gleichgültig.
Würde der Iran eine Atombombenrakete auf Tel Aviv feuern, hätte er nicht nur mit einem gleichrangigen Vergeltungsschlag auf Teheran zu rechnen, auch Palästina, Jordanien, Syrien und andere arabische Nachbarstaaten würden von der atomaren Zerstörung betroffen — ganz zu schweigen von Ost-Jerusalem, das eine der wichtigsten heiligen Stätten des Islam beherbergt. Man kann sich gut vorstellen, welchen Hass der Iran in der islamischen und arabischen Welt auf sich ziehen würde.
Doch ein nihilistischer Vernichtungswille, der den eigenen Untergang und den der iranischen Bevölkerung einkalkuliert und einen hunderttausendfachen Mord an Juden, Arabern und Muslimen in Kauf nimmt, ist bei der iranischen Führung nicht zu erkennen. Ahmadinejad ist kein Psychopath, der nicht wüsste, dass eine Atombombe die Funktion einer politischen Waffe erfüllt.
Die Verfügungsgewalt über die Atombombe ist für Staaten ein Drohpotenzial, deren Durchschlagskraft in der rhetorischen Glaubhaftmachung ihrer Einsatzbereitschaft besteht. Trotzdem ist es vernünftig, die weitere Verbreitung von Atomwaffen auf diplomatischem Wege zu verhindern und die vorhandenen zu zerstören. Dafür einen Krieg anzuzetteln, ist jedoch keine Lösung. Ein Krieg gegen den Iran hätte ähnliche Folgen wie im Irak und würde die Golfregion verheerend destabilisieren.
Will man den Iran zu einem Verzicht auf die Bombe bewegen, muss man ihm ein Abrüstungsprogramm anbieten, das alle umliegenden Staaten und auch Israel und die USA einschließt. Das Völkerrecht muss von allen Seiten strikt eingehalten werden. Ist der Westen zu einem solchen Angebot nicht bereit, muss man auch dem Iran ein Programm zur eigenständigen Urananreicherung zugestehen, zumal er den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet hat.
Für die amerikanische und die europäische Linke gibt es eine klare Aufgabe: die militärische Beweglichkeit des Westens durch subversive Aktionen einzuschränken. Eine weltweit wahrnehmbare Antikriegsopposition hätte mittelbar auch Wirkung auf die breite Bevölkerung im arabischen Raum und könnte perspektivisch ein positiver Bezugspunkt werden. Wir müssen auch eine Opposition im Iran unterstützen; diese erhielte allerdings nur dann eine größere Beweglichkeit, wenn die Mehrheit der iranischen Bevölkerung nicht durch eine Aggression des Westens an die Seite ihrer politischen Führung gedrängt wird.

Marcus Hawel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Leibniz-Universität Hannover und Mitherausgeber von sopos.org.



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