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Weder Feier- noch Proteststimmung wollte aufkommen, als anlässlich des EU-Gipfels im März der
50.Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge begangen wurde. Auf der einen Seite wurden die offiziellen Bekenntnisse
zur europäischen Integration routiniert aber ohne Verve vorgetragen; auf der anderen Seite wurde Protest durch kritische Publizistik ersetzt.
Seitdem Gemeinschaftswährung und Binnenmarkt zum Alltag gehören, die Europäische Verfassung gescheitert und eine
gemeinsame Außenpolitik tagtäglich durch Querschläger aus den Hauptstädten der EU-Staaten ad absurdum
geführt wird, haben Europaideen erheblich an visionärer Kraft verloren. Sie wecken kaum noch sozial- oder neoliberale Hoffnungen,
lösen aber auch weniger Ängste aus, seit der Krieg gegen den Terror die neoliberale Globalisierung als Thema Nr.1 abgelöst
hat.
Allerdings hat die EU ohnedies so ziemlich alles durchgesetzt, was sich
neoliberale Marktmacher erträumen: Sie hat gewählten Regierungen fiskalische Zügel angelegt, ihren Spielraum, soziale und
ökologische Standards zu setzen, beschnitten und sie beauftragt, nationale Sozialsysteme zurecht zu stutzen. Sofern sich der Tageskampf
um Arbeits-, Einkommens- und Lebensbedingungen in den Betrieben und auf der Ebene nationalstaatlicher Politik abspielt die von der EU
allerdings massiv vorstrukturiert wird , ist es durchaus nachvollziehbar, offizielle EU-Gipfel nicht durch Proteste sozialer Bewegungen
aufzuwerten, sondern soziale und politische Kämpfe an den Heimatfronten der EU-Mitgliedstaaten zu führen.
Allerdings sollten linke Aktivisten das Thema EU nicht völlig aus den
Augen verlieren. Nicht nur, weil viele EU-Staaten, in allerdings wenig abgestimmter Form, eine immer aggressivere Außen- und Kriegspolitik
betreiben, sondern auch weil die europäische Wirtschaft erhebliche Ungleichgewichte und Spannungen aufweist, die insbesondere durch
unterschiedliche Konjunkturverläufe in West- und Osteuropa bestimmt werden. Diese Spannungen könnten, wenn sie in einer Krise
offen aufbrechen, die ohnedies bestehenden außenpolitischen Differenzen noch erheblich zuspitzen.
Angesichts der jüngsten Wirtschaftsentwicklung in der EU mögen
solche Warnungen wenig zeitgemäß erscheinen. Jahrelang hinkten ihre Wachstumsraten hinter denen der USA her, doch im
vergangenen Jahr konnte Europa in Bezug auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und das Produktivitätswachstum aufholen. An der
Wachstumsfront ganz vorn stehen die osteuropäischen Neumitglieder, die mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten den Abstand
zu Westeuropa im Pro-Kopf-Einkommen verringern. Im Gegensatz zu den USA ist die Leistungsbilanz der EU nahezu ausgeglichen, ihre
öffentliche Neuverschuldung niedriger. Kurz und gut: Die Standortbedingungen in der EU sind günstig.
Folgerichtig haben der Euro und die europäischen Börsen
gegenüber der amerikanischen Konkurrenz kräftig zugelegt. Zwar hat die Arbeiterklasse in Europa nicht von dieser Entwicklung
profitiert, aber dies ist aus Sicht internationaler Investoren natürlich erst recht ein Pluspunkt. So bescheiden sind die Lohnabhängigen
geworden, dass der Chef der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, sich vor kurzem öffentlich über die soziale
Ungleichheit sorgen konnte ohne fürchten zu müssen, mit derartigen Statements Öl ins Feuer gewerkschaftlicher Kämpfe
zu gießen.
Wo sind also die wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die soziale und
außenpolitische Spannungen in der EU zuspitzen könnten?
Das überdurchschnittliche Wachstum in Osteuropa könnte zu einer Angleichung der Einkommensverhältnisse innerhalb der
EU führen. Tatsächlich geht es erst einmal mit einer zunehmenden sozialen Polarisierung innerhalb der osteuropäischen
Länder einher. Der Zufluss ausländischen Kapitals, mit dem der Import von Investitionsgütern finanziert wird, sowie die
Konsumgüterimporte einer aufstrebenden Mittelklasse verursachen zudem teilweise erhebliche Leistungsbilanzdefizite. Infolge des
Investitions- und Konsumgüterbooms sind hier zudem die Inflationsraten höher als in den meisten westeuropäischen
Ländern.
Wirtschaftsboom, Leistungsbilanzdefizite und Inflation sind der Stoff, aus dem
Finanzkrisen gemacht sind. Es bedarf wenig Fantasie, sich die wirtschaftspolitischen Rezepte vorzustellen, welche die EU-Institutionen im
Krisenfall verschreiben werden. Spannend dürfte dagegen sein, wie osteuropäische Regierungschefs, die fest in die EU eingebunden
sind, vors eigene Volk treten und euroliberale Strukturanpassungsmaßnahmen verkaufen werden. Die Begeisterung dafür wird sich in
Grenzen halten.
Der Spielraum für weitere Privatisierung, Sozialabbau und
Steuersenkungen ist zudem beschränkt, weil solche Maßnahmen bereits im Vorfeld der EU-Mitgliedschaft verlangt wurden. Vor
diesem Hintergrund werden auch die mitunter schrillen Töne verständlich, die gegenwärtig öfters aus Warschau und Prag
zu hören sind. In unsympathisch nationalistischer Form bringen sie das reale Problem der neokolonialen Eingliederung Osteuropas in die
EU zum Ausdruck.
Weil nationale Selbstbestimmung nach Jahrzehnten unfreiwilliger
Mitgliedschaft im Sowjetimperium einen hohen Stellenwert in Osteuropa besitzt und gleichzeitig die Erinnerung an das soziale Sicherungsniveau
des ungeliebten Staatssozialismus noch wach ist, können Finanz- und Wirtschaftskrisen nicht nur zu scharfen Konflikten innerhalb einzelner
Länder führen, sondern die EU insgesamt destabilisieren.
In gewissem Umfang sind Leistungsbilanzdefizite und beschleunigte Inflation Begleiterscheinungen nachholender Wachstumsprozesse.
Innerhalb der EU gewinnen sie jedoch besondere Brisanz, weil Deutschland als wirtschaftliches Schwergewicht seit der Konjunkturkrise 2001 eine
extreme Politik der Lohnstückkostensenkung und Inflationsunterdrückung betrieben hat, um den eigenen Export zu fördern.
Infolgedessen sind Arbeitsplätze verloren gegangen; der Mangel an Inlandsnachfrage wird durch Exportüberschüsse
ausgeglichen, die ganz Europa belasten, insbesondere aber in Osteuropa die ohnehin bestehenden außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte
verschärfen.
Inlandskonsum und -investitionen nehmen derzeit zwar im Verhältnis zur
Exportnachfrage leicht zu, und erstmals seit Jahren können tariflich geschützte Beschäftigte leichte Reallohnzuwächse
statt Minusrunden erwarten. Allerdings gehört zum bundesrepublikanischen Konjunkturmuster auch, dass eine Krise naht, sobald sich die
Arbeiterklasse ihren Anteil am Aufschwung erkämpft.
Die internationalistische Diplomatie, in deren Gewand Osteuropas
Märkte für das westeuropäische Kapital geöffnet wurden, wird im Krisenfall durch Beschimpfung der Gewerkschaften und
wilden Nationalismus ersetzt werden. Erstere untergraben, so wird die deutsche Bourgeoisie verkünden, die Produktivkraft des Standorts
Deutschland; die (ost-)europäischen Nachbarn hingegen könnten sich weigern, deutsche Produktionsüberschüsse
abzunehmen.
Der wirren Ideologie liegt freilich ein reales Problem zugrunde. Nicht zuletzt
unter deutschem Einfluss ist eine neoliberale EU entstanden, die ihren osteuropäischen Mitgliedern im Falle einer Finanzkrise die
Zwangsjacke anlegen und damit auch deren Nachfrage nach Waren Made in Germany einschränken wird. Diesen Widerspruch der
Arbeiterklasse in Deutschland zu erklären wird für die Bourgeoisie ebenso schwierig wie die Durchsetzung einer weiteren Dosis
Neoliberalismus in Osteuropa. Es wäre gut, wenn sich Gewerkschafter und linke Aktivisten aus West- und Osteuropa schon vor der
nächsten Krise über eine angemessene Antwort auf den Nationalismus von oben verständigen könnten.
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