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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2007, Seite 18

Neoliberale Herrschaft als Trauma

Wie der Mensch dazu gebracht wird, dass er seine Ausgrenzung aus der Gesellschaft als eigenes Versagen verinnerlicht

von Reinhold Bianchi

Millionen sind bei uns von Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau und Hartz IV betroffen — sie leiden unter den destruktiven Wirkungen der neoliberal globalisierten Ökonomie und Politik. Sie werden nicht nur in schwere reale Not gestürzt, sie werden auch in der Tiefe ihrer Persönlichkeit und Identität bedroht und verletzt. Um dies angemessen zu begreifen, können auch psychodynamisch-psychoanalytische Instrumente und Perspektiven Wichtiges beitragen — nicht zuletzt auch zu der Frage, welche psychischen Blockaden einer stärkeren Verbreiterung des Widerstandes entgegenwirken.
Die Strömung der Intersubjektiven oder Relationalen Psychoanalyse, die im letzten Jahrzehnt auch in Deutschland an Verbreitung gewonnen hat, kann hierzu wichtige Beiträge leisten. Sie geht von einem Verständnis des Menschen als Beziehungswesen aus und bemüht sich, diese Bezogenheit des Menschen in seinen psychischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen angemessen zu begreifen. Ausgangspunkt der Intersubjektiven Psychoanalyse ist nicht mehr ein isoliertes Triebwesen wie in der klassischen Psychoanalyse, sondern ein in seiner inneren Entwicklung durch seine Beziehungserfahrungen geprägtes Kind. Von dem bedeutenden englischen Psychoanalytiker Winnicott stammt der geniale Satz "There is no such thing as a baby" — d.h. so etwas wie ein isoliertes Baby gibt es nicht, das Baby ist nur zu verstehen als Teil seiner primären Beziehungswelt.
Den Beziehungspersonen der psychischen Frühzeit kommt eine grundlegende psychische Funktion zu, sie tragen konstitutiv zur Strukturbildung des Selbst bei, und ihr Versagen führt zur Fragmentierung des Selbst durch die Beschädigung seiner Kohärenz. Die früheste intersubjektive Situation des Säuglings ist durch seine umfassende Abhängigkeit bestimmt — so wie er vom Saugen abhängig ist, so versucht er auch psychisch Erlebnisse von Frustration und Abweisung durch die frühesten Beziehungspersonen durch Einsaugen, durch Verinnerlichung zu verarbeiten. Vor allem der schottische Psychoanalytiker Fairbairn hat herausgearbeitet, wie sehr das werdende Selbst gerade die aggressiven und ängstigenden Anteile der Beziehungspersonen einsaugt: Spontan orientiert sich das Kind darauf, die überlebenswichtige Realbeziehung zu den frühen Beziehungspersonen zu sichern, die es unbedingt als gut zu erleben bestrebt ist. Dadurch erhält die Innenwelt jedoch eine bedrohliche Schicht, in der sich frühe Ängste und Schuldgefühle lagern; die übermächtigen Beziehungspersonen werden pathologisch idealisiert. Erst später und abhängig vom Ausmaß der frühen Belastung, entwickelt das Kind, etwa mit dem Zahnwachstum, die Fähigkeit sich zu wehren, quasi "zurück zu beißen".

Individuelle und soziale Beziehungen

Im frühesten Beziehungserleben werden damit die Grundlagen für die Bindung an bedrohliche und frustrierende Beziehungspersonen gelegt; dies erklärt die in späteren traumatischen Erfahrungen rätselvoll erscheinende emotionale Bindung von Opfern an die Täter. Intersubjektive Kontexte sind auch im Leben des erwachsenen Individuums psychisch bedeutsam. Zur Herausbildung einer reifen Identitätsstruktur bleiben wir auf konstruktive innere und äußere Grundbeziehungen angewiesen, die nun auch größere Einheiten umfassen: Schule, Beruf und Arbeitsplatz, die eigene Familie, Freunde und Kollegen, auch soziale und politische Institutionen. Dementsprechend kommt konstruktiven sozioökonomischen Strukturen eine wichtige Grundfunktion für die Sicherung eines ausreichend guten Selbstwert- und Identitätsgefüges zu. Wie wichtig diese ist, wird in seiner Gänze erst deutlich, wenn sie durch eine destruktive Mutation der sozialstrukturellen Verhältnisse beschädigt wird.
Die Konzepte der Relationalen Psychoanalyse geben uns damit auch einen unseres kritischen Maßstab an die Hand. Von der Notwendigkeit einer guten frühen intersubjektiven Erfahrungswelt des Kindes für dessen persönliche Entwicklung führt eine Grundlinie zur Notwendigkeit einer psychisch konstruktiven Gestaltung sozioökonomischer Großstrukturen für alle Gesellschaftsmitglieder. Die Großstrukturen müssen sich an den zentralen Lebensbedürfnissen und -rechten der Menschen orientieren — vor allem am Recht auf Verwurzelung, auf soziale Sicherheit, auf Arbeit und Bildung, auf demokratische Mitbestimmung — sie bieten damit die Grundlage für eine autonome Existenzgestaltung und Lebensplanung.

Das Trauma Arbeitslosigkeit

Mit der sozialstaatlichen Bändigung des Nachkriegskapitalismus erkämpften sich die Menschen wichtige Ansätze für psychosozial stabilisierende sozioökonomische Großstrukturen: Vollbeschäftigung, steigender Lebensstandard und die Errichtung von Strukturen, die dem Solidarprinzip und dem sozialen Ausgleich verpflichtet waren, entsprachen einer sozialen Verallgemeinerung des Sich-Kümmern um andere — dies ist auch das Reifungsprinzip der intersubjektiven Psychoanalyse.
Die Wende zum Neoliberalismus bedeutet eine krasse Veränderung hin zu einem psychodestruktiven ökonomischen und politischen Regime. Die sozialstaatliche Einbindung des Kapitalismus wird immer radikaler als Hemmnis für die ungehinderte Entfaltung der Herrschaft der Aktionäre begriffen, d.h. für die Orientierung am kurzfristigen Renditeziel und am Anstieg des Börsenkurses. Durch beschleunigte Rationalisierungsprozesse kommt es zu einer Entkoppelung von ökonomischem Erfolg und Beschäftigung, zum Wachstum ohne Arbeitsplätze. Massenarbeitslosigkeit wird nicht nur in Kauf genommen, sondern im Zuge permanenter Kostensenkungsstrategien durch Arbeitsplatzvernichtung sogar gefördert. Die Massenarbeitslosigkeit stellt die zentrale Traumatisierung durch den Neoliberalismus dar.
Die Arbeitslosigkeit als individuelle Traumatisierung führt zu desaströsen psychischen Belastungen und Schädigungen, die von Auflehnung und ohnmächtiger Wut zu depressiver Verzweiflung, Erschöpfung und zum Gefühl der Wertlosigkeit führen. Die verinnerlichten negativen Erfahrungen der psychischen Frühphase, in der das werdende Selbst sich noch nicht abgrenzen und wehren kann, werden im hilflosen Erleben der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der Erwerbstätigen reaktiviert. Nicht umsonst ist eines der am schwersten zu ertragenden Gefühle der Arbeitslosen das, überflüssig zu sein, nicht mehr gebraucht zu werden und daran selber schuld zu sein.
Das individuelle Trauma der Arbeitslosigkeit wird durch die neoliberalen Eliten zu einem sozialen Trauma gesteigert, vor allem vermittels der Ideologie der "freiwilligen Arbeitslosigkeit"; nach der neoliberalen Lehre kann es keine Arbeitslosigkeit geben, wenn man den Markt nur seiner Selbstregulation überlässt. Für die im Überfluss vorhandene Ware Arbeitskraft stellt sich der marktgerechte Preis automatisch her — und wenn er unter dem Existenzniveau liegt, haben ihre Besitzer eben Pech gehabt. Arbeitslosigkeit ist damit definitionsgemäß immer nur Folge eines zu hohen Preises der Ware Arbeitskraft und damit immer freiwillig. Die Ideologie der freiwilligen Arbeitslosigkeit ist ein Schlag ins Gesicht aller Opfer systematischer Arbeitsplatzvernichtung. Sie stellt eine Grundfigur traumatisierender Täter-Opfer-Verkehrung und Opferbeschuldigung dar. Sie bietet damit eine Legitimation ideologischer und sozialer Gewalt gegen die Opfer, die wahnhafte Züge trägt; zugleich stellt sie einen Anschlag auf deren moralische Persönlichkeit dar, der die Opfer entmenschlicht dehumanisiert.
Die verallgemeinerte Erfahrung der Bedrohung des Arbeitsplatzes, der im Kapitalismus ja Grundlage von sozialer Sicherheit und Einbindung ist, sowie die offene und latente Diskreditierung der Arbeitslosen als "Faulenzer" durch Regierungen (von Kohl bis Schröder, Clement und den Hartz-IV-Kontrollen) und Medien strahlt massiv in die Gesamtgesellschaft, in die Masse der Arbeitnehmer hinein und verbreitet in der Bevölkerung eine Stimmung von Einschüchterung, Disziplinierung, Verunsicherung und Angst. Auf die Verunsicherung der Arbeitsverhältnisse folgt die der Lebensverhältnisse (Prekarisierung), die Möglichkeiten für eine verlässliche Lebensplanung brechen weg. Die soziale Verwurzelungs- und Bindungsfähigkeit wird schleichend untergraben.

Die Rolle der Medien

Möglich wird die Durchsetzung des neoliberalen Programms in dieser massiven und bisher relativ widerstandslosen Weise erst durch die kognitive und affektive Formierung des Massenbewusstseins durch die Medien, die im Neoliberalismus eine überragende Macht gewonnen haben. Das ist ein Prozess, der massiv Züge eines Desorientierungstraumas trägt. Ein Desorientierungstrauma besteht im Kern in der Verwirrung der kognitiven Kategorien und affektiven Wertungen des Opfers, d.h. darin dem Opfer das Trauma-Geschehen als positiv, notwendig darzustellen und den Täter zu rechtfertigen. Das Opfer wird damit in seiner Bemühung um Verständnis der Situation verwirrt, es wird in seiner Bindung an den Täter bestärkt und seine Motivation zu Selbstbehauptung und Gegenwehr unterminiert.
Die Medien können die Menschen im Sinne eines solchen Desorientierungstraumas beeinflussen, weil sie von der Bevölkerung als eine Vertrauensinstanz erlebt werden, als ihr Anwalt gegen staatliche und wirtschaftliche Machtinteressen. Sie bekleiden die hochrelevante Position eines gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Bewertungsorgans, das der Bevölkerung in der modernen Gesellschaft verlässliche Orientierung vermitteln soll. Der Rolle der Medien als Anwalt der Bevölkerung entspricht der Psychotraumatologie die hochbedeutsame Rolle des Zeugen oder Anwalts des Opfers. Viele Traumata werden in ihrer Wirkung dadurch verstärkt, dass niemand als Zeuge der Traumatisierung des Opfers durch den Täter vorhanden ist.
Die neoliberale Desorientierung stützt sich im Wesentlichen auf die flächendeckende Propaganda vom "Sachzwang". Politik und Medien bilden hierbei eine monolithische Einheit, der die das dem neoliberalen Meinungskartell im Wirtschafts- und Sozialteil der Medien entspringt. Das neoliberale "Einheitsdenken" (I.Ramonet) will nicht mehr überzeugen, es wirkt durch die schiere Übermacht der täglich wiederholten Dogmen, es wirkt als massive Einschüchterung und Demonstration einer magischen Macht.
Die neoliberalen Besitz- und Machteliten sind gnadenlose Sozialzerstörer. Wie alle nicht am Wohl der Menschen, sondern nur an Besitz- und Machtsteigerung interessierten Herrschaftseliten werden sie getrieben durch einen krankhaft entgrenzten Narzissmus, der mit Selbstvergötzung und der Abwertung aller anderen Menschen einhergeht. Die neoliberalen Eliten betreiben mit der Verabsolutierung der Gewinnmaximierung und ihrer "erbarmungslosen Amoralität" (J.Robinson) eine rücksichtslose Dehumanisierung der Arbeitenden, indem sie auf einen zu senkenden "Kostenfaktor" reduziert werden. Letztlich verabschieden sie sich aus der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft als Ganzer. Aber mit der Dehumanisierung ihrer Opfer dehumanisieren sie sich auch selbst, berauben sich wirklicher menschlicher Anerkennung. Die immer stärkere Selbstghettoisierung der Reichen in vielen Ländern ist Ausdruck ihrer sozialen und psychischen Isolation und ihrer Angst vor den Anderen.
Im Gegensatz zum neoliberalen Programm der Spaltung sozialer und psychischer Lebensganzheit verlangt die Perspektive sozialer und psychischer Heilung die Herstellung lebendiger Beziehungsganzheiten von Psyche und Gesellschaft, um so die psychischen und sozialen Spaltungsfolgen zu überwinden. Grundprinzip ist die Solidarität; diese reicht von der psychischen Entwicklung eines solidarischen Selbst, das in empathischer "Gattungsmentalität" alle Menschen als gleichwertige Wesen mit gleicher Würde zu erleben vermag, über die Praxis solidarischer sozialer Bewegungen als Träger solidarischen Widerstands gegen Ausgrenzung, Opferbeschuldigung und Desorientierung bis hin zur Vision einer solidarischen postkapitalistischen Gesellschaft.

Reinhold Bianchi ist Diplom-Psychologe in Freiburg i.Br. Er ist Mitverfasser von R.Bianchi/U.Duchrow/R.Krüger/ V.Petracca, Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus. Wege zu ihrer Überwindung, Hamburg (VSA) 2006, 510 S., 19,80 Euro.



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