SoZ - Sozialistische Zeitung |
Die Sozialreportage fristet in dieser Gesellschaft ein überaus trauriges Dasein. Die Arbeitswelt, die hinter
den Werktoren nie Demokratie und Offenheit zuließ, hat sich abgeschottet. Was in der heutigen Zeit bleibt, sind Betroffenheitsberichte aus
jener kapitalistischen Welt, die ein Leben mit 345 Euro spendiert. Nur will diese Berichte niemand lesen, geschweige denn veröffentlichen.
Günter Wallraff und seine Reportagen sind längst vergessen. Erinnert sich noch jemand, wie die Arbeitsbedingungen bei Melitta
waren oder wie in Bild Meinung zur Lüge und Lüge zur Meinung umgeschrieben wurde? Die Realität, die geboten wird, betrifft
Vorgänge wie die bei Siemens, wo man sich nicht nur käufliche Betriebräte, sondern auch gleich eine dazu passende
Gewerkschaft leistet das sind die neuen Großtaten deutscher Ingenieurskunst!
Die Zukunft bietet der Mehrheit Armut und einer Minderheit Macht dank der
von ihr erfolgreich betriebenen Entsolidarisierung samt Zerstörung aller sozialsolidarischen Netze. Die Humanisierung der Arbeitswelt ist
Vergangenheit, der 1-Euro-Job braucht keinen Unfallschutz. Der gesellschaftliche Konsens geht den Bach runter. Da gäbe es zu berichten,
aber unterwegs sind die Schönfärberinnen und Schönfärber. Sie erzählen das Märchen vom
Leistungmusssichlohnenleben.
Es ist eine verlegerische Großtat des Picus Verlags in Wien, einen
Sammelband mit Sozialreportagen von Max Winter neu aufzulegen. 1870 in Tárnok bei Budapest geboren, übersiedelte er mit seiner
Familie drei Jahre später nach Wien. Seine Eltern lebten in gutbürgerlichem Milieu. Er selbst verließ nach vier Jahren das
Gymnasium und absolvierte eine Kaufmannslehre. Mit zwanzig Jahren begann Max Winter seine journalistische Laufbahn. Viktor Adler holte den
jungen Mann im Jahre 1895 zur Arbeiter-Zeitung, dem Parteiorgan der österreichischen Sozialdemokratie. Max Winter hat in dieser Zeitung
bis zu ihrem Verbot durch die Austrofaschisten im Jahre 1934 mehr als 1500 Reportagen geschrieben. Es dürfte interessant sein, dass er im
Auftrag der SPÖ im Jahre 1923 eine Frauenzeitschrift gestalten sollte. Die Unzufriedene, eigentlich im Jahre 1923 nur als Wahlkampfzeitung
gedacht, war so erfolgreich, dass an eine Einstellung nicht zu denken war. Im Jahre 1930 übergab Max Winter die Chefredaktion an Paula
Hons, da betrug die Auflage 160000 Exemplare. Max Winter hat mit Gründung der Wiener Groschenbüchel auch dafür gesorgt,
dass den Armen Zugang zu guter Literatur (zum Beispiel Gottfried Keller) ermöglicht wurde.
In dem Textsammelband Expeditionen ins dunkelste Wien, herausgegeben
von Hannes Haas, bietet Max Winter den Blick auf Leben und Arbeitswelt, die es vor hundert Jahren gab.
Alfred Polgar, Beiträger der Weltbühne, schrieb: "Es ist mir
eine wahrhafte Freude, über Herrn Max Winters Strottgänge berichten zu dürfen. Endlich hat er den guten Einfall
gehabt, seine Studien über die Elendswinkel Wiens (in der Arbeiter-Zeitung von Fall zu Fall erschienen) in ein Buch zu versammeln. Der
Journalist hat sich sozusagen zum Schriftsteller summiert. Aus Journalbeiträgen ist ein Buch geworden, und der Kritiker darf der Sympathie
und Wertschätzung Ausdruck geben, die er als Zeitungsleser bei der Lektüre dieser Studien empfunden hat."
Winter bot in seinen Arbeiten jene Sachlichkeit, die notwendig war und ist,
wenn es um Leben und Arbeit der Menschen geht. Seine Erfahrungen und Beobachtungen sind auch heute, nach hundert Jahren, in ruhiger,
trockener und einfacher Art erzählt, ein Beitrag zur Geschichte der Arbeitswelt. Polgar weiter: "So ist es ein erfrischend unliterarisches
Buch geworden. Ein packendes und aufrevoltierendes Buch. Ein Buch, in dem der Gestank der Tatsachen durch keinen Tropfen literarischen
Parfums ästhetisch verfälscht ist."
Auch damals waren die von Winter gewählten Themen nicht die der
"großen" Zeit. Wer aber die Reportagen mit dem vergleicht, was heute manchem "Edelschreiber" als Reportage aus
der Feder fließt, der merkt, wie sehr diese aktuelle Medienlandschaft aus Leserin und Leser einen Tanzbären machte, der am
Nasenring angeleint, die kapitalistische Welt so vorgeführt bekommen, wie sie es braucht, damit es klappt, wenn Siemens neben einer
eigenen Gewerkschaft sich auch die dazugehörigen bestechbaren Betriebsräte leistet. Das sichert den Betriebsfrieden, der notwendig
ist, damit man den Profit fein maximiert!
Max Winter war ein Aufdecker, wohl der erste, der Partei für jene ergriff,
die sonst keine Möglichkeit hatten sich zu wehren. Er sollte Vorbild sein für jene, die heute immer seltener werden. Wann gab es denn
"Nachrichten aus der Arbeitswelt", die uns erschütterten? Kennen wir noch, nach dieser Welle der Propagierung einer
"Humanisierung der Arbeitswelt" mit der sich vor allem die IG Metall aus der Verantwortung zog, noch Arbeiten wie die von
Günter Wallraff, die notwendig wären, um wenigstens einen kleinen Teil jener Brutalität zu beschreiben, der heute
bedrückt, ob nun Beschäftigte oder schon "Aussortierte"?
Es ist bedauerlich, dass dieses Buch auf keiner Bestsellerliste erwähnt
und wohl auch von jenen nicht "besprochen" wird, die im Fernsehen im Plauderton der Literatur den Strick flechten, an dem sie
ersticken wird.
Wer Max Winters "Vier Stunden im unterirdischen Wien" gelesen
hat und die anderen Arbeiten dieses Sammelbands, der muss erkennen, dass diese schöne neue Arbeitswelt und Gesellschaft eine alte ist.
Sie muss abgeschafft werden!
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