SoZ - Sozialistische Zeitung |
Mit der
zunehmenden Verarmung insbesondere von Kindern geht auch der "stumme Zwang" einher, sie von der
Schule wegzunehmen und arbeiten zu schicken, damit sie zum Unterhalt der Familie beitragen. Häufig
genug werden sie als Lohndrücker gegen die Erwachsenen eingesetzt. Diese reagieren darauf mit
Entsetzen und fordern vielfach das Verbot der Kinderarbeit. Kinder sehen dies anders.
Seit nunmehr dreißig Jahren entstehen
in den Ländern des globalen Südens soziale Bewegungen arbeitender Kinder, die inzwischen sogar
weltweit vernetzt sind. Auf ihrem jüngsten interkontinentalen Treffen, das im Oktober 2006 in Siena,
Italien, stattfand (www.pronats.de), forderten sie zum wiederholten Mal das Recht, in Würde zu
arbeiten. Da diese Forderung, die sich gegen Verbote und Bevormundungen richtet, oft missverstanden wird,
soll sie hier erläutert werden.
Eines der wichtigsten Credos der Bewegungen arbeitender Kinder besteht darin, dass es nicht die Arbeit
ist, die ihnen zu schaffen macht, sondern die Bedingungen, unter denen sie diese vielfach verrichten
müssten. Sie wissen, dass sie in einer weniger von Armut und dem "Diktat des Geldes"
geprägten Situation mehr Möglichkeiten hätten, sich eine Arbeit auszusuchen, die ihnen
gefällt und ihnen was bringt. Doch kaum ein arbeitendes Kind will sich zurückversetzen lassen in
ein Kindheitsreservat, in dem es nichts zählt und auf Gedeih und Verderb den Erwachsenen ausgeliefert
ist. Und kaum ein arbeitendes Kind hält es für hilfreich, den Kindern die Arbeit zu verbieten.
Wenn schon Gesetze, dann erwarten diese Kinder, dass sie ihnen ebenso wie den Erwachsenen das Recht
einräumen zu arbeiten und dafür sorgen, dass sie bei ihrer Arbeit besser geschützt werden
und mehr zu sagen haben.
Auch in Deutschland und anderen
Ländern Europas arbeiten heute wieder viele Kinder. Ihre Arbeit zeigt große Unterschiede zur
Arbeit von Kindern in den Ländern des Südens auf. Sie wird in der Regel nicht um des
Überlebens willen ausgeübt, und sie gefährdet und belastet die Kinder bei weitem nicht so
stark. Doch über die Unterschiede hinweg fällt auf, dass das Denken der Kinder über ihre
Arbeit viele Ähnlichkeiten aufweist. Es fällt auf, dass die wenigsten Kinder ihre Arbeit als
aufgezwungen oder unangenehm erleben, sondern eher als eine Gelegenheit, etwas Ernsthaftes und
Nützliches zu machen, auf das sie stolz sein können: stolz, eigenes Geld zu verdienen, über
das sie selbst verfügen können, stolz, auf eigenen Füßen zu stehen und etwas zu lernen,
das sie gebrauchen können.
Wenn arbeitende Kinder des Südens
für sich ausdrücklich das Recht zu arbeiten einfordern, betonen sie meist, dass es ihnen um eine
"Arbeit in Würde" oder eine "Arbeit ohne Ausbeutung" geht. Sie tun dies nicht, um
Bedenken der Erwachsenen zu zerstreuen oder das in nahezu allen Ländern der Welt bestehende Verbot der
Kinderarbeit zu umgehen, sondern weil sie in der Arbeit eine Möglichkeit sehen, interessante und
neuartige Erfahrungen zu machen und auf ihre Weise die Welt zu entdecken und mitzugestalten. Auch wenn in
diesem Zusammenhang gelegentlich davon die Rede ist, dass die Arbeit ihnen als Kindern gesellschaftliche
Anerkennung verschaffe, wird die Arbeit nicht als Voraussetzung, sondern als Bestandteil und Ausdruck ihrer
neuen, gleichberechtigten Stellung und Rolle verstanden.
Die Rede von der "Arbeit in
Würde" enthält eine andere Vision sowohl von Gesellschaft als auch von Kindheit. Sie kann
als integraler Bestandteil einer "Solidarischen Ökonomie" verstanden werden, die das auf
Gewinnmaximierung fixierte kapitalistische Wirtschaftssystem allmählich ersetzt und neue soziale
Beziehungen zwischen gleichberechtigten Subjekten impliziert.
Unter Sozialwissenschaftlern besteht heute weitgehend Einigkeit, dass ein generelles Verbot der
Kinderarbeit bzw. die Festlegung eines Mindestalters für den Arbeitsbeginn eher Nachteile als Vorteile
für die Kinder mit sich bringt. Dies gilt auch für Boykottmaßnahmen im internationalen
Handel gegen Produkte, "in denen illegale Kinderarbeit steckt". Gegen Mindestaltersregelungen,
wie sie heute in den meisten nationalen Kinderschutzgesetzen fixiert sind und von der Internationalen
Arbeitsorganisation (ILO) gefordert werden, wird eingewandt, dass sie die Kinder nicht in der erwarteten
Weise vor Risiken bei der Arbeit schützen, sehr wohl aber häufig unerwartete Effekte haben, die
die Risiken für die betroffenen Kinder erhöhen und sie noch verletzlicher machen.
Der pauschale Ausschluss von Kindern aus
der Arbeit berücksichtigt nicht die spezifischen Lebensumstände der Kinder und ihrer Familien und
kann dort, wo das Arbeitseinkommen der Kinder für das Überleben unverzichtbar ist, die Familien
in noch größere Not stürzen. Weder berührt es die Gründe, die Kinder veranlassen
zu arbeiten, noch respektiert es deren Willen, ihrer Familie beizustehen. Er versetzt die Kinder, die
weiter einer Arbeit nachgehen, in eine Situation der Illegalität und macht sie noch rechtloser und
wehrloser.
Ein pauschales Verbot der Kinderarbeit
lässt es nicht zu, die Arbeitsverhältnisse der Kinder differenziert zu betrachten und die
Möglichkeiten einer Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen auszuloten. Es erschwert auch die immer
wieder unternommenen Versuche, den Kindern Bildungsmöglichkeiten zu bieten, ohne sie zu zwingen, ihren
Arbeitsverdienst aufzugeben, oder neue Arbeitsgelegenheiten für Kinder zu schaffen, die nicht auf
Ausbeutung beruhen und sich mit dem Erwerb lebenswichtiger Kompetenzen verbinden lassen. Den
Mindestaltersregelungen liegt ein schematisches Verständnis des Verhältnisses von Arbeit und
Kindheit zugrunde, das sich Arbeit nur ohne Kinder und Kinder nur ohne Arbeit vorstellen kann bis an
einer magisch wirkenden Altersgrenze plötzlich alles umgekehrt sein soll.
Kinder bis zu einem bestimmten Alter von
der Arbeitswelt fernzuhalten wird zudem immer mehr zur Fiktion. Viele Kinder betrachten die Arbeit heute
nicht nur als ein Mittel zum Lebensunterhalt, sondern auch als Gelegenheit, mehr Selbstständigkeit zu
erlangen und neue Erfahrungen zu machen, die z.B. in der Schule nicht möglich sind. Kinder von solchen
Erfahrungen fernzuhalten, nur weil sie ein bestimmtes Alter noch nicht erreicht haben, zwingt sie in ein
infantiles Ghetto und hindert sie daran, sich in die "Welt der Erwachsenen" einzumischen.
Interessanterweise häufen sich heute in vielen Gesellschaften die Bestrebungen, bereits Kindern
"wirtschaftliche Erfahrungen" zu vermitteln, aber es wird peinlich vermieden, in diesem
Zusammenhang von "Kinderarbeit" zu sprechen. Mitunter werden auf diese Weise unter der Hand
von pädagogischen Argumente verdeckt die Kinder sogar instrumentalisiert und neuen
Formen von Ausbeutung unterworfen.
Gegen die Aufhebung des Kinderarbeitsverbots wird gelegentlich eingewandt, dass damit die Kinder des
staatlichen Schutzes beraubt würden und ihrem Missbrauch und ihrer Ausbeutung Tür und Tor
geöffnet werde. Dies sei gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, der Prekarisierung der Arbeit und
wachsender Armut der Fall und erhöhe die Gefahr, dass die "billige Arbeitskraft" der Kinder
die "teure" der Erwachsenen ersetze oder dass die Kinder für den Lebensunterhalt der
Familien verantwortlich und zu Lückenbüßern für den neoliberalen Abbau des Sozialstaats
gemacht würden. Mitunter wird auch befürchtet, dass verantwortungslose Eltern sich nun skrupellos
ihrer Kinder bedienen könnten.
Es sei nicht bestritten, dass sich mit der
wachsenden Armut und dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen auch die Lebensrisiken für Kinder
erhöhen. Aber das Verbot der Kinderarbeit ist ein untaugliches Mittel, um die Kinder vor solchen
Risiken zu schützen, weil es weder der Armut entgegenwirkt noch den Sozialstaat
"zurückbringt". In keiner Region der Welt hat das Verbot der Kinderarbeit in den letzten
Jahrzehnten bewirkt, die Zahl der arbeitenden Kinder zu verringern und deren Ausbeutung
zurückzudrängen. Es hat, wie oben gezeigt, die arbeitenden Kinder eher rechtlos und wehrlos
gemacht und damit ihren Schutz beeinträchtigt.
Mit dem Recht zu arbeiten wird nicht
einfach die Abschaffung eines Verbots, sondern ein neues Recht gefordert, mit dem andere Rechte
einhergehen, die einerseits einem besseren Schutz bei der Arbeit, andererseits einer Stärkung der
gesellschaftlichen Stellung der Kinder dienen. Wenn Kinder z.B. das Recht haben, für die gleiche
Arbeit die gleiche Bezahlung zu erhalten, und die Möglichkeit, dieses Recht durch sozialen
Zusammenschluss zu untersteichen, können sie nicht mehr ohne weiteres als billige Alternative zu den
Erwachsenen missbraucht werden. Damit müsste freilich auch ein Bewusstseinswandel bei den
Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen einhergehen in dem Sinne, dass die
arbeitenden Kinder als "legitime" und gleichberechtigte Kolleginnen und Kollegen anerkannt und
gegebenenfalls solidarisch unterstützt werden.
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