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SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2007, Seite 17

Auf der inoffiziellen Tagesordnung der G8:

Die Angst des Westens vor der asiatischen Konkurrenz

von Ingo Schmidt



Glaubt man den offiziellen Verlautbarungen, wird sich der G8-Gipfel in Heiligendamm vornehmlich mit der Kontrolle internationaler Finanzmärkte und Fragen des Klimaschutzes befassen. Damit stehen zwei Themen auf der Tagesordnung, die nicht nur Globalisierungskritiker und Umweltaktivisten umtreiben, sondern auch weite Bevölkerungsschichten in Deutschland und in vielen anderen Ländern.
Wenn gewählte Regierungschefs die Sorgen der Bevölkerung teilen und sich sogar von ihren Kritikern die Tagesordnung aufstellen lassen, fragt sich allerdings, wen Gastgeberin Merkel durch Sicherheitszaun und martialisches Polizeiaufgebot aussperren will. Fürchten sie und ihr Vizekanzler etwa einen Heuschreckenangriff?
Die Themen, die den G8-Gipfel tatsächlich beschäftigen, dürften sich jedoch hinter dem technokratisch klingenden Tagesordnungspunkt "Abbau globaler Ungleichgewichte" und der moralisch hochanständig daherkommenden Sorge um die Zukunft Afrikas verbergen. Gemeinhin verstehen Ökonomen, Investoren und Wirtschaftsjournalisten unter Ungleichgewichten das Leistungsbilanzdefizit der USA und Überschüsse Chinas. Sie übersehen dabei gern, dass die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschland und Japans in etwa das gleiche Volumen aufweisen wie der Überschuss Chinas, und verweisen Afrika in die Sektion Reise- oder Katastrophenberichterstattung.
Parallel hierzu hat sich seit ein paar Jahren eine Debatte entwickelt, die sehr viel grundsätzlicher nach der Stellung der G8-Staaten in der Weltwirtschaft fragt. Diese Debatte dreht sich nicht um internationale Finanzanleger, sondern um Menschen in armen Ländern, die sich angeblich in die sozialen Hängematten der reichen Länder flüchten wollen bzw. um emsige Billigarbeiter, die mit ihren Produkten den Weltmarkt überschwemmen — sie werden als Bevölkerungsüberschuss denunziert.
Hinter der technokratischen Frage, wie außenwirtschaftliche Ungleichgewichte und etwaige Finanzkrisen eingedämmt werden können, steht die viel tiefer sitzende Angst der imperialistischen Mächte, ihre privilegierte Stellung an die "Verdammten dieser Erde" oder an aufstrebende Rivalen zu verlieren. Eingehüllt in den ideologischen Nebel des "Kriegs gegen den Terror" oder des "Kampfs der Kulturen" machen sich Strategen des Kapitals Gedanken, ob der Aufstieg Chinas und einiger anderer Länder als Ausweitung des Akkumulationsmöglichkeiten begrüßt oder als politische Bedrohung angesehen werden soll.
Offen wurden diese Fragen nach der Veröffentlichung einer Studie von Goldman-Sachs im Jahre 2003 diskutiert; sie macht Brasilien, Russland, Indien und China, kurz BRIC-Staaten genannt, als zukünftige Regionalmächte aus, deren jeweiliges und erst recht kombiniertes Wirtschaftspotenzial eine Herausforderung für die bislang in den G8 konzentrierte Wirtschaftsmacht darstelle.
Interessant ist die Auswahl der als künftige Rivalen ausgemachten Länder zunächst in geografischer Hinsicht. Neue Regionalmächte werden auf allen Kontinenten außerhalb der bisherigen Machtzentren um den Nordatlantik, Japan und Australien ausgemacht — mit Ausnahme von Afrika. Da versteht man doch gleich viel besser, weshalb in der Finanzpresse in letzter Zeit immer mehr sorgenvolle Artikel erscheinen, die über chinesische Investitionen in Afrika und über Kredite berichten, die wider alle westlich- humanitäre Vernunft nicht an wirtschaftspolitische Auflagen gebunden sind.
In Lateinamerika betreibt Venezuelas Präsident Chávez eine ähnlich verantwortungslose Politik, und der ecuadorianische Präsident Correa hat erklärt, nach der Begleichung der letzten IWF-Schulden nie wieder Geld vom Fonds zu nehmen. Nun sind Chávez, Correa und Boliviens Präsident Morales den USA zwar zweifellos ein Ärgernis in ihrem eigenen Hinterhof; sofern sich der populistische Sozialismus in Lateinamerika eindämmen lässt jedoch keine ernsthafte Herausforderung der imperialistischen Weltordnung.
Angesichts der eigenständigen Politik, die in den genannten Ländern verfolgt wird, ist es andererseits erstaunlich, dass Brasilien als kommende Regionalmacht Lateinamerikas ausgemacht wird. Nicht nur die begrenzte Ausstrahlung Lulas — von möglichen anderen brasilianischen Präsidenten gar nicht zu reden — spricht gegen eine solche Entwicklung, sondern auch die Tatsache, dass Brasiliens wirtschaftliche Entwicklung erst durch die Militärdiktatur, dann durch neoliberale Demokratien wirksam verlangsamt und in Richtung Weltmarkt umgelenkt wurde. Dabei hat sich ein herrschender sozialer Block herausgebildet, der von der Arbeiter- und der Landlosenbewegung bislang nicht erschüttert werden konnte. Vielleicht wird Brasilien aus diesem Grund in Wirklichkeit nicht als Gegner, sondern als Partner des Westens und als Gegenmodell zum populistischen Sozialismus à la Chávez gesehen.
Auf dem Weg zum imperialistischen Juniorpartner ist Russland viel weiter fortgeschritten als Brasilien, wie seine Teilnahme am G8-Gipfel beweist. Dafür gibt es gute Gründe: Der Zusammenbruch des Staatssozialismus hat weder ein zuvor mit bürokratisch harter Hand unterdrücktes revolutionäres Potenzial freigesetzt, wie manche Linke hofften, noch kapitalistischer Prosperität den Boden bereitet, wie viele Neoliberale frohlockten.
Aus der sowjetischen Konkursmasse ist ein immer noch ansehnliches Militärpotenzial übrig geblieben, das einer mit kapitalistischen Peripherieländern vergleichbaren Ausplünderung des russischen Ressourcenreichtums im Wege steht und zur, wenngleich mitunter schwierigen, Kooperation zwingt. Weil Rohstoffe und Panzer allein aber noch keinen imperialistischen Aufsteiger machen, wird Russland über die Rolle eines westlichen Juniorpartners kaum hinauskommen.
Das Zeug zum Rivalen haben nur China und Indien (mit Abstrichen) — weil sie eine große Bevölkerungszahl mit hohem Wirtschaftswachstum, starkem militärischem Potenzial und einer konsolidierten Staatsmacht verbinden. Beiden ist es nach der Befreiung vom Kolonialismus gelungen, die Industrialisierungsmuster des Westens zu kopieren. Zollschutz und Binnenmarktentwicklung erlaubten den Ausbau einer industriellen Basis bevor sie auf Exportorientierung umschalteten.
Vergleichbare Entwicklungsprojekte sind in Brasilien an der Militärdiktatur, der Schuldenkrise und dem Neoliberalismus gescheitert, während die Sowjetunion, für die es allerdings die Weltmarktperspektive nicht gab, innovative Potenziale außerhalb des Rüstungssektors erstickte, dessen Ausbau das Regime zuletzt überfordert hat.
So sind die aus der antikolonialen Bewegung hervorgegangen Hoffnungen der Dritten Welt auf eine nachholende Entwicklung entweder gescheitert oder sie endeten, wie im Falle Indiens und Chinas, auf dem kapitalistischen Weltmarkt.
Ob letztere sich über ihren späten Erfolg freuen können, ist allerdings keineswegs ausgemacht. Zum einen haben sie sich noch lange nicht den Platz am Tisch der imperialistischen Führungsmächte erkämpft, der unter den Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz zur Absicherung ihres wirtschaftlichen Aufstiegs notwendig wäre.
Zum anderen dürften sich die Herrscher in Neu-Delhi und Peking gemeinsam mit den etablierten imperialistischen Mächten Gedanken über die Zukunft eines Wirtschaftssystems machen, das auf der Ausplünderung natürlicher Rohstoffe und menschlicher Arbeitskraft beruht und deshalb immer wieder Menschen, trotz enttäuschter Entwicklungs- und Sozialismushoffnungen im 20.Jahrhundert, nach Alternativen zu Kapitalismus und Imperialismus suchen lässt. Dass diese Hoffnungsvollen durch Zäune, Polizeiknüppel und Vorbeugehaft vom G8-Gipfel ausgeschlossen werden sollen, zeugt von den uneingestandenen Selbstzweifeln der Herrschenden an ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit.

Ingo Schmidt hat derzeit eine Lehrtätigkeit in Vancouver (Kanada), ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland und Mitherausgeber des Göttinger Betriebsexpress.



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