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Glaubt man den offiziellen Verlautbarungen, wird sich der G8-Gipfel in Heiligendamm
vornehmlich mit der Kontrolle internationaler Finanzmärkte und Fragen des Klimaschutzes befassen. Damit stehen zwei
Themen auf der Tagesordnung, die nicht nur Globalisierungskritiker und Umweltaktivisten umtreiben, sondern auch weite
Bevölkerungsschichten in Deutschland und in vielen anderen Ländern.
Wenn gewählte Regierungschefs die Sorgen der
Bevölkerung teilen und sich sogar von ihren Kritikern die Tagesordnung aufstellen lassen, fragt sich allerdings, wen
Gastgeberin Merkel durch Sicherheitszaun und martialisches Polizeiaufgebot aussperren will. Fürchten sie und ihr
Vizekanzler etwa einen Heuschreckenangriff?
Die Themen, die den G8-Gipfel tatsächlich
beschäftigen, dürften sich jedoch hinter dem technokratisch klingenden Tagesordnungspunkt "Abbau globaler
Ungleichgewichte" und der moralisch hochanständig daherkommenden Sorge um die Zukunft Afrikas verbergen. Gemeinhin
verstehen Ökonomen, Investoren und Wirtschaftsjournalisten unter Ungleichgewichten das Leistungsbilanzdefizit der USA
und Überschüsse Chinas. Sie übersehen dabei gern, dass die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschland
und Japans in etwa das gleiche Volumen aufweisen wie der Überschuss Chinas, und verweisen Afrika in die Sektion Reise-
oder Katastrophenberichterstattung.
Parallel hierzu hat sich seit ein paar Jahren eine Debatte
entwickelt, die sehr viel grundsätzlicher nach der Stellung der G8-Staaten in der Weltwirtschaft fragt. Diese Debatte
dreht sich nicht um internationale Finanzanleger, sondern um Menschen in armen Ländern, die sich angeblich in die
sozialen Hängematten der reichen Länder flüchten wollen bzw. um emsige Billigarbeiter, die mit ihren Produkten
den Weltmarkt überschwemmen sie werden als Bevölkerungsüberschuss denunziert.
Hinter der technokratischen Frage, wie
außenwirtschaftliche Ungleichgewichte und etwaige Finanzkrisen eingedämmt werden können, steht die viel tiefer
sitzende Angst der imperialistischen Mächte, ihre privilegierte Stellung an die "Verdammten dieser Erde" oder
an aufstrebende Rivalen zu verlieren. Eingehüllt in den ideologischen Nebel des "Kriegs gegen den Terror" oder
des "Kampfs der Kulturen" machen sich Strategen des Kapitals Gedanken, ob der Aufstieg Chinas und einiger anderer
Länder als Ausweitung des Akkumulationsmöglichkeiten begrüßt oder als politische Bedrohung angesehen
werden soll.
Offen wurden diese Fragen nach der Veröffentlichung
einer Studie von Goldman-Sachs im Jahre 2003 diskutiert; sie macht Brasilien, Russland, Indien und China, kurz BRIC-Staaten
genannt, als zukünftige Regionalmächte aus, deren jeweiliges und erst recht kombiniertes Wirtschaftspotenzial eine
Herausforderung für die bislang in den G8 konzentrierte Wirtschaftsmacht darstelle.
Interessant ist die Auswahl der als künftige Rivalen
ausgemachten Länder zunächst in geografischer Hinsicht. Neue Regionalmächte werden auf allen Kontinenten
außerhalb der bisherigen Machtzentren um den Nordatlantik, Japan und Australien ausgemacht mit Ausnahme von
Afrika. Da versteht man doch gleich viel besser, weshalb in der Finanzpresse in letzter Zeit immer mehr sorgenvolle Artikel
erscheinen, die über chinesische Investitionen in Afrika und über Kredite berichten, die wider alle westlich-
humanitäre Vernunft nicht an wirtschaftspolitische Auflagen gebunden sind.
In Lateinamerika betreibt Venezuelas Präsident
Chávez eine ähnlich verantwortungslose Politik, und der ecuadorianische Präsident Correa hat erklärt,
nach der Begleichung der letzten IWF-Schulden nie wieder Geld vom Fonds zu nehmen. Nun sind Chávez, Correa und Boliviens
Präsident Morales den USA zwar zweifellos ein Ärgernis in ihrem eigenen Hinterhof; sofern sich der populistische
Sozialismus in Lateinamerika eindämmen lässt jedoch keine ernsthafte Herausforderung der imperialistischen
Weltordnung.
Angesichts der eigenständigen Politik, die in den
genannten Ländern verfolgt wird, ist es andererseits erstaunlich, dass Brasilien als kommende Regionalmacht
Lateinamerikas ausgemacht wird. Nicht nur die begrenzte Ausstrahlung Lulas von möglichen anderen brasilianischen
Präsidenten gar nicht zu reden spricht gegen eine solche Entwicklung, sondern auch die Tatsache, dass Brasiliens
wirtschaftliche Entwicklung erst durch die Militärdiktatur, dann durch neoliberale Demokratien wirksam verlangsamt und
in Richtung Weltmarkt umgelenkt wurde. Dabei hat sich ein herrschender sozialer Block herausgebildet, der von der Arbeiter-
und der Landlosenbewegung bislang nicht erschüttert werden konnte. Vielleicht wird Brasilien aus diesem Grund in
Wirklichkeit nicht als Gegner, sondern als Partner des Westens und als Gegenmodell zum populistischen Sozialismus à la
Chávez gesehen.
Auf dem Weg zum imperialistischen Juniorpartner ist Russland
viel weiter fortgeschritten als Brasilien, wie seine Teilnahme am G8-Gipfel beweist. Dafür gibt es gute Gründe: Der
Zusammenbruch des Staatssozialismus hat weder ein zuvor mit bürokratisch harter Hand unterdrücktes
revolutionäres Potenzial freigesetzt, wie manche Linke hofften, noch kapitalistischer Prosperität den Boden
bereitet, wie viele Neoliberale frohlockten.
Aus der sowjetischen Konkursmasse ist ein immer noch
ansehnliches Militärpotenzial übrig geblieben, das einer mit kapitalistischen Peripherieländern vergleichbaren
Ausplünderung des russischen Ressourcenreichtums im Wege steht und zur, wenngleich mitunter schwierigen, Kooperation
zwingt. Weil Rohstoffe und Panzer allein aber noch keinen imperialistischen Aufsteiger machen, wird Russland über die
Rolle eines westlichen Juniorpartners kaum hinauskommen.
Das Zeug zum Rivalen haben nur China und Indien (mit
Abstrichen) weil sie eine große Bevölkerungszahl mit hohem Wirtschaftswachstum, starkem militärischem
Potenzial und einer konsolidierten Staatsmacht verbinden. Beiden ist es nach der Befreiung vom Kolonialismus gelungen, die
Industrialisierungsmuster des Westens zu kopieren. Zollschutz und Binnenmarktentwicklung erlaubten den Ausbau einer
industriellen Basis bevor sie auf Exportorientierung umschalteten.
Vergleichbare Entwicklungsprojekte sind in Brasilien an der
Militärdiktatur, der Schuldenkrise und dem Neoliberalismus gescheitert, während die Sowjetunion, für die es
allerdings die Weltmarktperspektive nicht gab, innovative Potenziale außerhalb des Rüstungssektors erstickte,
dessen Ausbau das Regime zuletzt überfordert hat.
So sind die aus der antikolonialen Bewegung hervorgegangen
Hoffnungen der Dritten Welt auf eine nachholende Entwicklung entweder gescheitert oder sie endeten, wie im Falle Indiens und
Chinas, auf dem kapitalistischen Weltmarkt.
Ob letztere sich über ihren späten Erfolg freuen
können, ist allerdings keineswegs ausgemacht. Zum einen haben sie sich noch lange nicht den Platz am Tisch der
imperialistischen Führungsmächte erkämpft, der unter den Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz zur
Absicherung ihres wirtschaftlichen Aufstiegs notwendig wäre.
Zum anderen dürften sich die Herrscher in Neu-Delhi und
Peking gemeinsam mit den etablierten imperialistischen Mächten Gedanken über die Zukunft eines Wirtschaftssystems
machen, das auf der Ausplünderung natürlicher Rohstoffe und menschlicher Arbeitskraft beruht und deshalb immer
wieder Menschen, trotz enttäuschter Entwicklungs- und Sozialismushoffnungen im 20.Jahrhundert, nach Alternativen zu
Kapitalismus und Imperialismus suchen lässt. Dass diese Hoffnungsvollen durch Zäune, Polizeiknüppel und
Vorbeugehaft vom G8-Gipfel ausgeschlossen werden sollen, zeugt von den uneingestandenen Selbstzweifeln der Herrschenden an
ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit.
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