SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2007, Seite 18

Antiislamistische Massenproteste in der Türkei

Es gibt nicht nur die Wahl zwischen Islamisten und Kemalisten

Interview mit Defne Sandalci

Am 14.April demonstrierten bis zu einer Million Menschen in Ankara, am 29.April fast zwei Millionen in Istanbul und am 13.Mai eine Million in Izmir gegen eine weitere Islamisierung der Türkei. Hintergrund war die Absicht der AKP, die den Ministerpräsidenten stellt, nun auch das Amt des Staatspräsidenten zu übernehmen. Das türkische Parlament hat eine Verfassungsänderung beschlossen, durch die das Staatsoberhaupt künftig in einer Direktwahl bestimmt wird. Am 22.Juli finden in der Türkei Parlamentswahlen statt. ULF PETERSEN führte das nachstehende Interview mit einer türkischen Feministin anlässlich der Reise einer internationalen Delegation nach Istanbul.

Haben die Leute wirklich Angst davor, dass die Türkei zu einer Art Iran wird?

Ja, sie haben Angst davor und gehen deshalb auf die Straße. Und ich glaube dass ein großer Teil der Bevölkerung mit einer islamistischen Herrschaft glücklich wäre. Aber wir sollten uns die Menge mit den Millionen türkischer Flaggen genauer ansehen, denn sie war in keiner Weise homogen. Obwohl natürlich die Armee, die Medien und die von ihnen mobilisierten und offen manipulierten "zivilen Massen" es so haben aussehen lassen.
Es waren viele Jugendliche da, auch mit Piercings und Punk-Look, die nach dem Militärputsch von 1980 geboren wurden und in den fast drei Jahrzehnten dessen, was man das "Regime von 1980" nennen könnte, aufgewachsen sind. Die haben keine Ahnung von der Tatsache, dass es die Armee selbst war, die nach 1980 religiöse Gefühle gefördert und benutzt hat, die den Koranunterricht in den Schulen verbreitet, das Auftreten von sunnitischen Sekten auf der politischen Bühne gefördert und in den 90er Jahren die türkischen Hizbollah massiv im Kampf gegen die PKK eingesetzt hat. Sie wissen nicht, dass das Militär damit den islamistischen Terrorismus im Südosten gestärkt hat, wodurch Tausende von Frauen in dieser Region gleichzeitig ein Hauptziel für den Terror der Islamisten, der PKK und der türkischen Armee wurden; dass der Führer des Putsches, General Kenan Evren, damals keine Rede ohne Zitate aus dem Koran begonnen hat, und dass es direkt nach dem Putsch eine Welle von Moscheebauten im ganzen Land gab.
Diese "jungen" oder auch älteren Menschen haben deshalb auch keine ethischen Bedenken, an diesen furchterregenden nationalistischen Aufmärschen teilzunehmen, weil sie sich nicht vorstellen können, mehr als eine Sache gleichzeitig zu tun: dass sie Angst vor einer islamistischen Herrschaft haben (wie ich sicherlich auch, aber ich sehe sie nicht völlig in der AKP-Regierung verkörpert), aber deswegen nicht jeden Moslem hassen, und sich gleichzeitig der furchtbaren Folgen einer Militärherrschaft bewusst sind und Wege finden, sich ihr entgegenzustellen. Sie können sich nicht vorstellen, dass es noch andere Möglichkeiten gibt als zwischen zwei Feinden zu wählen.
Es findet eine verdummende Polarisierung statt zwischen dem sunnitischen Islam auf der einen und dem nationalistischem Säkularismus, der auch etwas wie eine Religion geworden ist, auf der anderen Seite. Ich kann einige von den "Islamisten" verstehen, weil ich den Staat und die völlig diktatorische Herangehensweise der Kemalisten an ihre Lebensweise, wie sie sich kleiden sollen usw., ablehne. In dieser Hinsicht ist die Türkei schon sehr wie der Iran! Dort bestrafen sie das halboffene Kopftuch und hier gibt es die Tendenz, kopftuchtragende Frauen aus dem "säkularen" öffentlichen Raum zu verbannen! Eine nette Ähnlichkeit, nicht?
Auch unter den nationalistischen Säkularisten gibt es einige Leute, deren Unwillen, einer neuen Art von Unterdrückung zu begegnen, man nachfühlen kann. Aber der Rest — lauf um dein Leben, das sind militante Nationalisten, die bereit sind dich loszuwerden!
Die Politiker mit ihren verrotteten Medien vernebeln den Leuten die Hirne, sie präsentieren ihnen erstickende Dualismen und halten sie damit davon ab, eine Vielfalt anderer Möglichkeiten zu entdecken: eine andere Art, die Geschichte zu lesen, sich Dinge anzuschauen und sich zu organisieren. So entsteht ein furchtbares Vakuum. Wie ein türkisches Sprichwort sagt: "Wer ins Meer fällt, greift nach der Schlange"!
Eine schlimme Tradition von geschichtlicher Amnesie und willentlicher Ignoranz erleichtert die Bemühungen der türkischen Machtzentren (die Armee, islamistische Faschisten, islamistisch-nationalistische Faschisten und nationalistisch-säkulare Faschisten und was sonst nicht noch alles!), diese gefährliche Polarisierung zu schaffen. Und — und! — das Militär gründet seine stark auf die Sozialdemokratie gestützte Legitimität auf die Angst vor der Einführung der Scharia — ein bequemes Spiel, muss ich sagen!
Es ist keine Irreführung oder Übertreibung, die derzeitige Lage in der Türkei in vielerlei Hinsicht mit den 30er Jahren in Deutschland zu vergleichen, es tut mir sehr leid, das sagen zu müssen.

Einige Kommentatoren sprachen angesichts des großen Frauenanteils von einer "Frauenrevolution" gegen die regierenden Islamisten. War es also nicht ein großer Protest für Frauenrechte?

Das alles basiert auf dem Geburtsmythos dieser Republik: Ein edler Ritter (blauäugig und blond noch dazu!) stürzte die bösen Osmanen und Imperialisten und sagte: "Wechselt eure Kleider und Hüte und werdet modern." Den Frauen wurde das Recht zugestanden zu wählen und sich zu entschleiern. Man mag denken, dass das nicht schlecht war im Vergleich zu den islamischen Traditionen der osmanischen Zeit — ja, vielleicht. Aber mein Problem ist, dass dies immer noch Teil der Mythologie ist, welche die Grundlage dafür legte, dass die äußere Erscheinung viel wichtiger ist als das, was sie verdeckt. Unter den modernen Kleidern blieb ein "träges" Denken erhalten, das weitgehend von einer Autorität abhängig ist, die für sie handelt — was diese ohne zu zögern machte und macht.
Es gab osmanische Feministinnen, moslemische, armenische und andere, aber keine Frau in der neuen Republik von 1923 erfuhr von ihrer Existenz oder was sie zu sagen hatten, weil sie das alte arabische Alphabet nicht mehr lesen konnten — wer brauchte schon die Vergangenheit in der futuristischen kemalistischen Republik?! Dieser Bruch trägt zur geschichtlichen Amnesie bei und die hat Tradition.
Der Feminismus kam erst in den 80er Jahren zurück. Nicht zufällig war dies eine der wichtigsten Wiedererweckungen nach dem Putsch. Frauen, die zum großen Teil an den vom Militär nieder geschlagenen revolutionären Bewegungen der 70er Jahre beteiligt waren, brauchten eine neue Betrachtung der Geschichte — sowohl der gerade beendeten revolutionären Periode und ihrer eigenen randständigen Rolle darin wie auch darüber hinaus. Trotz vielfältiger Strömungen hat unsere "Bewegung" vor allem die grundlegende feministische Idee der Körperpolitik betont: den Anspruch auf unseren Körper und das Recht, über ihn zu bestimmen. Ich kann sagen, dass sich damals viele Frauen darüber geärgert haben (ganz zu Schweigen von Männern aller politischen Richtungen, inklusive unserer früheren "Genossen", die sich schon als "befreit" betrachteten) — dank der in Erziehung, Familie und allen Bereichen des sozialen Lebens verankerten kemalistischen Illusionen, einschließlich der Illusionen über die Armee mit ihrer Rettermythologie! Indem sich die republikanischen Frauen als Teil patriarchalischer Strukturen fühlen, täuschen sie sich wahrscheinlich über die Art ihrer "Freiheit".
Aber eine feministische Kritik des Patriarchats in allen Lebensbereichen (inklusive der Oppositionsbewegungen selbst, wo Männer so wenig ihren Machismo und andere "schlechte Gewohnheiten" in Frage stellen!) ist für uns Frauen entscheidend, um die Einschränkungen der Freiheit wirklich zurückzudrängen und die Initiative nicht einigen Patriarchen zu überlassen. Und ich meine: Nicht nur der kemalistische Staat, sondern auch die islamistischen Unterdrücker und alle Arten männlicher Chauvinisten sollen die Hände von unseren Körpern lassen!


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