SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2007, Seite 18

Klassenkampf als Befreiungsstrategie

Ulrich Duchrow, Reinhold Bianchi, René Krüger, Vincenco Petracca: Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus — Wege zu ihrer Überwindung, Hamburg: VSA 2006, 510 S., 19,80 Euro

von Klaus Drechsel

Dieses Buch aus der Feder sozialistischer Christen aus der BRD (Durchrow, Petracca) und Argentinien (Krüger) erschien im Mai 2006 und wurde bisher vor allem in fortschrittlichen christlichen Zusammenhängen zur Kenntnis genommen. Der vierte Autor, Reinhold Bianchi, ist Psychoanalytiker in der Tradition der Relationalen Psychoanalyse, die den Menschen in Abgrenzung von der klassischen triebtheoretischen Psychoanalyse als von Anfang an gesellschaftliches und personales Beziehungswesen sieht (siehe SoZ 5/2007).
Die Fragestellung lautet: "Wie können die betroffenen Menschen ihre vom Neoliberalismus verursachten psychischen Schäden und Blockaden überwinden, um eben diesen neoliberalen Kapitalismus durch Widerstand und die Umsetzung realer gesellschaftlicher und politischer Alternativen zu überwinden?" Mit Hilfe von Begriffen aus der "relationalen Klassentheorie" gelangen die Autoren zu einer Dreiteilung der BRD in Gewinner, Mittelklasse und Verlierer, wobei die Arbeiterklasse sich in der zweiten und dritten Gruppe wiederfindet, während das alte und das neue Kleinbürgertum der Mittelklasse zugeordnet wird.
Die zentrale These des Buches ist, dass — ähnlich wie in den letzten Jahren der Weimarer Republik — der Schlüssel für eine positive Antwort auf diese Frage in der Entscheidung der Mittelklasse liegt, ob sie sich ein weiteres Mal auf die Seite der Gewinner stellen wird, insbesondere des Großkapitals und seiner Funktionseliten, oder sich mit den Verlierern verbündet. Mit den Denkmitteln der Relationalen Psychoanalyse (RP) wird ausführlich und absolut lesenswert entwickelt, welchen spezifischen sozialpsychologischen Deformationen diese drei Gruppen ausgesetzt sind.
Die Verlierer gelangen vor allem durch die aktive Teilnahme an solidarischen Bewegungen zur Entwicklung solidarischen Bewusstseins. Unter den Gewinnern werden vorerst lediglich wenige Außenseiter aus dem sozialdestruktiven Kurs aussteigen. Dieser sozialen Gruppe muss die Macht entzogen werden. Hinsichtlich der Mittelschichten sprechen die Autoren von Chancen und Hemmnissen: Sie müssten sich von "tief verwurzelten und weiterhin von den Eliten massiv forcierten ideologisch-emotionalen Bindungen" befreien, aus näher rückender sozialer Verunsicherung und Absturzangst solidarische statt individualisierende Konsequenzen ziehen, sich globalisierungskritischen und anderen solidarischen Bewegungen aktiv zuwenden.
Im Strategiekapitel formulieren die Autoren eine klare Absage an reformistische Konzeptionen, denen die reale Basis fehle. Es wird klar und eindeutig zum politischen Handeln im Rahmen der über den Kapitalismus hinausstrebenden "Transformationskräfte" aufgefordert, die als eine Strömung der globalisierungskritischen Bewegung dargestellt werden.
Die Autoren präsentieren dazu eine zweigliedrige "multiple Doppelstrategie": Zum einen Entmythologisierung der neoliberalen Ideologie (als Gegengift gegen die vorherrschende Desorientierung), zum anderen Verweigerung und Widerstand — Streiks, aber auch verschiedene Kampfformen der neuen sozialen Bewegungen. Der zweite Teil ist positiv formuliert und soll "dem Leben Nahrung geben". Darunter verstehen die Autoren den Aufbau von Alternativen im lokal-regionalen Bereich, die über den Kapitalismus hinaus gehen, aber auch Kämpfe zur gesellschaftlichen und politischen Wiederaneignung der gestohlenen Ressourcen auf allen Ebenen in einer postkapitalistischen Perspektive. Der Sozialforumsprozess und die darum herum sich entfaltende Politik breiter emanzipatorischer Bündnisse als Potenzial einer "kulturellen Wende" weist solidarisch gewordenen Menschen den Weg zu einer neuen globalen Mehrheitskultur. Die Arbeiterinnen und Arbeiter können die gegenseitige globale Konkurrenz nur selbst überwinden. Hier haben die Gewerkschaften eine riesige Aufgabe vor sich. Schließlich verweisen die Autoren auch auf die Notwendigkeit, eine neue "große Erzählung" mit immer mehr Hoffnungsgeschichten zu beginnen. Sie schlagen zur Zielbestimmung den Begriff der solidarischen Sozialwirtschaft vor, weil der Begriff des Sozialismus immer erst historisch gewachsene Missverständnisse und Vorurteile hervorrufe.
Kritisch bleibt anzumerken, dass die Autoren die Organisations- und Parteifrage umgehen. Ebenso fehlt ein überzeugendes Konzept für die postulierte Entmachtung der kapitalistischen Eliten. Vielmehr zeichnen sie den Weg des allmählichen und gewaltfreien Aufbaus von Gegenmacht. Die Festlegung auf Gewaltfreiheit ist angesichts der globalen Gewalttätigkeit der herrschenden Klassen vor dem Hintergrund der selbst gesteckten Ziele nicht akzeptabel, nicht konsequent und auch unlogisch. Die Ausführungen zur Strategie wirken daher merkwürdig begrenzt.
Das Buch endet mit dem Hinweis an die hiesigen christlichen Gemeindemitglieder, dass sie verpflichtet sind, die biblische Option für die Armen zu wählen — dies wäre ein strategisch wichtiger Beitrag, um die neoliberale Hegemonie zu brechen. Es gibt Hinweise auf zeitgenössische emanzipatorische Ansätze in allen Weltreligionen. Nicht zuletzt ist das Buch reich an befreiungstheologischen und damit glasklar klassenkämpferischen Interpretationen der Bibel, die auch für Nichtchristen anregend sind — z.B. hinsichtlich der strategisch bedeutsamen Frage, wie wir in revolutionären Organisationen gut zusammenleben wollen und können. Dem Buch und den Autoren sei angesichts ihrer ambitionierten Arbeit ausführliche Resonanz gewünscht.


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