SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2007, Seite 20

Vor 70 Jahren starb Antonio Gramsci

Denker der Niederlagen der europäischen Revolution

von Rossana Rossanda

Vor 70 Jahren starb Antonio Gramsci in einer Klinik. Zum Begräbnis kam niemand außer der Schwägerin Tatiana und die Polizei. Er war 1926 verhaftet worden und wenige Wochen zuvor freigekommen, erschöpft von der Krankheit und nicht nur von ihr. Wenn Sterben jemals mit Zustimmung erfolgt, muss das Bewusstsein, dass niemand ihn haben wollte, ihm diese leicht gemacht haben: nicht in Moskau, wo Frau und Kinder und die Genossen waren, nicht in Ghilarza (Sardinien), wo seine elterliche Familie lebte. Davon hat er der liebevollen, nicht geliebten Tatiana nichts gesagt, und wenn er es Piero Sraffa anvertraut hat, hat uns Sraffa davon kein Zeugnis hinterlassen.
Dennoch, über das was auf der Welt zwischen dem Jahr 26 und dem Jahr 37 passiert war, müssen die beiden in der Klinik, endlich ohne Polizei, lange geredet haben, und Gramsci muss viel erfahren haben über das, was er hatte erahnen können. In der UdSSR die Kollektivierung der Landwirtschaft, dann der Mord an Kirow und der Beginn der Liquidierung des 1934 gewählten Zentralkomitees, und 1936, gerade ein Jahr vor seinem Tod, der erste der großen Prozesse. Außerhalb der UdSSR die Krise von 1929, der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, der italienische Überall auf Abessinien 1935 und 1936 die Volksfront in Frankreich, dann der Angriff Francos auf die spanische Republik. Was hat er darüber gedacht? Was konnte er sich von der Rückkehr in die Freiheit erhoffen? Schwer sich eine leidendere Existenz vorzustellen — wegen der Nöte des Körpers, wegen der Niederlage, der Einsamkeit, dem Klarblick.
Ich habe nicht den Eindruck, dass seiner in Italien mit Anteilnahme gedacht wurde. Vielleicht mit Ausnahme von Mario Tronti in der Kammer. Wir selber1 haben uns aus der Affäre gezogen und über eine Gegenüberstellung mit Edward Said diskutiert — zwei Köpfe, zwei Kulturen, zwei Epochen, zwei Gebiete. Am wenigsten konnte die Partei seiner gedenken, von der Togliatti gesagt hatte, er, Gramsci, sei ihr Gründer gewesen, und die letzte Woche in Florenz zu Grabe getragen wurde.2 Für die einstige PCI war er — gereinigt und von Problemen befreit —im Italien der Nachkriegszeit die Trumpfkarte gewesen, Beweis für eine Autonomie von der sowjetischen Orthodoxie. Er war ein Märtyrer des Faschismus, deshalb zu ehren, und tot würde er die Ruhe der Exekutive der Kommunistischen Internationale und seiner eigenen Partei nicht mehr stören. Nach 1956 trat sein Porträt an die Stelle von Stalin an den Wänden der Via Botteghe Oscure.3
Lange war geheim gehalten worden, dass er 1926, kurz vor seiner Verhaftung, der Exekutive der KI geschrieben hatte, gegen die Entscheidung Stalins, Trotzki auszuschließen — nicht weil er mit Trotzki einverstanden war, sondern weil er es unverantwortlich fand, inmitten des Scheiterns der Revolutionen in Europa die Führungsgruppe von 1917 oder was davon geblieben war zu spalten. Auch dass drei Jahre später die Genossen im Kerker seine Thesen, die der Linie von 1929 widersprachen, verurteilt und ihn isoliert hatten. Dies hatte den bitteren Zweifel in ihm genährt, dass Togliatti nicht nur nichts tun würde, um ihn herauszuholen, sondern ihn drin behalten wollte. Und wenn er die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, dass die KI weniger gemein sein würde als die PCd‘I, wurde sie ihm restlos genommen als er 1937 erfuhr, dass Moskau ihm versperrt war. Auch darüber muss er mit Sraffa gesprochen haben, aber Sraffa weigerte sich, darüber mit Tatiana zu reden, und er hat uns nichts hinterlassen.
In den 60er Jahren hatte Rinascita4 alles veröffentlicht — den Brief an die Exekutive der KI, dessen Echtheit in Frage gestellt worden war, den Zusammenstoß mit Togliatti, den Bericht von Athos Lisa über den Bruch im Kerker — und hatte eine vollständige Edition der Briefe herausgegeben.5 Paolo Spriano hatte versucht, gegen den Willen von Amendola noch tiefer zu graben. Aber es war spät. Niemand begeisterte sich dafür, weder in noch außerhalb der Partei.
Wenige Jahre später war jede Leidenschaft erloschen, die PCI schien auf der Straße des Wahlerfolgs, und die 68er Generation hätte Gramsci nicht mal durchgeblättert. Sie hatte es eilig, dachte in kurzen, auf Sieg gestellten Zeiträumen, während Gramsci der Denker der Niederlage der europäischen Revolutionen war. In jenen Jahren studierte man ihn eher im Ausland, weitab von der Gleichgültigkeit der Orthodoxen und der neuen Linken. In Italien beschäftigten sich mit ihm tüchtige Gelehrte, die mit Politik nicht viel zu tun hatten. Auch seine Überreste sind abseits aufbewahrt, auf dem kleinen nichtkatholischen Friedhof, den die Römer den englischen nennen, nahe der Cestius-Pyramide.
Der Gebrauch, den die PCI von Gramsci gemacht hatte, trug dazu bei, unter den 68ern und Nachfolgenden Misstrauen zu säen. Ich sage Gebrauch und nicht Missbrauch, weil es nicht im strengen Sinn eine Fälschung von Gramsci gab — so ist seine vorherrschende Interpretation auch nach der konsequenten Veröffentlichung der Gefängnishefte durch Valentino Gerratana gleich geblieben. Die Elemente, die in die Richtung der Nachkriegslinie der PCI gingen, wurden verstärkt. Deren Herzstück waren vor allem die Fragmente über Stellungskrieg und Bewegungskrieg.
Die Notizen in den Heften über diese Frage sind verstreut und werden auf das Jahr 1930 datiert. Der Kern ist kurz gesagt der: Wo die Macht der herrschenden Klasse nicht nur auf dem Staat ruht, sondern auf einer fortgeschrittenen und komplexen Zivilgesellschaft, kann die revolutionäre Bewegung nicht mit einem Angriff auf die Spitze des Staatsapparats (Bewegungskrieg) gewinnen, sondern nur wenn sie zuvor die "Kasematten" der Zivilgesellschaft erobert hat (Stellungskrieg). Nur wo der Staat die gesamte Macht in den Händen hält gegenüber einer schwachen und wenig strukturierten Zivilgesellschaft, kann es andersherum laufen. Unter dem Auge der Zensur bedient sich Gramsci einer kryptischen und "militärischen" Sprache, deren Grenzen ihm selbst auffallen, aber die Übertragung ist nicht schwer. Bewegungskrieg bezeichnet eine Revolution, die selbst wenn sie im Handstreich die Staatsspitze eroberte, dem Widerstand einer starken Zivilgesellschaft nicht standhalten würde. Diese gilt es daher zu durchdringen, Stellung um Stellung zu besetzen, in einem zähen Stellungskrieg. Beispiel: Der Westen hat robuste Zivilgesellschaften, der Osten zerbrechliche. Gramsci kann das nicht im Klartext schreiben, aber das ist ein Grund, weshalb die europäischen Revolutionen in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gescheitert sind, während in der UdSSR die Oktoberrevolution siegreich war.
Hier ergeben sich eine Reihe von Problemen. Eine begriffliche Abgrenzung vorab von Staat und Zivilgesellschaft scheint vonnöten. In den Heften verschwimmen die Grenzen, manchmal überlappen und vermischen sich die Begriffe, wie beim faschistischen Regime. Doch die These ist klar: Die Macht des Kapitals sitzt nicht allein und nicht insgesamt im Repressionsapparat des Staates, und dies nicht nur weil die vorherrschende "Struktur" (das geht auch bei Marx durcheinander) die einer Produktionsweise ist, die nach der bürgerlichen Ideologie von den staatlichen Institutionen getrennt sein sollte, sondern weil der Staat auch als "geschäftsführender Ausschuss der Bourgeoisie" über eine eigene Autonomie verfügt, die in den nachfolgenden Jahrzehnten konkretisiert und neu definiert wurde — vor allem in den Regimen, die Hannah Arendt "totalitär" nennt, die faschistischen wie die "kommunistischen" (die den Staat keineswegs abgeschafft haben). Ich weiß nicht, ob Gramsci Anfang der 30er Jahre dies schon denken konnte, sicherlich konnte er es nicht schreiben. Die begriffliche Trennung bleibt bis auf den heutigen Tag schwierig, es reicht auch nicht der Verweis auf die Dialektik zwischen beiden Momenten... das ist, auch bei Gramsci, eher eine Spitzfindigkeit als eine Erklärung.
Fest steht: Damals dachte kein Kommunist daran, dass es ohne einen Bruch mit dem Staatsapparat abgehen könnte, und nichts erlaubt zu glauben, für Gramsci sei der Stellungskrieg etwas anderes gewesen als eine Vorstufe zur politischen Revolution. Eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Das war das Unterscheidungsmerkmal zur Sozialdemokratie und zum Parlamentarismus. Und blieb es lange. 1956, auf ihrem VII.Parteitag, deutet die PCI den Sprung an: Vielleicht kann man auf den revolutionären Bruch mit dem Staat verzichten — aber sie sagt es nicht offen, und an dieser Stelle lässt sich nicht entscheiden, ob aus Gründen des Kräfteverhältnisses oder aus Vorsicht vor einer radikalen Umkehrung der Grundsätze.
Die politische Praxis, mit der die PCI gewachsen ist, verwies ständig auf den Gramsci des Stellungskriegs, verbunden mit der Neigung, diejenigen des Abenteurertums zu bezichtigen, die weiter gehen wollten — in Italien und in der Welt. 1968 ist nur das bezeichnendste Beispiel dafür: Nach einer Phase des Zögerns hat die PCI nicht einmal verstanden, dass diese Welle eine Richtung brauchte, sonst würde sie degenerieren und extreme, verlustreiche Formen annehmen wie in den Folgejahren in Italien und Deutschland.
Theoretisch aber beschränkte sich ihr Diskurs auf Fragen der Taktik: Es war nie der richtige Zeitpunkt, man stand nie vor einer "allgemeinen Krise"; aber kein Dokument der PCI ist je so weit gegangen, die Existenz eines tiefen Konflikts zwischen den Klassen zu leugnen.6 Diesen Grundgedanken auszulöschen reichte nicht einmal die Wende von 1989 und der immer häufigere abwertende Einsatz der Kategorie "Jakobinismus" — gestützt auf den jungen Gramsci. Es ist geradezu amüsant— vielleicht liegt ja doch noch eine Ironie in der Geschichte —, dass man bis zur Auflösung der DS im Jahr 2007 warten muss, bis Walter Veltroni den Klassenkrieg als ohne Fundament und deshalb als beiseite zu schieben (oder zu unterdrücken) erklärt. Besser gesagt: der Klassenkonflikt, weil der Begriff "Krieg" den Staaten und ihren "humanitären" Interventionen vorbehalten bleibt.
In seinem 1976 in New Left Review erschienenen Essay7 schließt Perry Anderson aus, dass Gramsci für diese Abdrift der PCI verantwortlich gemacht werden kann. Dieser sei bei der Marx‘schen These von der Notwendigkeit eines Bruchs mit der staatlichen Ordnung geblieben. Er besteht auf ihrem "militärischen" (Trotzki) Charakter, weil die Eroberung der Zivilgesellschaft allein (deren Notwendigkeit er nicht bestreitet) das staatliche Gewaltmonopol und seine ausschließliche Verfügung über die erforderlichen Mittel wie Polizei, Armee und fortgeschrittene Waffentechnologie nicht ankratzen kann.
Tatsächlich stellt sich die Frage 2007 noch einmal mit allen Facetten: Es hat keine sozialistische Revolution gegeben ohne einen politischen und mehr oder weniger gewaltsamen Bruch. Aber alle Revolutionen, die sich sozialistisch oder kommunistisch nannten, sind gescheitert oder degeneriert oder implodiert; das Beispiel der UdSSR ist nur das eindrucksvollste. Daraus kann man, anders als Anderson, höchstens schlussfolgern, dass sich Gramscis Fragmente nicht nur auf den Westen beziehen, sondern eine Sorge über die Entwicklung der russischen Revolution ausdrücken, wo es eine gesellschaftliche Hegemonie im Vorfeld nicht gegeben hatte. Dies hätte natürlich Schlussfolgerungen hinsichtlich des Reifegrads der Revolution impliziert, die damals, und auch in den 70er Jahren, niemand gezogen hätte — bei Strafe des Rückfalls selbst noch hinter Bernstein.
Es bleibt die Tatsache, dass die Arbeit Gramscis den ersten Versuch darstellt, aus den summarischen Kategorien, in denen im 19.Jahrhundert Revolution und Gesellschaft und die Beziehung zwischen staatlichen Institutionen und Zivilgesellschaft gedacht wurden, auszubrechen. Heute, da mit der sog. Globalisierung die weltweite Herrschaft viel mehr auf den Netzen der Kapitalgesellschaften als auf den Nationalstaaten zu ruhen scheint, die gleichwohl das Monopol über den Gebrauch der Gewalt behalten, wären die Konzepte Gramscis aus dem Anfang der 30er Jahre mehr denn je aufzugreifen und den heutigen Bedingungen anzupassen. Immer unter der Voraussetzung, natürlich, dass das Konzept der kapitalistischen Produktionsweise und das der Freiheit nicht über Bord geworfen werden — eine allerdings verbreitete Gewohnheit, in der ehemaligen alten wie neuen Linken.
Aus: Il Manifesto (Rom), 1.5.2007 (Übersetzung: Angela Klein).
Anmerkungen
[1. Der Herausgeberkreis von Il Manifesto.]
[2. Ende April beschlossen die DS ihre Selbstauflösung zugunsten der Gründung einer Demokratischen Partei (PD).]
[3. In der Via Botteghe Oscure in Rom befand sich die Zentrale der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI).]
[4. Theoretische Zeitschrift der PCI.]
[5. A.Gramsci: Lettere dal carcere, Turin: Einaudi 1965.]
[6. Wie es die aufgelöste DS jetzt tut.]
[7. P.Anderson: "The Antinomies of Antonio Gramsci", New Left Review (London), Nr.100, 1976/77, S.5—80; deutsche Ausgabe: P.Anderson: Antonio Gramsci. Eine kritische Würdigung, Berlin: Olle & Wolter 1979.]


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