SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2007, Seite 02

Gewalt in Rostock

Provokation als Deeskalation?

von Gerhard Klas

Nach der Rostocker Großdemonstration am 2. Juni dominierten Bilder von brennenden Autos, schwarzvermummten Steinewerfern, verzweifelten Demonstranten, flüchtenden und sich wehrenden Polizisten die Schlagzeilen der Tagespresse.
Ein Skandal: Gewaltbereite Globalisierungsgegner. Mit einem Mal schienen die Razzien, Postdurchsuchungen, Geruchsproben, Kontrollen an den Grenzen zu den europäischen Nachbarländern, die Einschränkung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts und Hausbesuche bei vermeintlichen Gewalttätern gerechtfertigt. Vor allem konservative Politiker fordern nun eine europäische Datei "linksextremer Gewalttäter" sowie den Einsatz von Gummigeschossen und der GSG9 bei solchen Demonstrationen.
Doch schon am Samstag meldeten sich Demonstrationsteilnehmer und Beobachter zu Wort, die von heftigen Übergriffen der Polizei berichteten, die ganz im Gegensatz zur behaupteten Deeskalationsstrategie standen. Sind dies die typischen Schuldzuweisungen wie nach jeder Demonstration, bei der Steine fliegen?
Diesmal ist es wohl komplizierter: Über die Aktivitäten der G8-Gegner kursierten eine Fülle von Falschmeldungen. So habe der philippinische Soziologe Walden Bello in seiner Rede auf der Abschlusskundgebung der Demonstration dazu aufgerufen, den "Krieg in die Demonstration" zu tragen, was als Aufruf zur Gewalt gewertet wurde. Drei Tage hielt sich diese Falschmeldung bei der Presseagentur dpa. Dabei hatte Walden Bello dazu aufgerufen, den "Krieg im Irak zu einem Thema der Demonstration" zu machen.
Vor allem die Einsatzleitung der Polizei lancierte immer wieder neue Schreckensmeldungen: Sie schraubte zunächst die Anzahl der schwer verletzten Beamten vom Samstag auf mehrere Dutzend hinauf und unterstellte den Clowns, die bei den Globalisierungsgegnern mitliefen, sie seien nicht friedlich, sondern würden mit ätzender Säure auf Polizeibeamte spritzen. Außerdem hätten sich die Blockierer an der Kontrollstelle Galopprennbahn mit Molotow-Cocktails bewaffnet. Keine dieser Meldungen hat sich bestätigt. Nach zwei Tagen war nur noch ein Beamter in stationärer Behandlung, die gefährliche Säure entpuppte sich als Seifenlauge, und an der Kontrollstelle Galopprennbahn, an der sich mehrere tausend Blockierer befanden, herrschte nach übereinstimmender Meinung von Teilnehmern, Medien und selbst lokaler Einsatzbeamter eine friedliche Festivalatmosphäre.
Aber nicht nur diese Falschmeldungen lassen die offizielle Lesart zu den G8-Protesten in einem anderen Licht erscheinen. Am 6.Juni wurden Zivilpolizisten in der Nähe der Kontrollstelle Galopprennbahn enttarnt. Nach Angaben des Republikanischen Anwaltsvereins, der mehrere Zeugenaussagen gesammelt hat, haben diese Beamten vor ihrer Enttarnung versucht, eine Gruppe von Jugendlichen aus Tschechien zu Steinwürfen gegen die Polizei anzustacheln. Martin Dolzer, Presse- und Öffentlichkeitsreferent des Republikanischen Anwaltsvereins, ist froh, dass es bei dem Versuch geblieben ist, "denn es hätte zu einer heftigen Eskalation kommen können". Es dränge sich der Eindruck auf, so Dolzer weiter, "dass der von Politikern wie Wolfgang Schäuble herbeigeredete Gewaltkonflikt rücksichtslos inszeniert werden sollte". Die Polizei dementierte zunächst den Einsatz von Zivilbeamten. Am 8. Juni, als einige Medien Film- und Fotoaufnahmen von den schwarz vermummten Zivilpolizisten veröffentlichten, gestand sie deren Einsatz schließlich ein. Er sei "Bestandteil der Deeskalationsstrategie" gewesen, hieß es in der Pressemeldung.
Am 2. Juni stand eine Hundertschaft der Polizei untätig neben mehreren schwarz Vermummten, die mit Spitzhacken Gehwegplatten aus der Straße lösten. Darauf angesprochen, erklärte der Sprecher der Polizeisondereinsatzgruppe Kavala, Axel Falkenberg, auch das sei "Teil der Strategie" gewesen, "der normale Bürger wundert sich, aber er hat eben nie eine strategische Ausbildung bei der Polizei genossen".
Noch sind nicht alle Bilder ausgewertet, alle Augenzeugenberichte gesammelt. Aber schon jetzt steht die Frage im Raum, ob nicht die Einsatzleitung und einige Sondereinheiten der Polizei die Gewalt bewusst geduldet oder sogar herbeigeführt haben. Es muss geklärt werden, so fordern der Republikanische Anwaltsverein, das Komitee für Grundrechte und Demokratie und viele andere Initiativen, welchen Anteil die Sicherheitskräfte an den Gewalttaten auf der Rostocker Großdemonstration hatten.


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