SoZ - Sozialistische Zeitung |
Das sagten mir junge Leute aus unserer Region, die zunächst auf den
Camps waren, "um mal zu gucken", dann aber blieben... Ein Teil erzählte mir, dass sie an
Aktionen teilnahmen, andere wollten einfach mehr über die Proteste und Motivation von Aktiven
erfahren, Menschen kennen lernen, Internationalität erleben. Und sie wollten wissen, wie sich
Globalisierungskritiker denn nun eine andere Welt vorstellen und ob und wie sie diese selbst leben. Der
Blick für mehr und auch fürs "Anderssein", weg vom Mainstream, hat sich geöffnet.
Und da ist jetzt die Erfahrung, dass Geld, Karriere und Angepasstheit nicht gottgegebene Grundwerte der
Menschheit in der sog. Zivilgesellschaft sein müssen. Das da noch anderes ist...
Viele Einwohner, nicht nur unmittelbare
Anlieger, schauten mal in die Camps, es gab erstaunte Blicke, Solidarität, Neugier, aber wenig
Ablehnung. Nein, die schlimmen Bilder von Rostock am 2. Juni sind nicht das, was blieb im Kreis Bad
Doberan.
Am Morgen des 3. Juni sah ich im Zelt der
Bundestagsfraktion der Linkspartei, das auf dem Doberaner Camp aufgebaut war, zahlreiche Einheimische,
Unternehmer, Verwaltungsbeschäftigte, Künstler, Rentner, Gymnasiasten eben quer durch. Es
überraschte und freute mich gleichermaßen und das Thema bei den Unterhaltungen war durchaus auch
die Gewalt, aber nicht ausschließlich und vor allem nicht unkritisch in Bezug auf die staatliche
Gewalt.
Der Bürgermeister von Reddelich, der
einiges im Vorfeld des Gipfels wagte, als er seine Zustimmung für die Einrichtung eines Camps gab, ist
der Meinung, dass es großartig war, einmalig für die Region. Er war täglich im Camp, kannte
jede Ecke und auch die Probleme. Und was sagt er nun: "Probleme? Ach, die paar Kleinigkeiten."
Bei dem, was hier stattgefunden hat, zeitweise seien 10000 Menschen aus der halben Welt in seiner Gemeinde
gewesen, da solle man die Schwierigkeiten mit Augenmaß sehen.
Der Hauptamtsleiter von Bad Doberan meint,
er habe das Engagement der Organisatoren und die Disziplin der meisten Demonstranten nur bewundern
können. Dass es möglich sei, Aktionen von Tausenden so zu koordinieren, wäre beeindruckend.
Er war täglich beim Infopoint auf dem Camp gewesen, und ich hörte von beiden Seiten, dass die
Zusammenarbeit klappte, sogar in der Frage der Dixis. Der Kröpeliner Bürgermeister kümmerte
sich ebenfalls täglich um "seinen" Infopoint. "Bunte, einfallsreiche Proteste",
sagt die Bad Doberaner Bürgervorsteherin.
Das Verbot des Sternmarschs sorgte
dafür, dass die Proteste von der Straße auf die Felder gezwungen wurden. Schneisen in den
Weizenfeldern die bringen Verluste und da kann man nicht auf Sympathiekundgebungen hoffen. Bauern
arbeiten hart und sind von der Globalisierung betroffen, aber wenn Einkommenseinbußen auf
Globalisierungsgegner zurückgehen, na ja.
Das politische Verständnis ist aber
da; denn sie fordern Schadensersatz von der Landesregierung. Da gehörts wohl auch hin! Denn wenn
ich jetzt Kavala als Adressat vorschlage, bleibts das gleiche: Mecklenburg-Vorpommerns Steuergelder
werden es letztendlich sein, und wir sind eh ein armes Land.
Obs dem Einzelhandel und dem
Tourismus geholfen hat keine Ahnung. Ich will es nicht grundsätzlich anzweifeln, denn irgendwer
wird schon mal ne Zahnbürste gekauft haben. Vollmundige Erklärungen dazu gibt es bereits
von Politikern, aber ich denke, da möchte ich abwarten und Zahlen sehen. Aber wenn ihr alle
wiederkommt dann klappts bestimmt mit dem Aufschwung Ost!
Ich denke, dass die Gipfelproteste viele
Menschen in der Region zumindest zum Nachdenken gebracht haben.
Die Meisten sind einfach nur froh, dass
alles vorbei ist. Gestern war ich in Heiligendamm und hab geguckt, was los ist, ich war auch in anderen
"betroffenen" Gebieten. Die Leute erobern sich einfach ihre Strandkörbe, den Strand, die
Eisdiele, ihre Spazierwege zurück es herrscht wieder Frieden. Alles war ziemlich ruhig, kein
Trubel, so als hätten alle zunächst Erholung nötig. Der Pavillon für die Gäste und
andere staatstragenden Gerüste werden abgerüstet und mir fehlt fast etwas nirgendwo ist
Polizei, nach den Monaten der Belagerung ungewohnt, die sind halt auch erholungsbedürftig.
Die Schlagzeilen in der Ostsee-Zeitung
lauten: "Eine Region atmet auf", "Doberan spürte Atem des Aufruhrs", "1200
Meter Stacheldraht weggeräumt". Wochen-, eher monatelang war die Situation hier angespannt, die
Polizeipräsenz teils unerträglich, und es wurde von Tag zu Tag heftiger. Die Einschränkungen
belasteten den Alltag der Menschen erheblich, dazu kamen die diffusen Ängste vor
Gewalttätigkeiten und den "Chaoten".
Birgit Schwebs, Landtagsabgeordnete der
Linkspartei, und viele Leute aus der Protestbewegung haben 16 Monate lang Aufklärungs- und
Informationsarbeit im Kreis geleistet, unzählige Gespräche geführt, insbesondere mit
Gipfelsoli-Aktivisten von Attac und der Camp AG. Das hat nicht unwesentlich zu einer guten Atmosphäre
in der Protestwoche beigetragen; denn es gab Verständnis und Solidarität von Einheimischen bei
den Blockaden in Börgerende, bei den Infopoints, den Camps in Wichmannsdorf und Reddelich.
In Bad Doberan und im Kreis gab es kaum
"zugenagelte" Ecken. In Rostock sieht das anders aus, zumindest geht das aus Berichten und
Leserbriefen hervor. Aber ich lebe nicht in Rostock und kann die Situation dort nicht wirklich beurteilen.
Ich danke allen, die die entschlossenen
Proteste hierher getragen haben, die ein Stück "große Politik" mitbrachten und manch
Entmutigtem im Osten auch zeigten, dass Widerstand möglich ist und wie.
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