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Mehr als 25 Jahre neoliberale Politik hat ihre Spuren hinterlassen. Es
ist kein Zufall, dass diese Fußabdrücke besonders bei den Gewerkschaften zu besichtigen sind. Sie
können ihren Gründungszweck, die Marktkonkurrenz derjenigen zu begrenzen, die um zu
überleben, ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, immer weniger erfüllen. Die Reallöhne
stagnieren oder sinken, die Arbeitszeiten werden in vielen Bereichen verlängert. Die Arbeitslosigkeit
zwingt viele, auch zu Dumpinglöhnen zu arbeiten. So frisst sich der Bereich prekärer Arbeit immer
weiter in die Arbeitsgesellschaft.
Die ständige und enorme Steigerung der
Arbeitsproduktivität und das Scheitern der Gewerkschaften in ihrem Bemühen, die Belegschaften
durch Arbeitszeitverkürzungen und Neueinstellungen daran zu beteiligen, hat aber auch dazu
geführt, dass die jahrzehntelange Praxis der "sozialverträglichen Abfederung" von
Entlassungen bei den abhängig Beschäftigten auf immer größere Ablehnung
stößt. Die Einführung von Hartz IV hat diese Entwicklung noch verschärft. Dies bildet
den Hintergrund für viele der aktuell mit Zähigkeit und Entschlossenheit geführten
Arbeitskämpfe, bei denen sich Menschen dagegen wehren, ausgegrenzt zu werden.
Exemplarisch lässt sich das am Streik
der Belegschaft der Bosch-Siemens-Hausgeräte (BSH) in Berlin demonstrieren. Hier wurden Mut machende
Erfahrungen bei der Entwicklung neuer Kampfformen gesammelt: Die Belegschaft hat sich in einer
dreiwöchigen Betriebsversammlung auf den Arbeitskampf vorbereitet und hat es verstanden, auch Bereiche
der Politik für sich zu einzuspannen. Über fünf Wochen hatte sie das Werksgelände
praktisch unter ihre Kontrolle gebracht und mit einem "Marsch der Solidarität" eine neue
Kampfform entwickelt, die geeignet ist, die traurige Praxis des "getrennt kämpfen und vereint
verlieren" zu überwinden.
In dem Marschflugblatt, das in einer
Auflage von 40000 gedruckt wurde, hieß es dazu:
"Die verschiedenen Standorte werden in
eine gnadenlose Konkurrenz getrieben. Wir wollen das nicht länger hinnehmen. Eine Belegschaft allein
kann einen internationalen Konzern wie Siemens nicht zur Aufgabe seiner Pläne zwingen. Wir sind auf
eure Unterstützung und Solidarität angewiesen. Wir sind nur ein Glied in der langen Kette von
Verlagerungen und Schließungen: Heidelberger Druckmaschinen in Kiel, Otis-Aufzüge in Stadthagen,
Infineon in München, AEG in Nürnberg und zuletzt CNH-Baugeräte in Berlin. In allen
Fällen haben sich die Belegschaften zur Wehr gesetzt. Sie mussten dabei die Erfahrung machen: In
Deutschland können sich die Konzernspitzen verhalten wie die Feudalherren vergangener Jahrhunderte.
Kein Gesetz schränkt ihre Vollmachten wirksam ein. Die Politiker bedauern das auf unseren
Streikversammlungen, doch geändert hat sich bisher nichts. Mit unserem Marsch der Solidarität
wollen wir darauf aufmerksam machen. Wir brauchen eine soziale Bewegung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die sich dagegen auflehnt. Wir setzen uns ein für: Mehr Mitbestimmungs- und
Kontrollrechte über Investitions- und Standortentscheidungen durch unsere Vertreter, durch
Betriebsräte und Gewerkschaften; für ein Verbot oder zumindest ein Moratorium bei
Massenentlassungen und Werksschließungen, wenn Konzerne schwarze Zahlen schreiben; für eine
Erweiterung des Streikrechts. Wir müssen das Recht haben, uns auch mit Arbeitsniederlegungen gegen
Entscheidungen von Unternehmen und Regierungen zu wehren. In anderen Ländern Europas ist das ein
selbstverständliches Recht der arbeitenden Menschen."
Die BSHler fuhren zum EKO-Stahlwerk in
Eisenhüttenstadt, zu AEG in Nürnberg und zu Siemens-Werken in NRW und in Baden-Württemberg.
Insbesondere in Kamp Linfort wurden sie von den BenQ-Kollegen und der Bevölkerung begeistert
empfangen. Die sich so entwickelnde Praxis von Belegschaftsbegegnungen schaffte auch die Grundlage
dafür, dass Siemens an den Verhandlungstisch zurückkehrte und zum zweiten Mal einen
Schließungsbeschluss aussetzte. Doch der Streik demonstrierte auch eine Vertrauenskrise der
gewerkschaftlichen Politik, die ihren sichtbaren Ausdruck darin findet, dass das Verhandlungsergebnis und
der Weg seines Zustandekommens von fast zwei Dritteln der Belegschaft abgelehnt wurde. Hier zeigte sich
eindrucksvoll, dass die klassische Stellvertreterpolitik an ihre Grenzen stößt und nur durch eine
stärkere Beteiligung und Selbstvertretung der Mitglieder überwunden werden kann.
Welche Richtung sollen die Gewerkschaften
einschlagen? Sollen sie, wie in den letzten Jahren üblich geworden, mit
Standortsicherungsvereinbarungen selbst einen Beitrag zur Senkung der Produktions- und Lohnkosten leisten?
Oder ist es nicht ihre Pflicht, die in jahrzehntelangen Bemühungen durchgesetzten Tarife und sozialen
Leistungen zu verteidigen? Wie kann eine betriebs- und branchenübergreifende Solidarisierung der
Betroffenen gelingen und ein offener Gegenangriff gegen die neoliberale Logik der Massenentlassungen und
Werkschließungen eingeleitet werden?
Diese Fragen spielten im Arbeitskampf der
Belegschaft vom Bosch-Siemens-Hausgerätewerk (BSH) in Berlin-Spandau eine wesentliche Rolle, und sie
stellen sich genauso für viele andere Belegschaften. Deshalb haben Kollegen von BSH und
Unterstützer des Arbeitskampfs in den letzten Monaten eine Dokumentation dieses ungewöhnlichen
Arbeitskampfs erstellt, um eine breite gewerkschaftliche Diskussion darüber zu fördern. Die
Dokumentation beschreibt die wichtigsten Stationen des Streiks und macht die Lernprozesse innerhalb der
Belegschaft transparent. Repräsentative Positionen werden in vier Interviews mit BSH-Kollegen
deutlich. Auch wird die Rolle der beteiligten Repräsentanten der IG Metall kritisch beleuchtet.
Die Broschüre hat 64 Seiten und wird
Ende Juni fertig sein. Sie kann bestellt werden unter utopiarossa@nickname. berlin.de. In einem zweiten
Schritt wird im September eine DVD mit einer umfangreichen Dokumentensammlung des Arbeitskampfs und einer
Kopie des 60-minütigem Films des Berliner Filmemachers Holger Wegemann erscheinen.
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