SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2007, Seite 06

Der Streik beim Bosch-Siemens-Hausgerätewerk in Berlin-Spandau

Neue Wege im Arbeitskampf

von Jochen Gester

Mehr als 25 Jahre neoliberale Politik hat ihre Spuren hinterlassen. Es ist kein Zufall, dass diese Fußabdrücke besonders bei den Gewerkschaften zu besichtigen sind. Sie können ihren Gründungszweck, die Marktkonkurrenz derjenigen zu begrenzen, die um zu überleben, ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, immer weniger erfüllen. Die Reallöhne stagnieren oder sinken, die Arbeitszeiten werden in vielen Bereichen verlängert. Die Arbeitslosigkeit zwingt viele, auch zu Dumpinglöhnen zu arbeiten. So frisst sich der Bereich prekärer Arbeit immer weiter in die Arbeitsgesellschaft.
Die ständige und enorme Steigerung der Arbeitsproduktivität und das Scheitern der Gewerkschaften in ihrem Bemühen, die Belegschaften durch Arbeitszeitverkürzungen und Neueinstellungen daran zu beteiligen, hat aber auch dazu geführt, dass die jahrzehntelange Praxis der "sozialverträglichen Abfederung" von Entlassungen bei den abhängig Beschäftigten auf immer größere Ablehnung stößt. Die Einführung von Hartz IV hat diese Entwicklung noch verschärft. Dies bildet den Hintergrund für viele der aktuell mit Zähigkeit und Entschlossenheit geführten Arbeitskämpfe, bei denen sich Menschen dagegen wehren, ausgegrenzt zu werden.
Exemplarisch lässt sich das am Streik der Belegschaft der Bosch-Siemens-Hausgeräte (BSH) in Berlin demonstrieren. Hier wurden Mut machende Erfahrungen bei der Entwicklung neuer Kampfformen gesammelt: Die Belegschaft hat sich in einer dreiwöchigen Betriebsversammlung auf den Arbeitskampf vorbereitet und hat es verstanden, auch Bereiche der Politik für sich zu einzuspannen. Über fünf Wochen hatte sie das Werksgelände praktisch unter ihre Kontrolle gebracht und mit einem "Marsch der Solidarität" eine neue Kampfform entwickelt, die geeignet ist, die traurige Praxis des "getrennt kämpfen und vereint verlieren" zu überwinden.
In dem Marschflugblatt, das in einer Auflage von 40000 gedruckt wurde, hieß es dazu:
"Die verschiedenen Standorte werden in eine gnadenlose Konkurrenz getrieben. Wir wollen das nicht länger hinnehmen. Eine Belegschaft allein kann einen internationalen Konzern wie Siemens nicht zur Aufgabe seiner Pläne zwingen. Wir sind auf eure Unterstützung und Solidarität angewiesen. Wir sind nur ein Glied in der langen Kette von Verlagerungen und Schließungen: Heidelberger Druckmaschinen in Kiel, Otis-Aufzüge in Stadthagen, Infineon in München, AEG in Nürnberg und zuletzt CNH-Baugeräte in Berlin. In allen Fällen haben sich die Belegschaften zur Wehr gesetzt. Sie mussten dabei die Erfahrung machen: In Deutschland können sich die Konzernspitzen verhalten wie die Feudalherren vergangener Jahrhunderte. Kein Gesetz schränkt ihre Vollmachten wirksam ein. Die Politiker bedauern das auf unseren Streikversammlungen, doch geändert hat sich bisher nichts. Mit unserem Marsch der Solidarität wollen wir darauf aufmerksam machen. Wir brauchen eine soziale Bewegung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich dagegen auflehnt. Wir setzen uns ein für: Mehr Mitbestimmungs- und Kontrollrechte über Investitions- und Standortentscheidungen durch unsere Vertreter, durch Betriebsräte und Gewerkschaften; für ein Verbot oder zumindest ein Moratorium bei Massenentlassungen und Werksschließungen, wenn Konzerne schwarze Zahlen schreiben; für eine Erweiterung des Streikrechts. Wir müssen das Recht haben, uns auch mit Arbeitsniederlegungen gegen Entscheidungen von Unternehmen und Regierungen zu wehren. In anderen Ländern Europas ist das ein selbstverständliches Recht der arbeitenden Menschen."
Die BSHler fuhren zum EKO-Stahlwerk in Eisenhüttenstadt, zu AEG in Nürnberg und zu Siemens-Werken in NRW und in Baden-Württemberg. Insbesondere in Kamp Linfort wurden sie von den BenQ-Kollegen und der Bevölkerung begeistert empfangen. Die sich so entwickelnde Praxis von Belegschaftsbegegnungen schaffte auch die Grundlage dafür, dass Siemens an den Verhandlungstisch zurückkehrte und zum zweiten Mal einen Schließungsbeschluss aussetzte. Doch der Streik demonstrierte auch eine Vertrauenskrise der gewerkschaftlichen Politik, die ihren sichtbaren Ausdruck darin findet, dass das Verhandlungsergebnis und der Weg seines Zustandekommens von fast zwei Dritteln der Belegschaft abgelehnt wurde. Hier zeigte sich eindrucksvoll, dass die klassische Stellvertreterpolitik an ihre Grenzen stößt und nur durch eine stärkere Beteiligung und Selbstvertretung der Mitglieder überwunden werden kann.
Welche Richtung sollen die Gewerkschaften einschlagen? Sollen sie, wie in den letzten Jahren üblich geworden, mit Standortsicherungsvereinbarungen selbst einen Beitrag zur Senkung der Produktions- und Lohnkosten leisten? Oder ist es nicht ihre Pflicht, die in jahrzehntelangen Bemühungen durchgesetzten Tarife und sozialen Leistungen zu verteidigen? Wie kann eine betriebs- und branchenübergreifende Solidarisierung der Betroffenen gelingen und ein offener Gegenangriff gegen die neoliberale Logik der Massenentlassungen und Werkschließungen eingeleitet werden?
Diese Fragen spielten im Arbeitskampf der Belegschaft vom Bosch-Siemens-Hausgerätewerk (BSH) in Berlin-Spandau eine wesentliche Rolle, und sie stellen sich genauso für viele andere Belegschaften. Deshalb haben Kollegen von BSH und Unterstützer des Arbeitskampfs in den letzten Monaten eine Dokumentation dieses ungewöhnlichen Arbeitskampfs erstellt, um eine breite gewerkschaftliche Diskussion darüber zu fördern. Die Dokumentation beschreibt die wichtigsten Stationen des Streiks und macht die Lernprozesse innerhalb der Belegschaft transparent. Repräsentative Positionen werden in vier Interviews mit BSH-Kollegen deutlich. Auch wird die Rolle der beteiligten Repräsentanten der IG Metall kritisch beleuchtet.
Die Broschüre hat 64 Seiten und wird Ende Juni fertig sein. Sie kann bestellt werden unter utopiarossa@nickname. berlin.de. In einem zweiten Schritt wird im September eine DVD mit einer umfangreichen Dokumentensammlung des Arbeitskampfs und einer Kopie des 60-minütigem Films des Berliner Filmemachers Holger Wegemann erscheinen.


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