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Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hat mit 30 Personen die
Demonstrationen rund um Rostock und Heiligendamm beobachtet. Die SoZ sprach mit Elke Steven, Mitarbeiterin
des Komitees in Köln.
Es gibt im Internet Hinweise darauf, dass die Auseinandersetzungen am 2. Juni am Rostocker
Stadthafen von der Polizei ausgegangen seien. Wie stellt sich das aus eurer Sicht dar?
Wir haben beobachtet, dass kurz vor 15 Uhr eine kleine Gruppe einer Beweissicherungs- und
Festnahmeeinheit der Polizei in die Demonstration reingegangen ist. Das wurde aus der Demonstration heraus
sofort mit einem massiven Hagel von Steinen, Flaschen, Holzstielen beantwortet, dann eskalierte es immer
weiter auf beiden Seiten. Ich glaube es wäre falsch, die Verantwortung für diese
Auseinandersetzungen nur einer Seite zuzuschreiben.
Man muss sehen, dass dieses Konzept der
Polizei, in eine normale Demonstration hineinzugehen, um dort Leute festzunehmen, schon ein eskalierendes
Konzept der Polizei ist; das dürfte nicht passieren, es schafft Unruhe, es schafft für alle
Beteiligten eine Bedrohung.
Gleichzeitig waren wir aber auch sehr
entsetzt darüber, in welchem Maß durch die Steinwürfe demonstrierende Teilnehmer
überrascht und selber gefährdet wurden.
War zu dem Zeitpunkt, wo die Polizei in die Demonstration hineingegangen ist, schon etwas
vorgefallen, oder schien das grundlos?
Während des Demonstrationszugs vom Hauptbahnhof aus ist zwar nicht viel vorgefallen, aber es ist
natürlich etwas vorgefallen: es wurden die Scheiben einer Stadtsparkasse eingeschlagen, von einem
Polizeiauto wurden die Fensterscheiben demoliert, es hat eine Leuchtrakete gegeben...
Kannst du erklären, was die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) sind?
Einige Länder haben vor zehn Jahren angefangen, solche BFE-Einheiten aufzubauen. Das sind kleine
Gruppen, die relativ autonom innerhalb des Polizeiapparats agieren. Zu deren Konzept gehört dazu, dass
Zivilpolizei in die Demonstration eingeschleust wird, die vor, während und nach den Einsätzen in
direktem Kontakt mit den Einheiten stehen und von diesen eingesetzt werden. Zu diesem Konzept zählt
weiter, dass die Polizei "erkannte Gewalttäter" aus der Mitte der Demonstration aus
festnimmt. Darüber entscheiden diese Einheiten wohl auch selbstständig, was sie insgesamt
unkontrollierbar macht. Auf der anderen Seite agieren sie, da sie in kleinen Gruppen in die Demonstration
hineingehen, auch immer wieder in gefährdeten Situationen und entwickeln dadurch, trotz ihres hohen
Kleidungsschutzes, einen sehr starken Korpsgeist.
Das heißt aber doch, dass von verantwortlicher Seite damit Einheiten geschaffen werden, die
sich autonomisieren und damit unkontrollierbar werden können.
Die Autonomisierung gehört zum Konzept dieser Einheiten dazu. Nicht alle Länder haben diese
Einheiten: Thüringen ist dabei, erstmals wurden sie in Hessen 1985 geschaffen im Zuge der
Auseinandersetzung um die Startbahn West.
Dann muss man nicht länger darüber lamentieren, die Koordination zwischen den
Polizeieinheiten habe nicht geklappt, wenn die Aktionen der Polizei wesentlich auf solchen Einheiten
beruhen. Da liegt es ja geradezu nahe, dass eine Koordination schwierig ist, wenn die Polizeieinheiten
selbst vor Ort für Unruhe sorgen.
Ich glaube nicht, dass es bei der Polizei Kommunikationsprobleme gegeben hat. Wenn solche Einheiten
eingesetzt werden, müssen alle anderen eigentlich wissen, nach welchem Konzept diese arbeiten. Es kann
natürlich immer sein, dass bestimmte Einheiten nicht mit deren Einsatz gerechnet haben. Ich glaube
aber, dass sie gemäß ihrem Auftrag gehandelt haben, die Festnahmen vorzunehmen. Sie gehen immer
auch mit Videokameras in die Demonstration rein, um weitere Straftäter dingfest zu machen.
Ihr habt doch sicher einen Überblick über die Festnahmen, die es real gegeben hat.
Entsprechen die Festnahmen denn den Demonstrierenden, die mutmaßlich an den Auseinandersetzungen
beteiligt waren? Oder betrafen die Festnahmen hauptsächlich friedliche Demonstranten?
Das ist für uns kaum nachvollziehbar. Es hat in der Situation selbst soweit wir wissen gar nicht
so viele Festnahmen gegeben; es hat in den darauf folgenden Tagen immer wieder Festnahmen gegeben, weil
Gruppen von Polizisten mit Fotos herumliefen und willkürlich Leute aus der Demonstration griffen, von
denen sie glaubten, dass sie den gesuchten Straftätern entsprechen würden. Es gab die Aussage
eines Polizeibeamten, die sähen ja alle gleich aus, aber sie würden schon die Richtigen
rausziehen. Es kam auch vor, dass nach einer weiteren Fotokontrolle die Betroffenen wieder laufen gelassen
wurden. Die Festnahmen müssen oft in einer unglaublichen Härte und Brutalität erfolgt sein.
Davon waren auch immer wieder Leute betroffen, die einfach nur gestört haben, z.B. die
Rechtsanwälte.
Es ist auch überhaupt nicht
nachvollziehbar, dass 500 Festnahmen von etwa 1000 allein am Donnerstag erfolgten ein Tag also, an
dem es, wie seit einer Weile, keine Straftaten mehr gegeben hatte.
Das klingt sehr nach Rache...
Die Rache war aber Sonntag und Montag viel nachvollziehbarer als am Donnerstag. Mittwoch war der
große Zug der Gewaltfreien, das Fünf-Finger-System, wo ganz offenkundig war, dass von den
Demonstrierenden keine Gewalt ausgegangen ist, und am Donnerstag gab es dann so viele Festnahmen...
Wahrscheinlich haben sie sich geärgert, dass die Demonstranten bis an den Zaun gekommen
sind...
Dazu muss man sagen, mindestens an einem Ort, wo es Sitzblockaden gegeben hat, sind
niedersächsische Einheiten eingesetzt worden. Bei denen ist davon auszugehen, dass sie das
Blockadekonzept aus dem Wendland sehr gut kennen. Ich habe auch gehört, dass es am Tag vorher noch ein
Gespräch mit der Einsatzleitung gegeben hat, an dem auch jemand aus den niedersächsischen
Einheiten beteiligt war, der sich sehr gut mit diesem Konzept auskannte. Das heißt, die Polizei wusste
genau, welches Konzept da verfolgt wurde, wie gewaltlos das war, und sie hat trotzdem Wasserwerfer und
Tränengas eingesetzt. Zumindest der Einsatzleitung ist zu unterstellen, dass sie wusste, dass die
Blockaden mit ihrem Fünf-Finger-Konzept letztlich erfolgreich sein würden.
Das Konzept der BFE erleichtert natürlich auch den Einsatz von Provokateuren, den es
offenkundig auch gegeben hat...
Zu diesem BFE-Konzept gehört explizit, dass zivile Beamte mit eingesetzt werden, die an den
Gruppen dran bleiben, die auch im Outfit der jeweiligen Gruppen, also z.B. im autonomen Outfit, eingesetzt
werden. All das ist nicht überraschend, sondern gehört zum Konzept dazu. In diesem Fall gibt es
Zeugenaussagen, dass diese Leute mindestens in einem Fall auch zum Werfen von Steinen aufgefordert haben
bzw. einen Stein selber in Richtung Polizei geworfen haben. Theoretisch gehört das nicht mehr zum
Konzept, da soll die Staatsanwaltschaft Bremen jetzt auch überprüfen, ob sie Strafantrag stellt.
Ist das denn legal? Das ist doch ein Polizeikonzept, das offen erklärt: Wir gehen hart an den
Rand des Aufmischens der Demonstration von innen.
Für meine Begriffe ist das nicht mehr legal. Das geht weit über das hinaus, was polizeilicher
Auftrag ist, also Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und Strafverfolgung. Und nicht das
Begleiten der Straftäter im Vorfeld und erst recht nicht das eigene Aufrufen zu Straftaten... Das
Konzept muss dringend öffentlich diskutiert werden, es ist viel zu lange unbeachtet geblieben.
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