SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2007, Seite 14

"Die Polizei hat eskaliert"

Interview mit Elke Steven

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hat mit 30 Personen die Demonstrationen rund um Rostock und Heiligendamm beobachtet. Die SoZ sprach mit Elke Steven, Mitarbeiterin des Komitees in Köln.
Es gibt im Internet Hinweise darauf, dass die Auseinandersetzungen am 2. Juni am Rostocker Stadthafen von der Polizei ausgegangen seien. Wie stellt sich das aus eurer Sicht dar?

Wir haben beobachtet, dass kurz vor 15 Uhr eine kleine Gruppe einer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit der Polizei in die Demonstration reingegangen ist. Das wurde aus der Demonstration heraus sofort mit einem massiven Hagel von Steinen, Flaschen, Holzstielen beantwortet, dann eskalierte es immer weiter auf beiden Seiten. Ich glaube es wäre falsch, die Verantwortung für diese Auseinandersetzungen nur einer Seite zuzuschreiben.
Man muss sehen, dass dieses Konzept der Polizei, in eine normale Demonstration hineinzugehen, um dort Leute festzunehmen, schon ein eskalierendes Konzept der Polizei ist; das dürfte nicht passieren, es schafft Unruhe, es schafft für alle Beteiligten eine Bedrohung.
Gleichzeitig waren wir aber auch sehr entsetzt darüber, in welchem Maß durch die Steinwürfe demonstrierende Teilnehmer überrascht und selber gefährdet wurden.

War zu dem Zeitpunkt, wo die Polizei in die Demonstration hineingegangen ist, schon etwas vorgefallen, oder schien das grundlos?

Während des Demonstrationszugs vom Hauptbahnhof aus ist zwar nicht viel vorgefallen, aber es ist natürlich etwas vorgefallen: es wurden die Scheiben einer Stadtsparkasse eingeschlagen, von einem Polizeiauto wurden die Fensterscheiben demoliert, es hat eine Leuchtrakete gegeben...

Kannst du erklären, was die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) sind?

Einige Länder haben vor zehn Jahren angefangen, solche BFE-Einheiten aufzubauen. Das sind kleine Gruppen, die relativ autonom innerhalb des Polizeiapparats agieren. Zu deren Konzept gehört dazu, dass Zivilpolizei in die Demonstration eingeschleust wird, die vor, während und nach den Einsätzen in direktem Kontakt mit den Einheiten stehen und von diesen eingesetzt werden. Zu diesem Konzept zählt weiter, dass die Polizei "erkannte Gewalttäter" aus der Mitte der Demonstration aus festnimmt. Darüber entscheiden diese Einheiten wohl auch selbstständig, was sie insgesamt unkontrollierbar macht. Auf der anderen Seite agieren sie, da sie in kleinen Gruppen in die Demonstration hineingehen, auch immer wieder in gefährdeten Situationen und entwickeln dadurch, trotz ihres hohen Kleidungsschutzes, einen sehr starken Korpsgeist.

Das heißt aber doch, dass von verantwortlicher Seite damit Einheiten geschaffen werden, die sich autonomisieren und damit unkontrollierbar werden können.

Die Autonomisierung gehört zum Konzept dieser Einheiten dazu. Nicht alle Länder haben diese Einheiten: Thüringen ist dabei, erstmals wurden sie in Hessen 1985 geschaffen — im Zuge der Auseinandersetzung um die Startbahn West.

Dann muss man nicht länger darüber lamentieren, die Koordination zwischen den Polizeieinheiten habe nicht geklappt, wenn die Aktionen der Polizei wesentlich auf solchen Einheiten beruhen. Da liegt es ja geradezu nahe, dass eine Koordination schwierig ist, wenn die Polizeieinheiten selbst vor Ort für Unruhe sorgen.

Ich glaube nicht, dass es bei der Polizei Kommunikationsprobleme gegeben hat. Wenn solche Einheiten eingesetzt werden, müssen alle anderen eigentlich wissen, nach welchem Konzept diese arbeiten. Es kann natürlich immer sein, dass bestimmte Einheiten nicht mit deren Einsatz gerechnet haben. Ich glaube aber, dass sie gemäß ihrem Auftrag gehandelt haben, die Festnahmen vorzunehmen. Sie gehen immer auch mit Videokameras in die Demonstration rein, um weitere Straftäter dingfest zu machen.

Ihr habt doch sicher einen Überblick über die Festnahmen, die es real gegeben hat. Entsprechen die Festnahmen denn den Demonstrierenden, die mutmaßlich an den Auseinandersetzungen beteiligt waren? Oder betrafen die Festnahmen hauptsächlich friedliche Demonstranten?

Das ist für uns kaum nachvollziehbar. Es hat in der Situation selbst soweit wir wissen gar nicht so viele Festnahmen gegeben; es hat in den darauf folgenden Tagen immer wieder Festnahmen gegeben, weil Gruppen von Polizisten mit Fotos herumliefen und willkürlich Leute aus der Demonstration griffen, von denen sie glaubten, dass sie den gesuchten Straftätern entsprechen würden. Es gab die Aussage eines Polizeibeamten, die sähen ja alle gleich aus, aber sie würden schon die Richtigen rausziehen. Es kam auch vor, dass nach einer weiteren Fotokontrolle die Betroffenen wieder laufen gelassen wurden. Die Festnahmen müssen oft in einer unglaublichen Härte und Brutalität erfolgt sein. Davon waren auch immer wieder Leute betroffen, die einfach nur gestört haben, z.B. die Rechtsanwälte.
Es ist auch überhaupt nicht nachvollziehbar, dass 500 Festnahmen von etwa 1000 allein am Donnerstag erfolgten — ein Tag also, an dem es, wie seit einer Weile, keine Straftaten mehr gegeben hatte.

Das klingt sehr nach Rache...

Die Rache war aber Sonntag und Montag viel nachvollziehbarer als am Donnerstag. Mittwoch war der große Zug der Gewaltfreien, das Fünf-Finger-System, wo ganz offenkundig war, dass von den Demonstrierenden keine Gewalt ausgegangen ist, und am Donnerstag gab es dann so viele Festnahmen...

Wahrscheinlich haben sie sich geärgert, dass die Demonstranten bis an den Zaun gekommen sind...

Dazu muss man sagen, mindestens an einem Ort, wo es Sitzblockaden gegeben hat, sind niedersächsische Einheiten eingesetzt worden. Bei denen ist davon auszugehen, dass sie das Blockadekonzept aus dem Wendland sehr gut kennen. Ich habe auch gehört, dass es am Tag vorher noch ein Gespräch mit der Einsatzleitung gegeben hat, an dem auch jemand aus den niedersächsischen Einheiten beteiligt war, der sich sehr gut mit diesem Konzept auskannte. Das heißt, die Polizei wusste genau, welches Konzept da verfolgt wurde, wie gewaltlos das war, und sie hat trotzdem Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt. Zumindest der Einsatzleitung ist zu unterstellen, dass sie wusste, dass die Blockaden mit ihrem Fünf-Finger-Konzept letztlich erfolgreich sein würden.

Das Konzept der BFE erleichtert natürlich auch den Einsatz von Provokateuren, den es offenkundig auch gegeben hat...

Zu diesem BFE-Konzept gehört explizit, dass zivile Beamte mit eingesetzt werden, die an den Gruppen dran bleiben, die auch im Outfit der jeweiligen Gruppen, also z.B. im autonomen Outfit, eingesetzt werden. All das ist nicht überraschend, sondern gehört zum Konzept dazu. In diesem Fall gibt es Zeugenaussagen, dass diese Leute mindestens in einem Fall auch zum Werfen von Steinen aufgefordert haben bzw. einen Stein selber in Richtung Polizei geworfen haben. Theoretisch gehört das nicht mehr zum Konzept, da soll die Staatsanwaltschaft Bremen jetzt auch überprüfen, ob sie Strafantrag stellt.

Ist das denn legal? Das ist doch ein Polizeikonzept, das offen erklärt: Wir gehen hart an den Rand des Aufmischens der Demonstration von innen.

Für meine Begriffe ist das nicht mehr legal. Das geht weit über das hinaus, was polizeilicher Auftrag ist, also Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und Strafverfolgung. Und nicht das Begleiten der Straftäter im Vorfeld und erst recht nicht das eigene Aufrufen zu Straftaten... Das Konzept muss dringend öffentlich diskutiert werden, es ist viel zu lange unbeachtet geblieben.


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