SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2007, Seite 25

1944 – Massaker in Distoma

Keine Versöhnung mit der Vergangenheit

Ein Lied für Argyris, Schweiz 2006, Regie: Stefan Haupt

von Paul B. Kleiser

Der Film erzählt von Massakern der Wehrmacht in Griechenland 1944. Die jüngste Entscheidung eines italienischen Gerichts, die Opfer durch Enteignung deutschen Eigentums in Italien zu entschädigen, verleiht ihm ungewollte Aktualität.

Als Mussolini im Frühjahr 1941 versuchte, weite Teile des Balkans zu annektieren, kam es sowohl in Jugoslawien wie in Griechenland zu so heftiger Gegenwehr, dass eine Niederlage der italienischen Truppen drohte. Hitler eilte Mussolini zu Hilfe, was bewirkte, dass die Wehrmacht Moskau nicht vor Einbruch des Winters 1941 einnehmen konnte.
Der massive Widerstand auf dem Balkan mit Angriffen zahlreicher Partisanengruppen auf die Besatzer führte zu einer Brutalisierung des Krieges mit zahlreichen Massakern. Eine ähnliche Entwicklung gab es 1944, als sich die Niederlage der faschistischen Länder immer deutlicher abzeichnete.
In Griechenland kam es in fast 500 Dörfern und Städten zu solchen Bluttaten; die bekanntesten betroffenen Orte sind Kalavrita auf dem Peloponnes, Kandanos auf Kreta und Distomo in der Nähe von Delphi (wo auch etwa 50 Dörfer niedergebrannt wurden).
Nach dem Krieg verlangte Griechenland von der BRD Reparationszahlungen in Höhe von 7 Milliarden Dollar, doch der Kalte Krieg und schließlich die NATO-Mitgliedschaft beider Länder verhinderten sowohl die Zahlungen wie auch eine ernsthafte Beschäftigung mit den Verbrechen der Wehrmacht (dasselbe gilt übrigens für Italien).
Der Film Ein Lied für Argyris des Schweizers Stefan Haupt rollt die Problematik am Beispiel von Argyris Sfountouris auf, der beim Massaker von Distomo 1944 die Eltern und dreißig weitere Familienmitglieder verlor — 218 Bewohner wurden damals ermordet — und 1948 im Zuge einer "humanitären Aktion" in die Schweiz gebracht wurde, wo er in einem Pestalozzi-Dorf aufwuchs, das ungesühnte Verbrechen der Nazizeit aufarbeitete.
Es ist ein unglaublich bewegender Dokumentarfilm entstanden. Das Material, in langen Recherchen zusammengetragen, wird durch eine bestimmte filmische Montage zum Sprechen gebracht, ohne mit belanglosen Kommentaren oder dem erhobenen Zeigefinger herumzufuchteln.
Zunächst geht es um den Zeitzeugen Argyris Sfountouris; das nach dem Massaker aufgenommene Bild des fünfjährigen Jungen mit zwei wie Nonnen gekleideten trauernden Frauen im Hintergrund — man denkt sofort an eine griechische Tragödie — begleitet den Film wie ein Erkennungszeichen.
Argyris konnte in der Schweiz Abitur machen und studieren; er arbeitete als Lehrer und später als Astrophysiker an der ETH in Zürich und ist inzwischen Rentner. Es könnte also eine bürgerliche Erfolgsgeschichte eines gelungenen Aufstiegs sein, wären da nicht die Erinnerungen und das Trauma eines Mannes, der keine "Versöhnung" mit der Vergangenheit finden kann.
Zunächst ist da das Problem, dass er die "Tätersprache" spricht (wenn auch in schwyzerdütscher Form), was bei seinen frühen Besuchen in der Heimat zu erheblichen Verstörungen führt. Aber auch Opfer verhalten sich nicht per se "moralisch besser", wie man am Ausschnitt aus einem Spielfilm sehen kann, der 1953 im Pestalozzi-Dorf mit Argyris in einer Nebenrolle gedreht wurde, und der auf der Berlinale sogar einen Preis gewann. Darin geht es um eine Hetzjagd auf die Täter, in diesem Fall deutsche Kinder, die verfolgt und verprügelt werden. Argyris hat heute ein sehr kritisches Verhältnis zu diesem Film, weil er die Täterfrage in nationalen und nicht in moralischen Kriterien angeht.
Argyris Sfountouris politisierte sich im Kampf gegen die Militärdiktatur der Obristen 1967—1974, wobei er sich vor allem mit Öffentlichkeitsarbeit über die Verbrechen der von den Westmächten ausgehaltenen Diktatoren hervortat. Gleichzeitig begann er, Werke griechischer Schriftsteller und Lyriker ins Deutsche zu übertragen und zu veröffentlichen. Spuren dieser (oft nur hektografierten) Arbeiten sind noch in einem Antiquariat zu sehen.
Zusammen mit anderen forderte Argyris Gerechtigkeit für die Opfer von Distomo. Die volle völkerrechtliche Souveränität Deutschlands nach 1990 schien eine Chance zu bieten, die unter dem Deckel gehaltenen Forderungen der Opfer endlich durchzusetzen. Griechische Gerichte entschieden zugunsten der Klagenden und im Jahre 2000 war man dabei, deutsches Eigentum in Griechenland zu pfänden, als unter deutschem Druck und einer politischen Entscheidung der griechischen Regierung die Opfer wieder leer ausgingen. Klagen in Deutschland waren bislang erfolglos.
Der Bundesgerichtshof erkannte zwar an, dass in Distomo eines "der abscheulichsten Kriegsverbrechen" begangen worden sei, das Massaker sei jedoch "eine Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung" gewesen, weshalb den Opfern von Rechts wegen keine Entschädigung zustünde. Das Gericht machte sich damit auch noch die Lüge des (später im Osten gefallenen) SS-Hauptsturmführers Fritz Lautenbach zu eigen, der für den Distomo-Einsatz verantwortlich gewesen war; gegen ihn hatte sogar die Feldpolizei der Wehrmacht ein Ermittlungsverfahren angestrengt.
Nachdem sowohl die griechischen als auch deutsche Klagen umsonst waren, konnten die Familien der 218 Opfer von Distomo endlich in Italien einen Erfolg erzielen: ein Florentiner Gericht verfügte die Pfändung deutscher Besitztümer in Italien — zwei Villen am Comer See, darunter das deutsch-italienische Tagungszentrum "Villa Vigoni". Das Auswärtige Amt hat den Vorgang bislang nicht kommentiert, will die Entscheidung jedoch vor dem Kassationsgericht in Rom anfechten.

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