SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 03

Wer und was steckt hinter der Milchpreiserhöhung?

Freihandel mit Nahrungsmitteln ist ein Verbrechen

Der Lebensmittelindustrie auf den Zahn gefühlt

von Angela Klein

Mir nichts, dir nichts haben die Lebensmittelketten im Juli/August die Preise für Molkereiprodukte teilweise um die Hälfte erhöht. Die Begründungen, die sie dafür gegeben haben, können nicht unwidersprochen bleiben.
Wenn es nach der veröffentlichten Meinung geht — und das ist in diesem Fall die Meinung des Milchindustrieverbands, des Einzelhandels und des Deutschen Bauernverbands — kann sich der Verbraucher in Deutschland glücklich schätzen, dass die jüngste Preiserhöhung vor allem im Bereich der Molkereiprodukte (aber Getreideprodukte und Fleisch ziehen schon nach) so "moderat" ausgefallen ist. Die Butter wird um 50% teurer? Das ist doch gerade mal das Niveau von vor 20 Jahren. Quark wird um 40% teurer, Milch um 10%? Das ist für die Verbraucher durchaus verkraftbar, "schließlich sind ja auch die Löhne in den vergangenen Jahren gestiegen", rechtfertigt sich der Präsident des Deutschen Bauernverbands (DBV), Gerd Sonnleitner.
Der Präsident hat da was nicht mitbekommen. Die Summe der Nettolöhne und -gehälter ist in den letzten 15 Jahren gesunken — das konnten sie u.a. deshalb, weil die Lebensmittelpreise so stark gesunken sind und heute nur noch 12% der Ausgaben eines durchschnittlichen Haushalts ausmachen.
Es sieht ganz danach aus, als wollten die großen Lebensmittelketten zu den alten Zeiten zurück, als die Ausgaben fürs Essen ein Drittel bis die Hälfte der Ausgaben des durchschnittlichen Einkommens verschlangen. Sie verstecken sich hinter dem Rücken der Bauern: "Nahrungsmittel werden schon lange nicht mehr zu den Preisen produziert, für die sie im Laden erhältlich sind; das widerspricht den Regeln des Marktes" (Ostsee-Zeitung). Das Dumme ist nur: Von den drastischen Preissteigerungen bei Aldi, Rewe und den anderen bleibt beim Erzeuger kaum etwas hängen. Der Bauer wird für den Liter Milch bestenfalls 5 Cent mehr erhalten, bei Aldi zahlt man aber 10 Cent mehr für den Liter Milch und 40 Cent mehr für das Pfund Butter. "Das wiegt nicht einmal die Kostensteigerungen auf, die wir in den letzten Jahren hatten", kommentiert ein Vertreter der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL). Allein Düngemittel seien seit der Jahrtausendwende um 35% teurer geworden, während der Milchpreis bis zum Jahr 2006 stetig gefallen ist. Die Differenz streichen die Discounter und die Molkereien ein.
Seit Anfang Mai sind die Milchbauern deshalb mehrfach für mindestens 40 Cent pro Liter auf die Straße gegangen. Gibt es in der Bevölkerung großes Verständnis für die Erhöhung der Erzeugerpreise, so gibt es null Verständnis für den Umfang der jüngsten Preissteigerungen.

Totschlagargument Globalisierung

Molkereien und Discounter weichen daher schnell und gern auf ein anderes Argument aus: die Globalisierung. Angeblich ist der Asiate an der Teuerung schuld, weil "mit dem wachsenden Wohlstand in Ländern wie Russland, China oder Indien die Nachfrage nach hochwertigen Milchprodukten gestiegen ist", schreibt die Märkische Allgemeine. Eckhard Heuser vom Verband der Milchindustrie präzisiert: Dass China gegenwärtig mehr Milchprodukte aus Europa importiere, hänge vor allem mit Dürreperioden in Australien und Neuseeland zusammen, die normalerweise Asien belieferten. Alternativ sind auch andere Erklärungen im Angebot: Die Milchproduktion in Deutschland sei zugunsten der Bioenergiegewinnung zurückgegangen.
Eine neue, von der AbL und Misereor herausgegebene Studie über Milchwirtschaft in Deutschland und der EU kommt zu anderen Ergebnissen. Danach kamen im Jahr 2005 87% der Exporteinnahmen der deutschen Molkereiwirtschaft aus EU- Mitgliedsländern; nur 13% aus Nicht-EU-Ländern. Hauptabnehmer unter den Letzteren sind (in abnehmender Reihenfolge): Saudi-Arabien, Libyen, Kuwait, Russland, Ägypten. Dies bestätigt auch die nebenstehende Grafik, die mit Zahlen des Statistischen Bundesamts arbeitet.
Die Fuldaer Zeitung scheint der Wahrheit ein Stück näher zu kommen, wenn sie schreibt: "Der Löwenanteil scheint bei Molkereien und im Handel hängen zu bleiben, wo die langfristigen Lieferverträge ausgelaufen sind und neue Kontrakte die Möglichkeit bieten, die Profite zu erhöhen." Dass sie sich dabei nicht nach den Erzeugerpreisen, sondern nach dem richten, was sie meinen, was der Markt hergibt, dieser Verdacht dämmert auch den Bundesbehörden.
Der Milchindustrieverband (MIV) und die Zentrale Markt- und Preisberichtstelle (ZMP) (ein Institut für Marktanalyse) haben jetzt das Bundeskartellamt am Hals. "Interessant ist vor allem, dass die ZMP und die Milchindustrie vier Tage vor einer Preiserhöhung Endpreise bis auf den Cent genau ankündigten", sagt der Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, Gerd Billen. Es gibt rund 100 Molkereien in Deutschland und fünf landesweit operierende Lebensmittelketten, die zwei Drittel des Marktes kontrollieren; die nutzen ihre Monopolstellung auf dem Markt, um die Preise zu diktieren.
Das einzige, was sie darin bisher noch einschränkt, ist die Beschränkung der Milchproduktion durch die EU-Milchquote. Sie beschreibt Obergrenzen für die Milchproduktion in der gesamten EU, die bis zum Jahr 2015 gelten. Sie war seinerzeit eingeführt worden, um die Bauern vor einem durch Überproduktion bedingten ruinösen Preisdumping zu schützen. Obwohl die Milchquote 10% über dem Bedarf der EU liegt, mithin Raum für Exporte in Nicht-EU-Länder lässt, wollen Milchindustrie, Handel und Nahrungsmittelkonzerne wie Nestlé, die mit Milchpulver viel Geld verdienen, die Milchquote kippen.
In der Öffentlichkeit wird behauptet, auch die Bauern seien für die Abschaffung der Milchquote. Dem widerspricht die ABL energisch. "Die Mehrheit der Milchbauern (57% laut Umfragen) ist gegen die Abschaffung der Quote", schreibt ihr Organ, die Unabhängige Bauernstimme. Das gelte auch für den Deutschen Bauernverband, zu dem die ABL in Konkurrenz steht. Der Verbandstag des DBV, der Deutsche Bauerntag (27.6.—1.7. in Bamberg), stimmte für das Auslaufen der Milchquote 2015. Doch die Bauernstimme beschreibt, wie die Delegierten von den Funktionären über den Tisch gezogen wurden. Die Funktionäre des Bauernverbands halten es mit der Industrie, wie auch Horst Seehofer.

Wer profitiert vom Freihandel?

Industrie und Handel nutzen die jetzigen Preissteigerungen, um den Verbraucher in Stellung gegen die Beibehaltung der Milchquote zu bringen. Sie argumentieren: Um die Preise wieder ins Lot zu bringen, muss das Angebot steigen. Die Milchseen sind ausgetrocknet; damit die Milch wieder fließt, muss der Bauer die Produktion kurzfristig steigern können — das aber verhindert die von der EU festgesetzt Milchquote. Ihre Aufhebung käme demnach allen zugute: dem Milchbauern, weil er mehr produzieren und damit mehr verdienen kann; dem Verbraucher, weil der Preis dann angeblich wieder sinkt; der Industrie, weil sie dann mehr exportieren kann. "Die Landwirtschaft profitiert von der Globalisierung", schreibt die Märkische Allgemeine.
Die Landwirtschaft oder die Industrie? Was verdient der Milchbauer an der Aufhebung der Milchquote, und was Nestlé? Und wie kommt es, dass ausgerechnet die Milchbauern gegen die Aufhebung der Quote auf die Straße gehen?
Der Tagesspiegel schiebt hinterher: "Wollen die Europäer ernsthaft einen freien Welthandel, ist jetzt die Zeit, die Exportsubventionen für Nahrungsmittel dauerhaft einzustellen. Damit wäre auch den Ländern Afrikas geholfen..." Die Europäer wären jedoch gut beraten, sie würden den freien Welthandel mit Lebensmitteln unterbinden. Umgekehrt wird nämlich ein Schuh aus der Argumentation der Milchindustrie und der Konzerne: Nicht die Globalisierung hat die jüngste Preiserhöhung diktiert, eher ist die jüngste Preiserhöhung ein strategischer Schachzug, um die Globalisierung, also den unbegrenzten Freihandel mit Nahrungsmitteln, auch im Agrarbereich durchzusetzen.
Freier Welthandel mit Nahrungsmitteln bringt einen großen Teil der Bauern in Deutschland in eine ähnliche Situation wie die Arbeiter in exportorientierten Industriezweigen: inländische Erzeugnisse müssen dann mit außereuropäischen konkurrieren, wo nicht einmal die Folgen der EU-Osterweiterung für die Landwirtschaft verdaut sind. Deutsche Bauern kämen auch in eine ähnliche Lage wie ihre Kollegen in den Ländern des Südens: Sie würden gezwungen, für den Export zu arbeiten und könnten den einheimischen Markt nicht mehr so beliefern, dass sie davon leben können. Auf der Verbraucherseite bedeutet das: Es gibt keine Deckelung für die Preisentwicklung mehr; Armut und Hunger nehmen zu.
Freihandel mit Nahrungsmitteln ist ökologisch und sozial ein Verbrechen gegen die Menschheit. Die Verwerfungen, die daraus folgen, bedrohen die Existenz Hunderttausender. Schon der Binnenmarkt für Agrarprodukte, den die EU- Mitgliedschaft erzwingt, richtet sich gegen die kleinbäuerliche Landwirtschaft. Ein Weltmarkt täte dies noch viel rabiater. Es ist gut, dass Bauern auch hierzulande begonnen haben, sich als Teil der globalisierungskritischen Bewegung zu verstehen.


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