SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 05

"Afghanistan ist ein Protektorat ohne Souveränität"

Für Norman Paech ist der Abzug der ausländischen Truppen die Voraussetzung für eine Normalisierung der Lage

Im Herbst soll der Bundestag die Mandate für die deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan verlängern. Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland lehnt die Militärpräsenz in Afghanistan ab. Trotzdem scheint ein Ausstieg aus den Operationen am Hindukusch unwahrscheinlich.
Über die Lage in Afghanistan und die Situation vor der Bundestagsabstimmung sprach Harald Etzbach für die SoZ mit dem außenpolitischen Sprecher der Fraktion Die Linke im Bundestag, Norman Paech.

Sie waren Anfang dieses Jahres in Afghanistan. Welchen Eindruck haben Sie dort von der Situation im Land gewonnen?

Ich kenne Afghanistan seit Anfang der 70er Jahre. Der Zustand des Landes heute ist außerordentlich beklagenswert. Das betrifft nicht nur die physischen Zerstörungen, die wieder beseitigt werden können. Afghanistan ist niemals eine Kolonie gewesen, heute aber ist es ein Protektorat, das keinerlei Souveränität mehr hat. Hinzu kommen eine nahezu unübersehbare Zahl von Geld gebenden NGOs aus Europa und den USA, die dort alle ihre mehr oder weniger segensreichen Aktivitäten entfalten und sich etliche Afghanen heranholen, die von ihnen abhängig sind. Das Land ist durchdrungen mit zum Teil zweifelhaften internationalen Institutionen, die Lage ist vollkommen unübersichtlich.
Zum anderen ist jegliche ökonomische Tätigkeit außer Schmuggel, Opiumanbau und ähnlichen kriminellen Aktivitäten unterbunden. Es gibt keine einheimische Industrie, nicht einmal eine Lebensmittelindustrie. Alles wird importiert oder über die grüne Grenze gebracht.

Wie steht die Bevölkerung zu den ausländischen Truppen, insbesondere zur Bundeswehr?

Wenn man den SPD-Außenpolitiker Niels Annen fragt, der zur Zeit mit seinem Fraktionsvorsitzenden Peter Struck in Afghanistan unterwegs ist, wird man hören, er habe niemanden getroffen, der nicht für die Anwesenheit ausländischer Truppen ist. Das hört man immer im Umkreis der Botschaften, also bei jenen, die davon profitieren. Verlässt man aber diesen Kreis, dann wird die Skepsis gegenüber dem ausländischen militärischen Engagement immer größer. Ich habe bei meinen Kontakten in Afghanistan, zum Beispiel an der Universität, aber auch unter Abgeordneten, sehr viele getroffen, die gegen die Anwesenheit ausländischer Truppen sind.

Wie hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan in den letzten Jahren entwickelt?

Sie hat sich seit 2001 kontinuierlich verschlechtert. André Brie konnte noch 2003 als Europaabgeordneter problemlos durch das Land reisen. Ich selbst habe mich nur unter starkem militärischem Schutz in zwei Provinzen bewegen können. Heute ist wohl auch das nicht mehr möglich.

Können Sie etwas zur Lage der Frauen in Afghanistan sagen? Immerhin war ja die Unterdrückung der Frauen durch die Taliban ja ein Argument, mit dem die Intervention in Afghanistan gerechtfertigt wurde.

Anfang der 70er Jahre habe ich in Afghanistan eine große Zahl von vollkommen emanzipierten Frauen mit westlicher Kleidung und westlicher Ausbildung erlebt. Das gibt es heute wieder. Man sieht aber sehr viel häufiger Frauen, selbst in Kabul, die nur verschleiert mit Tschador oder Burqa auf die Straße gehen. Das gilt auch für politisch aktive Frauen. Ich glaube übrigens nicht, dass die Zahl der öffentlich aktiven Frauen heute bedeutend größer ist als zur Zeit der Reformen unter Taraki und Amin Ende der 70er Jahre.

Wie wirkt die Präsenz ausländischer Truppen in der Region insgesamt, Stichwort Pakistan?

Dazu kann ich wenig sagen, weil es von Afghanistan aus fast unmöglich ist, einen Überblick zu gewinnen. Ich hatte geplant, zwei Camps der Bundeswehr zu besuchen, das Camp in Mazar-i-Sharif und das Camp Warehouse. Das wurde aber dann von Seiten der Bundeswehr aus irgendwelchen Gründen abgesagt. UN- Vertreter, aber auch der Gouverneur der an der Grenze zu Pakistan gelegenen Provinz Paktika haben mir gesagt, sie hätten keinen Überblick über die Aktivitäten der Amerikaner und der ausländischen Truppen. Das ist alles völlig undurchsichtig, und die Amerikaner lassen sich da auch nicht in die Karten schauen. Sie betrachten das als ihre Domäne. Genau das gehört eben zum vollkommenen Ausschalten der afghanischen Souveränität.

Im Herbst soll der Bundestag die Mandate International Security Assistance Force (ISAF), Operation Enduring Freedom (OEF) und den Tornado-Einsatz verlängern. Wie hängen diese drei Mandate zusammen? Oder sind es völlig getrennte Dinge, wie von der Bundesregierung behauptet wird?

Nein, seit dem NATO-Gipfeltreffen in Istanbul im Juni 2004 sind ISAF und OEF eigentlich nur noch nach außen hin formal getrennt. Das ist eine einheitliche Mission, die sich auch verschiedentlich völkerrechtswidriger Methoden bedient hat, wobei die Zivilbevölkerung unter allen militärischen Aktionen sehr stark zu leiden hatte.

Sie halten also nichts von der Forderung, ISAF und OEF zu entkoppeln, wie sie zum Teil von SPD und Grünen vorgebracht wird?

Da ist nichts mehr zu entkoppeln, es sei denn, dass OEF völlig eingestellt wird, was aber völlig illusorisch ist. Daraus ergibt sich die Position der Bundestagsfraktion, dass wir alle drei Mandate ablehnen und sie auflösen wollen.

nGlauben Sie, dass der Bundestag der Verlängerung der Mandate zustimmen wird? Immerhin gibt es ja kritische Stimmen in allen Parteien.
Ja, er wird zustimmen, und wir werden ablehnen.

Welche Interessen verfolgt Deutschland in Afghanistan? Sind es eigene Interessen, oder agiert Deutschland als Anhängsel der US-Politik?

Deutschland hat traditionell eine starke Verbindung zu Afghanistan, im kulturellen wie im wissenschaftlichen Bereich. Der wirtschaftliche Bereich war bislang weniger wichtig. Diese Beziehung hat sich über die Entwicklungspolitik und die wissenschaftlich-kulturelle Zusammenarbeit über Jahrzehnte hinweg geformt. In jüngster Zeit haben sich allerdings die Interessen verschoben: mit den Amerikanern sind strategische Interessen im Bereich der Sicherung von Rohstoffen hinzugekommen, und die Bundesregierung hat sich an dieser Interessendurchsetzung beteiligt, indem sie im Rahmen der NATO mit den Amerikanern zusammen deren Krieg dort führt. Sie geht von einem Zeitrahmen von über zehn Jahren aus, die Briten haben schon von vierzig Jahren gesprochen. Das alles deutet darauf hin, dass die NATO in ihrer Gesamtheit mit den USA dort ihre strategischen Rohstoffinteressen will — sowohl in Bezug auf ihre Ausbeutung wie auf ihren Transport. Da spielt die Bundesregierung nun mit.

Was antworten Sie denen, die sagen, nach einem Abzug der ausländischen Truppen werde Afghanistan unweigerlich im Chaos versinken?

Größer als jetzt kann das Chaos eigentlich nicht werden. Ich glaube auch nicht, dass militärische Präsenz eine Lösung sein kann, sondern selbst das Problem ist, das zu Chaos und zur Militarisierung der gesamten afghanischen Gesellschaft führt. Der Abzug der ausländischen Truppen ist die Voraussetzung dafür, dass es in Afghanistan überhaupt wieder zu einem normalen Leben kommen kann. Es wird wahrscheinlich in einer Übergangszeit weiter Auseinandersetzungen, auch gewalttätige, geben. Aber nur nach einem Truppenabzug ist eine Beruhigung und Entwicklung in dieser Gesellschaft wieder möglich.

Wie könnte eine sinnvolle Afghanistanpolitik demnach aussehen?

Zunächst muss die Souveränität des Landes wiederhergestellt werden. Afghanistan darf nicht länger den Status eines Kolonialstaats haben. Dann müssen auf gleichberechtigter Basis die Projekte der Entwicklungszusammenarbeit, der kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit wieder aufgenommen werden. Das sollte aber ein Angebot sein und den Afghanen nicht aufgezwungen werden.


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