SoZ - Sozialistische Zeitung |
Seit dem
10.Juli halten die Kolleginnen und Kollegen der Fahrradfabrik Bike Systems besetzt. Sie kämpfen
für den Erhalt der Arbeitsplätze, wenigstens aber für anständige Abfindungen.
Wer nach Nordhausen (Thüringen) mit
der Bahn fährt, um die Besetzer der Fahrradfabrik Bike Systems zu besuchen, braucht am Bahnhof keinen
Passanten nach dem Weg zur Fahrradfabrik zu fragen obwohl jeder den Weg weiß: der Besucher
braucht nur seinen Ohren zu trauen. Er geht dorthin, wo ein lautes und permanentes Gehupe herkommt. Vor der
Fabrik sieht man, zumindest bei gutem Wetter, etwa 20 Frauen und Männer in einer Reihe vor dem
Werkzaun sitzen, einige haben rote Schirmmützen der IG Metall auf, alle haben Trillerpfeifen zur Hand.
Fast jedes vorbeifahrende Auto hupt und alle Besetzer heben als Antwort eine Hand mit hoch gestrecktem
Daumen und trillern nachhaltig. Ein hoher Lärmpegel an der viel befahrenen B80, vom Hellwerden bis zum
Dunkelwerden. Eine Kollegin hatte am ersten Besetzungstag, dem 10.Juli, die Idee, ein Schild zu malen:
Bitte hupen. Das Schild braucht niemand mehr hochzuhalten.
Es sind 135 Beschäftigte und 160
Leiharbeiter, die hier bis Dienstag Fahrräder gebaut haben, täglich bis zu 2000, zuletzt 9,5
Stunden am Tag, auch samstags. Auch nachdem sie erfahren hatten, dass das Werk geschlossen werden soll,
montieren sie pflichtbewusst bis zum 10.7. weiter, bis zum letzten Auftrag. Für Juli haben sie ihren
Lohn noch erhalten. Am Dienstag um 9.30 Uhr ist dann Betriebsversammlung. Tags zuvor hatten sie erfahren,
dass man sie so schnell und so billig wie möglich loswerden will.
Bike Systems gehörte zu DDR-Zeiten zum VEB IFA Motorenwerk. Mitte der 80er Jahre erhielt IFA die
Regierungsauflage, auch Konsumgüter herzustellen. Von da an wurden in Nordhausen Fahrräder
gebaut. Nordhausen ist jetzt eine Kreisstadt mit noch 43000 Einwohnern. Seit der "Wende" hat die
Belegschaft mehrere Besitzer erlebt und erlitten, auch ein abgewendetes Insolvenzverfahren.
Seit Dezember 2005 gehört Bike Systems
dem Finanzinvestor Lone Star. Zu Lone Star gehörte auch Bike Systems in Neukirch (Sachsen). Im
Dezember 2006 wurde IFA Neukirch geschlossen mit minimalen Abfindungen die Kollegen wehrten sich
nicht. Der Finanzinvestor ist gleichzeitig zu 25% an dem Konkurrenten MIFA (Mitteldeutsche Fahrradwerke
Sangerhausen) beteiligt. Bike System in Nordhausen war von da an nur noch die verlängerte Werkbank
für die MIFA. Lone Star hat alle Aufträge und alle Materialvorräte an den bisherigen
Wettbewerber MIFA in Sangerhausen weitergegeben.
Am Dienstag, auf der Betriebsversammlung
beschließt die Belegschaft spontan, die Fabrik zu besetzen. "Wir haben keine richtige
Erklärung wie das kam, es entstand mitten in der Belegschaft." Die von Lone Star angebotene Summe
hätte nicht mal ausgereicht, die Löhne für die Zeit des Kündigungsschutzes (ein bis
sieben Monate, je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit) zu zahlen. "Mit einem Appel und einem
Ei" wie in Neukirch wollen sie sich nicht abspeisen lassen. "Als die letzten sich noch in die
Listen eintrugen, haben die ersten schon unten Transparente gemalt." Immer wieder taucht darauf das
Wort und das Symbol "Heuschrecke" auf.
Warum passierte in Neukirch nichts, hier
aber wurde besetzt? "Wir haben nichts zu verlieren. Wir hatten immer ein gutes Betriebsklima, wie eine
Familie. Und wir haben einen guten Betriebsrat." Ich frage einen Kollegen mit einer roten IGM-
Schirmmütze, ob er Gewerkschaftsmitglied sei. "Ach wo, ich trage die Mütze nur wegen der
Sonne, die blendet vormittags so, die Mützen wurden hier massenhaft verteilt." Ob denn viele
Kollegen Gewerkschaftsmitglied seien, will ich wissen. "Außer dem Betriebsrat kaum welche."
Dennoch ist ein Nordhäuser Gewerkschaftssekretär oft vor Ort und unterstützt den Kampf. Bei
der Frage nach dem Lohn sind die Kollegen zurückhaltend: "Wir durften über den Lohn nicht
reden, das sei ein Kündigungsgrund, wurde uns gesagt." Dann sagt der Kollege doch: "Wir
verdienen etwa 1000 Euro netto, Urlaubs- und Weihnachtsgeld wurde uns ja schon gestrichen."
Es gibt keine vorfabrizierten IGM-Parolen
sondern ausschließlich selbstgefertigte Transparente und Plakate, die der Lage Ausdruck geben:
"Wir wollen arbeiten und lassen uns von der Heuschrecke Lone Star nicht auffressen."
Wie in der Produktion teilen die
Schichtleiter die Besetzungsschichten ein, ein Zeichen, dass sie voll mitziehen. Der frühere
Produktionsleiter (!) ist für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Nur der Chef von Bike
Systems, Frederick P. Müller, genannt Müller III, steht auf der Gegenseite. Nachdem er Neukirch
erfolgreich im Sinne von Lone Star abgewickelt hatte, wurde der frühere Unternehmensberater, ein
Wessi, Chef in Nordhausen. Als die Kollegen den Betrieb übernahmen, wahrte er nicht mehr die
Contenance und geriet ganz außer sich.
Nachts stehen zehn Besetzer Posten, Frauen nur tagsüber. Am Tag sind oft 30 bis 40 Besetzer da,
trinken Kaffee oder Selters, Bier ist verboten. Ständig ist was los, ständig muss organisiert
werden. Am 17.Besetzungstag war ein Chor der Uni Göttingen, bestehend aus Ver.di-Kollegen, da. Sie
sangen moderne und Arbeiterlieder. Sie hatten extra ein Lied gedichtet. Kurz vorher hatte die Belegschaft
ein Kinderfest organisiert, viele Firmen der Stadt hatten es materiell unterstützt. Der Ertrag des
Festes, 400 Euro, wurde für ein geplantes Kinderhospiz gestiftet. "Wir haben soviel
Freundlichkeit und Sympathie aus der Stadt bekommen, das wollten wir zurückgeben."
Das Bläserquartett eines hiesigen
Orchesters hatte ein kleines Konzert gegeben. Für die nächste Woche ist eine Fahrradtour durch
Nordhausen und Umgebung geplant.
Am 23.Besetzungstag will Attac aus Leipzig
kommen und einen Film über eine Fabrikbesetzung in Argentinien zeigen. Am 25.Besetzungstag dann
Kollegen und Unterstützer der Bosch-Siemens-Hausgeräte aus Berlin, die einen Film über ihren
Streik zeigen. Am kommenden Freitag gehen die Kollegen zum Blutspenden nach dem Motto: "Wir geben
unseren letzten Tropfen, bevor uns Lone Star ganz aussaugt." Am Wochenende ist Stadtfest in
Nordhausen. Die Besetzer machen eine Art TÜV-Stand: Alle Nordhäuser können ihre
Fahrräder durchprüfen lassen.
Der thüringische
Ministerpräsident Althaus war in einem Offenen Brief um Unterstützung, d.h. um die Suche nach
einem Investor, gebeten worden und um einen Besuch im Werk. Die Antwort steht am 27.7. in der
Thüringer Allgemeinen Zeitung: "Dieter Althaus (CDU) kommt nicht. Der Thüringer
Ministerpräsident lehnte die Einladung ins Fahrradwerk ... ab. Die Landesregierung habe keine
Möglichkeit, politischen Einfluss auf die Entscheidungen von Bike Systems zu nehmen..."
Die Absage wird schon als Affront
empfunden: "Wir zahlen doch dem Althaus mit unseren Steuern sein Gehalt und der kommt nicht mal
hierher." "Erst zahlen die Politiker denen Subventionen und die kriegen
Steuerermäßigungen, dann macht Bike Systems den Laden dicht und braucht keine Steuern
zurückzahlen. Und uns will Lone Star auch noch um die Abfindung prellen!"
Am Dienstagmittag dann ein Fax mit der
förmlichen Absage. Der Ministerpräsident schreibt: "...eine Intervention mit dem Ziel der
Rückgängigmachung der Betriebsstilllegung wäre offensichtlich aussichtslos..." Den
Beschäftigten wird angeboten, bei MIFA in Sangerhausen weiterzuarbeiten.
Nur zwei Kollegen haben eingewilligt. Die anderen befürchten, ihre in jahrzehntelanger Arbeit
erworbenen Ansprüche zu verlieren: Kündigungsschutz bis zu sieben Monaten, Abfindung. Und sie
fürchten, in Sangerhausen die ersten zu sein, die rausfliegen. Sie halten durch, weil sie eine
angemessene Abfindung haben wollen, sie sehen nicht ein, dass sich ein milliardenschwerer Konzern aus der
"Verantwortung davonstehlen" will.
Warum will Lone Star diese Peanuts nicht
zahlen? Weil er befürchtet, in Zukunft mit hohen Abfindungsforderungen konfrontiert zu werden? Die
Streikenden von AEG Nürnberg erkämpften sich bekanntlich 2006 eine monatliche Abfindungsquote von
1,88 pro Beschäftigungsjahr. Wenn kein Geld da ist, müsste Bike Systems Konkurs anmelden. Wenn
das nicht passiert, wäre das Insolvenzverschleppung, die strafbar ist. Ein Konkurs andererseits
würde dem Ruf schaden, den selbst Heuschrecken anscheinend noch zu verlieren haben. Außerdem
besteht bis zum 31.12.07 Standortbindung, weil Bike Systems öffentliche Mittel erhalten hat.
Am liebsten wäre den Kollegen, es
käme ein neuer Investor: "Was wir dann produzieren, wäre uns ziemlich egal." Das
scheint mir aber nur so dahingesagt, der Produzentenstolz auf ihre Fahrräder dringt immer wieder
durch.
Es gehen etliche Solidaritätsschreiben
ein, in einigen steht die Aufforderung, doch die Firma zu übernehmen und weiter Fahrräder zu
bauen. Es sind schon mehrere Bestellungen dabei! Ein Mann aus Holland schreibt, er kenne mehrere linke
Fahrradhändler, die würden gern die Fahrräder aus der besetzten Fabrik verkaufen. Ich mache
einen Kollegen auf die Bestellungen und Versprechungen aufmerksam. Er habe auch schon dran gedacht, das
wäre eine schöne Lösung. Aber einige gute Kollegen, die man dazu brauchte, seien schon nicht
mehr da und woher solle das Geld kommen? "In der Fahrradbranche muss mit enormen
Kapitalressourcen gearbeitet werden. Da die Aufträge sehr kurzfristig erteilt werden, ist eine
kapitalintensive Vorratshaltung erforderlich. Mit einem Belegschaftsmodell würden wir die nötigen
Darlehen hierfür nicht bekommen", sagt Jürgen Metz, der Rechtsanwalt, der die Belegschaft
berät.
Ich denke an 1973, die Besetzung der
Uhrenfabrik LIP in Besançon (Frankreich). Bei ihnen wurden zigtausend Uhren in wenigen Wochen bestellt, sie
kamen mit der Produktion kaum nach. Die Solidarität nicht nur in Frankreich war atemberaubend. Davon
rede ich aber nicht. Ich würde mir vorkommen wie: Der rote Großvater erzählt.
Das zentrale Symbol der Besetzung ist die
Heuschrecke, der zentrale Satz: "Wir haben nichts zu verlieren." Beim halbjährigen Streik
bei Gate Gourmet in Düsseldorf 2005/2006 gab das Plakat "Menschenwürde!" den Kern des
Kampfes wieder.
Auf der Heimfahrt fällt mir ein, dass
die gelassene, ja heitere Stimmung der stärkste Eindruck in diesen beiden Tagen war.
.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |