SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 13

Reportage

Saisonarbeit auf Sizilien

von Angela Huemer

Sizilien Anfang August. Angela ist mit Enrico, Ilaria und Angela im Süden der Insel unterwegs auf Spurensuche in den Bereichen Landwirtschaft und Erntearbeit im 21.Jahrhundert. Seit dem Frühjahr arbeiten sie an einem Dokumentarfilm. Sie haben alte Tagelöhner getroffen und Migranten, die sich nur ungern filmen lassen, weil sie illegal hier sind. Sie waren auf großen, landwirtschaftlichen Unternehmen, den aziende agricole, und haben mit den Landwirten gesprochen, die politisch aktiv werden, um sich gegen die immer undurchschaubareren Mechanismen der Globalisierung zu wehren. Je mehr sie erfahren, desto mehr Fragen tauchen auf. Wie wird die Arbeit organisiert? Wie funktioniert die Preisgestaltung? Wie sieht die Weiterverarbeitung aus?

I Famigli

Nach stundenlanger Fahrt durch gebirgiges, kahles, gelbbraunes Land, verbrannt von der Sonne und den vielen Feuersbrünsten der letzten Wochen, erreichen wir die 50000-Einwohner-Stadt Vittoria im Süden Siziliens. Auf der Piazza erwartet uns Tano, Gaetano Malannino, Landwirt aus Leidenschaft und Aktivist von Altra agricoltura (Andere Landwirtschaft), ein loser italienweiter Bund von Bauern und kleinen Agrarunternehmern, der sich nach dem G8-Gipfel in Genua 2001 gebildet hat. Vor drei Jahren hat er eine kleine Landwirtschaft erworben. Er stammt aus dem nahen Caltagirone, der Keramikstadt, wo seine Frau mit den Kindern lebt und Behinderte betreut.
Tano ist Anfang 50 und hat schon viele verschiedene Berufe ausprobiert. Mit dem Landwirtschaftsbetrieb hat er auch drei Rumänen "erworben", Vasile, seine Frau Agata und Livio, Vasiles Bruder, bis dahin alle illegal, Tano hat sie legalisiert. "Padrone" nannten sie ihren früheren Vorgesetzten. "Famigli" heißen die untergebenen Familienangehörigen auf sizilianisch, wie früher im Feudalsystem.
Tags darauf lernen wir Vasile bei der Traubenlese kennen. Seine Frau hilft nicht mit, seit kurzem ist sie Mutter. Entgegen meinen Erwartungen sind die Arbeitsbedingungen erträglich, die Plastikplane über den Rebstöcken kühlt. Ein befreundeter Händler hat 100 Kisten Trauben bestellt, 800 Kilo, rote, köstliche Esstrauben, die aber nur 55 Cent pro Kilo einbringen. Gegen Mittag begleiten wir Vasile in die nagelneue Lagerhalle im nahen Ort Mazzarone. Hier ist es grün, hügelig, viele Wein- und Gemüsefelder sind mit Plastikplanen bedeckt — das sind die Treibhäuser.
Drei seiner vier Geschwister leben hier in Vittoria, erzählt Vasile, außer Livio noch zwei Schwestern, die als Haushaltshilfen arbeiten. Nur ein Bruder ist zu Hause in Rumänien geblieben. "Zu Hause" ist ein abgelegener Ort in den Bergen, der Vater ist Schafhirt. Vasile verdient rund 1000 Euro im Monat und wohnt gratis. Später erklärt Tano, dass er ihn tageweise bezahlt, plus 10 Euro Sozialabgaben pro Tag. Also keine Festeinstellung, die man in dieser Situation erwarten würde. Bei diesem tief verwurzelten System der direkten Abhängigkeit muss man Glück haben. Ohne eigenes Auto sind die meisten von Vasiles Landsleuten ziemlich isoliert und den "Padroni" ausgeliefert, die Frauen noch mehr, sexueller Missbrauch ist weit verbreitet.
An diesem Morgen macht Tano 440 Euro Umsatz. Seine Kosten kann er damit kaum decken, 63 Euro kosten allein die Transportkisten. Beim Mittagessen erzählt er vom Hungerstreik, den er mit vier anderen Landwirten im Februar einige Tage lang durchgehalten hat, um auf die Situation der kleinen Agrarunternehmer aufmerksam zu machen. Es war seine Idee, er ist stolz darauf, und das Medienecho war groß. Im Moment bereitet er mit vielen anderen eine Unterschriftensammlung für ein Gesetz vor, das die Landwirtschaft als Kulturgut schützen und sicherstellen soll, dass Bauern und Landwirte von dem leben können, was sie produzieren. Den Preis bestimmen heutzutage nicht mehr Angebot und Nachfrage, sondern Großabnehmer, die Erzeuger verdienen dabei am wenigsten.

Graue, schwarze und Sklavenarbeit

Sizilien war einst die Kornkammer des Römischen Reichs, heute ist es einer von Europas Gemüsegärten. Kartoffeln, Tomaten, Zucchini, Auberginen, Paprika, Pistazien, Mandeln, Feigen, Orangen, Zitronen, Weintrauben, Oliven, Melonen.
Am intensivsten wird in der Gegend von Vittoria Landwirtschaft betrieben, 80% der Bevölkerung leben davon. Anders als im Norden war hier das Land nie gerecht aufgeteilt, es herrschte Feudalwirtschaft. Es gab Großgrundbesitzer, Tagelöhner, später Pächter und Halbpächter. Touristen verirren sich kaum hierher, außer der schmucken Piazza mit Kirche und Theater ist wenig zu sehen.
Fünfzig Meter von der Piazza entfernt ist ein Phonecenter, in den Kabinen nur arabische Hinweistafeln, direkt daneben eine Bar, in der die tunesische Flagge prangt. Gegenüber davon eine islamische Metzgerei, über dem Eingang Bilder von den Tieren, deren Fleisch hier verkauft wird — Kuh, Schaf, Hase, natürlich kein Schweinefleisch. In der Bar treffen wir ein paar junge Tunesier. Wir kommen ins Gespräch mit Rabia. Er will sich nicht filmen lassen, die Angst vor der Polizei ist zu groß, er ist "illegal" hier, aber er will uns über sein Leben hier erzählen. Wir verabreden uns für den Nachmittag.
Vorher treffen wir Giuseppe "Peppe" Scifo, unser Gastgeber in Vittoria und Verantwortlicher der Landarbeitergewerkschaft. Peppe ist hier geboren, er erzählt uns aus der Geschichte seiner Stadt. In den 50er Jahren gab es einen Aufstand der Tagelöhner, eine ihrer Losungen lautete: "La terra si acquista, non si conquista", Land wird erworben, nicht erobert. Durch die neue Treibhaustechnik konnten auch kleine Grundbesitzer von ihrem Land leben. Bemühungen, Genossenschaften zu bilden, schlugen fehl, weshalb das Land heutzutage stark fragmentiert ist.
Peppe erklärt uns, was graue, schwarze und was Sklavenarbeit ist. Graue Arbeit bedeutet: fast niemand hat einen ganzjährigen Arbeitsvertrag, die bestehenden Tarifverträge für Saisonarbeiter werden kaum eingehalten. Migranten hingegen erledigen Schwarzarbeit. Paradoxe Situationen entstehen. Weil die Aufenthaltserlaubnis an den Arbeitsvertrag gebunden ist, geschieht es oft, dass ein Migrant bei einem Landwirtschaftsbetrieb schwarzarbeitet und bei einem anderen offiziell angemeldet ist. Sklavenarbeit leisten die, die keine Papiere haben, sie können sich nicht wehren. Die Folge: schlechtere Bezahlung und Arbeitsbedingungen für alle.
Neu hinzugekommen sind in den letzten Jahren die Lagerhallen, hier wird sortiert und verpackt. Dort arbeiten fast nur Frauen, vielfach solche, die vorher nie oder im eigenen Betrieb gearbeitet haben. Die Arbeitsbedingungen sind schwer, es ist eine monotone, fließbandartige Arbeit, die Frauen kommen von oft von weit her, der Arbeitstag beginnt um 4.30 Uhr morgens und endet um 8 Uhr abends.
Zwischen den verschiedenen Einwanderergruppen gibt es zunehmende Rivalität, vor allem zwischen Tunesiern, die am längsten hier sind, und Rumänen. Davon erzählt auch Rabia, den wir kurze Zeit später mit seinem Freund Mohamed treffen, der im Gegensatz zu ihm schon mal Papiere hatte. Mohamed kam 2003 nach Schwäbisch Hall, um deutsch zu lernen, das Geld reichte nicht. In Frankreich, bei Verwandten untergebracht, half er bei der Apfelernte und verdiente sogar 70 Euro pro Tag. Nach einer Kontrolle zog er weiter nach Italien, zur Tomatenernte. Am besten erging es ihm in Viterbo, nahe Rom, wo er für seinen aus Tunesien stammenden Arbeitgeber Trauben erntete. Sechs Euro in der Stunde und freie Unterkunft. Im Moment wartet er wieder einmal auf Papiere — die laufen immer aus, sobald die Arbeit zu Ende ist.
Rabia ist seit 2004 in Italien, er kam mit dem Flugzeug in die Türkei, dann über Bulgarien, wo die Polizei ihn geschlagen hat, nach Griechenland, von dort mit falschen Papieren per Flugzeug nach Brüssel. Über Frankreich kam er nach Italien. Er ist schon viel herumgekommen, Ferrara, Mailand, Venedig, wo er einen Monat am Bau arbeitete. Rabia hat etwas Trauriges an sich, seine Augen leuchten nur, wenn er von Tunesien erzählt, er stammt aus der Gegend von Monastir. Lastwagenfahrer war er und kam im ganzen Land herum. Warum ist er denn weg? Seine große Liebe ist schuld, meint er. Ihr Vater wollte sie ihm nicht zur Frau geben, weil er keine "Reichtümer" aus Europa aufweisen konnte, also verkaufte er alles und machte sich auf den Weg. Er bereut es, hergekommen zu sein. Aber ohne Papiere gibt es kein Zurück. Seine Irregularität brachte ihm ein Monat Gefängnis ein. "Warum, ich hab‘ doch nichts gemacht?", fragt er den Carabiniere. Er kommt frei, mit der Anordnung, das Land zu verlassen.
Es gibt kaum Kontakt zu den Italienern, noch weniger zu den Rumänen oder Polen. Im Gegenteil, die beiden Tunesier sind sich einig, die drücken die Löhne noch mehr. Sie geben sich mit 15—20 Euro pro Tag zufrieden, vorher wurden 35—40 Euro gezahlt. Rabias große Liebe hat mittlerweile einen in Italien lebenden Tunesier geheiratet, er will sie nie wieder sehen. Das Café könnte auch in Tunesien sein, so abgeschlossen und weit weg scheint es von der nahegelegenen Piazza. Was hat Mohamed über die Rumänen gesagt? "Sie sind hier, um hier zu leben." Die Tunesier, ergänze ich für mich, sind hier, um besser und erfolgreicher wieder zurückzukehren.

Teufelskreis

Letzte Station, Cassibile bei Syrakus, ein kleiner nichtssagender Ort neben einem alten, verlassenen Dorf. Die Sommerhitze ist zurück. Fährt man ein wenig abseits der Hauptstraße, gelangt man über die Felder zum herrschaftlichen Haus des alten Marchese, der Herr des ehemaligen Feudums. Hier beginnt das Erntejahr mit den Kartoffeln. Die Erntearbeit verrichten fast ausschließlich Migranten.
In Cassibile leben rund 300 Marokkaner, es gibt sogar eine Moschee. Einige von ihnen fungieren als sog. caporali, Vorarbeiter, für die Rekrutierung der meist schwarzarbeitenden Erntehelfer streichen sie 15 der hier üblichen 50 Euro Tageslohn ein. Ein brutales System, in dem die Armen die noch Ärmeren ausbeuten. Die meisten Saisonarbeiter haben keine Unterkunft; wenn sie auf den Feldern Cassibiles nächtigen, regnet es Anzeigen der Landwirte, die ohne sie ihre Ernte gar nicht einbringen könnten. Als wegen des Mangels an Unterkünften im vergangenen Jahr der Notstand ausgerufen wurde, öffneten die örtlichen Politiker ein Aufnahmezentrum für rund 150 Personen. Der Haken dabei: Nur die mit regulärem Aufenthaltsstatus durften darin übernachten. Die anderen wurden von den "Ärzten ohne Grenzen" und der örtlichen Pfarrei betreut.
Von Cassibile ziehen die Saisonarbeiter weiter zu den Tomaten Pachinos, von dort nach Kalabrien und Apulien, um dann zu Jahresanfang wieder zurückzukommen. Eine ewige Wanderschaft im Teufelskreis der Armut, Abhängigkeit und Illegalität.


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität




zum Anfang