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Sechs Jahre nach dem G8-Gipfel in Genua sind die drei Prozesse immer noch
nicht abgeschlossen, die Verantwortlichen bei den Ordnungskräften immer noch nicht ausgemacht. Die
neue Mitte-Links-Regierung setzt die Politik des Vertuschens und Verzögerns ihrer Vorgängerin
fort.
"Als ich in den ersten Stock kam, fand
ich eine Knüppelei vor. Vier Polizisten, zwei davon mit weißem Gürtel, die anderen in Zivil,
prügelten auf ein Dutzend Demonstranten ein, die wehrlos am Boden lagen. Es sah aus wie in einem
mexikanischen Schlachthaus." Michelangelo Fournier war in den Tagen des G8-Gipfels in Genua
stellvertretender Vizepolizeichef; er leitete an dem Abend den Einsatz des Mobilen Einsatzkommandos aus
Rom, der "Celere", in der Schule Diaz. Am 13.Juni 2007 stand er zusammen mit 28 anderen
Polizisten in Genua vor Gericht und musste sich für die Vorgänge in der Schule Diaz verantworten.
Neben der "Celere" waren in der
Nacht vom 19. auf den 20.Juli 2001 noch mehrere andere Einheiten an dem Überfall auf die Schule
beteiligt (u.a. die Carabinieri, die Strafvollzugspolizei usw.). Die "Celere" war extra für
den Einsatz in Genua zusammengestellt worden; das Kommando wurde nach vollbrachter Tat umgehend
aufgelöst.
Die Aussage Fourniers bestätigt, was
das Genoa Social Forum immer gesagt und die Polizei immer bestritten hat: Die Polizei hat in der Schule
Diaz auf wehrlose, schlafende Demonstranten eingeprügelt, dabei 43 von ihnen schwer verletzt, 98
wurden festgenommen. Sie leisteten keinen Widerstand und hatten sich ihre Wunden nicht schon am Vormittag
auf der Demo zugezogen, wie derselbe Fournier nach der Schlächterei in der Schule und später noch
im Verhör der Staatsanwälte behauptet hatte.
"Es waren nicht meine Männer, und
wenn ich es nicht eher gesagt habe, tat ich das aus Korpsgeist. Ich habe auch nie gerufen
Aufhören, aufhören, wie mir zugeschrieben wird."
Seit sechs Jahren versucht die italienische
Polizei, die Schlächterei von Genua, für die sie verantwortlich ist, mit allen Mitteln zu
vertuschen. Schweigen und Lügen lautet die eiserne Verhaltensregel, die von oberster Stelle gedeckt
wird.
Inzwischen stellt sich heraus, dass die
Polizeichefs nicht nur mit der Regierung Berlusconi unter einer Decke steckten, sodass die beiden Prozesse
gegen Polizisten sechs Jahre hindurch verschleppt werden konnten. Auch die neue Regierung Prodi, eine sog.
Mitte-Links-Regierung, an der auch Rifondazione Comunista beteiligt ist, hat Dreck am Stecken.
"Die erste Welle der Entrüstung
hat eine Maus geboren", sagt Gigi Malabarba, Ex-Senator für Rifondazione Comunista, in einem
Interview mit der Wochenzeitung Carta (Nr.27, 2007). "Die Ermittlungskommission, die damals
eingerichtet wurde, hat den wichtigsten Punkt, nämlich die Verantwortlichkeiten in der Befehlskette
der Ordnungskräfte und der Anteil der Politiker am Geschehen, nicht aufgeklärt. Im Juli 2002, ein
Jahr nach Genua, habe ich im Parlament zwei Gesetzesentwürfe zur Einrichtung einer
Untersuchungskommission eingebracht eine auf Ebene der Kammer, eine zusammengesetzt aus Vertretern
von Kammer und Senat. Die Mitte-Links-Koalition, die damals in der Opposition war, hat diese Entwürfe
nicht unterstützt."
Inzwischen hatte sich der internationale
Kontext verändert: es kam der 11.September in New York, der Krieg in Afghanistan, danach die
Intervention im Irak. Genua wurde fallen gelassen in der Hoffnung, es werde Gras drüber wachsen und
das Verhalten der Polizei wie auch der Regierung Berlusconi werde nicht weiter zur Rechenschaft gezogen.
"Der G8-Gipfel von Genua",
erklärt Malabarba weiter, "war das deutlichste Signal einer Entwicklung, die erst in den
folgenden Jahren deutlichere Gestalt angenommen hat und unterschätzt worden ist. Ich meine die
Militarisierung jedes einzelnen Aspekts der öffentlichen Ordnung: Von der Rekrutierung der Polizisten
bis zu ihrer Ausbildung, von der Militarisierung der Feuerwehr und sogar der Schutzmänner bis hin zu
den Sicherheitspakten, die einige Großstädte in den letzten Wochen unterzeichnet
haben, gibt es eine Kontinuität zwischen der Politik der inneren Sicherheit der Mitte-Links-Koalition
und eines Teils des Mitte-Rechts-Bündnisses. Diese Linie haben schon die ersten Mitte-Links-
Regierungen eingeschlagen und sie wurde nie geändert."
Eine repressive Linie hat die Polizei
Malabarba zufolge nicht nur in Genua gefahren, sondern auch bei den sozialen und Umweltkämpfen der
letzten Jahre. Sie schmückt sich jetzt zusätzlich mit der Aura des "Kampfes gegen den
Terror". "Das ist ein globaler Krieg, in dem die Grenze zwischen Innen und Außen verwischt
wird, in dem jede Opposition zum Umsturzversuch erklärt wird. Das politische Klima innerhalb der
Ordnungskräfte hat sich umgekehrt; die Polizisten, die versucht haben, darauf aufmerksam zu machen,
sind allein gelassen worden. Sie wurden allein gelassen, weil eine militärische Führung der
öffentlichen Ordnung besser zu einem Klima passt, in dem sozialer und politischer Dissens
unterdrückt werden."
Malabarba zählt viele Beispiele auf,
wo diese neue Linie nach Genua sichtbar geworden ist: die illegale Entführung angeblich
verdächtiger "Terroristen", die Beteiligung italienischer Sicherheitskräfte am System
von Verschleppungen, geheimen Verhören und Folterungen der CIA, die Misshandlungen von
Flüchtlingen in den Konzentrationslagern, die Polizeieinsätze in Val di Susa anlässlich der
Proteste gegen den Hochgeschwindigkeitszug usw. Beamte des Innenministeriums haben die Bewegung gegen die
US-Militärbasis in der Nähe von Vicenza als "Brutstätte des Terrorismus"
qualifiziert.
So erklärt sich Malabarba, weshalb die
Regierung Prodi niemals eine Entscheidung der Polizeispitzen nach Genua in Frage gestellt hat. Im
Gegenteil: Nicht nur hat auch die neue Regierung die verantwortlichen Staatsdiener nie zur Rechenschaft
gezogen, sie hat sie sogar befördert. Antonio Manganelli, in den Tagen von Genua stellvertretender
Chef der Staatspolizei, wurde nach der Aussage von Michelangelo Fournier vom neuen Innenminister Giuliano
Amato zum obersten Polizeichef ernannt. Er löst Gianni De Gennaro ab, der die polizeiliche
Verantwortung für die Massaker in Genua zu tragen hat. Dieser wurde aber nicht etwa mit Schimpf und
Schande aus dem Polizeidienst entlassen, sondern zum Staatssekretär des Inneren befördert.
Für De Gennaro, erklärt
Malabarba, ist der neue Posten ein Sprungbrett hin zu dem Ziel, das er immer angestrebt hat: die
Koordination der Geheimdienste und ihre Reform. Sein neuer Posten ist ideal, um die Verhältnisse im
Inneren und die Zusammenarbeit mit den USA in Einklang zu bringen. "Fast niemand, weder in der
Regierung noch in der Opposition, will wirklich Klarheit schaffen. Der tiefere Grund ist, dass die
Möglichkeit einer demokratischen, oder wenigstens parlamentarischen, Kontrolle über die
Sicherheitsapparate ausgeschlossen werden soll. Die Reform der Dienste, die die Regierung vorbereitet, geht
genau in diese Richtung. Die Regierung kann es sich nicht leisten, einen Geheimdienstchef zu haben, der
unter Anklage steht."
Gigi Malabarba ist Mitunterzeichner eines
Aufrufs, der zum wiederholten Mal die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission verlangt.
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