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In einem Interview mit dem Wochenblatt Al Ahram gab Leila Shahid, seit
November 2005 Gesandte Palästinas bei der EU in Brüssel, Auskunft über aktuelle Zwietracht
unter den Palästinensern, die humanitäre Situation in Gaza und mögliche Auswege. Nachstehend
veröffentlichen wir Auszüge (Übersetzung aus dem Französischen: Sophia Deeg).
Wie wirkt sich die aktuelle Zwietracht unter den Palästinensern auf deren legitime Bestrebungen
aus, ihren Staat zu gründen?
Die Situation ist zur Zeit sehr schwierig. Wir ähneln einem Körper, der aus den Fugen geraten
ist, wir sind nicht durch ein gemeinsames Territorium verbunden und daher nicht in der Lage, einen
Bürgerkrieg zu führen. Was sich in Gaza abgespielt hat, war der Beginn eines Bürgerkriegs.
Leider kann niemand garantieren, dass etwas derartiges nicht auch im Westjordanland oder in den
Flüchtlingslagern losgeht, denn es gibt Kräfte, die den Bürgerkrieg anheizen. Die USA
verfolgen eine Bürgerkriegsstrategie, und das nicht nur in Palästina, sondern auch im Libanon
oder im Irak. Die Amerikaner und die Israelis gehen davon aus, dass die wirksamste Methode, die
Palästinenser zu schwächen, darin besteht, sie in einen Bürgerkrieg zu treiben. Dasselbe
haben sie den Libanesen und den Irakern zugedacht. Deshalb verlangt die aktuelle Situation den
Verantwortlichen der Hamas, ebenso wie denen der Fatah ein besonders hohes Maß an
Verantwortungsgefühl ab, da sie die beiden wichtigsten Parteien in dieser zu beendenden
Auseinandersetzung sind. Entsprechendes gilt für die palästinensische Gesellschaft insgesamt.
Wie sieht die humanitäre Situation in Gaza aus?
Katastrophal. Die Menschen leben dort wie in einem großen Gefängnis. Selbst wer Arbeit hat
wie die Landwirte, hat keine Möglichkeit etwas ein- oder auszuführen. Die Menschen können
sich nirgendwohin bewegen. Das schließt jede Verbesserung ihrer Lebensbedingungen aus. Zwei Drittel
der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, 70% sind arbeitslos. Die Israelis haben beschlossen die
palästinensische Gesellschaft zu vernichten, indem sie sie ersticken, zerstückeln in immer
kleinere Teile aufteilen. Sie glauben, dass sie so die Palästinenser dazu bringen, zu gehen.
nHat diese Politik letztendlich den
Aufstieg der Hamas begünstigt?
Der entscheidende Faktor für die
Stärkung der Hamas ist das Versagen der Fatah. Sie versprach den Menschen, dafür zu sorgen, dass
die Besatzung enden würde. Sie versprach, die Wirtschaft anzukurbeln und eine gute Partnerschaft zur
EU aufzubauen. Alles würde besser werden. Genau das Gegenteil trat ein. Die Bombardements nahmen zu,
die Siedlungen wurden erweitert und schließlich hat man die Mauer errichtet. Die Friedensaussichten
liefen ins Leere und niemand sich darum gekümmert hat, das zu verhindern und Israel zur Raison zu
rufen: weder die Europäer noch die Amerikaner. Aufgrund dieses Scheiterns der Fatah, wandten sich die
Menschen der Hamas zu und sagten sich, dass man mit Gewalt vielleicht weiter kommt als mit der Diplomatie
der Fatah.
Wie führte die Rivalität zwischen Fatah und Hamas schließlich zum
Bürgerkrieg?
Die Palästinenser wählten die Hamas, damit sie mit Israel verhandelt, und nicht weil sie ein
islamistisches Programm hat. Sie wollten von einer verantwortungsvolleren Partei vertreten werden. Leider
weigerten sich die Amerikaner, die Europäer und sogar die arabischen Staaten mit der Hamas zu
verhandeln. Daraufhin hat Mahmoud Abbas angefangen, mit der Hamas über eine Koalitionsregierung zu
sprechen. Man einigte man sich auf die Bildung einer Regierung mit einem Programm, das allen Forderungen
gerecht wird. Dennoch verfügten die Amerikaner, dass mit dieser Regierung nicht verhandelt werden
dürfe. Wenn man es in dieser Weise ablehnt, mit den Menschen zu sprechen was lässt man
ihnen dann noch anderes als die Gewalt?
Worin sehen Sie einen Ausweg aus dieser Lage? Werden die Palästinenser immer getrennt
bleiben?
Nein, es liegt an den Palästinensern, dafür zu sorgen, dass nicht zwei Palästinas
entstehen. Die palästinensische Nation hat 60 Jahre lang überlebt, obwohl 60% ihrer
Bevölkerung Flüchtlinge sind, die im Ausland leben, und nur 40% in den palästinensischen
Gebieten sind. Wir mögen ideologisch unterschiedlich eingestellt sein, aber wir sind alle vereint in
dem Streben nach Wiederherstellung eines Mutterlandes, und das wird nicht in zwei oder drei Palästinas
entstehen. Nicht wenige wollen uns in diese Richtung drängen, allen voran die Israelis, wohl wissend,
dass dies die beste Methode ist, die Bildung eines palästinensischen Staates zu vereiteln.
Wir müssen uns klarmachen: Hinter uns
liegt eine schwere Krise, aber jeder muss daraus seine Lehren zu ziehen, sein Verhalten kritisch beleuchten
und auf einer neuen Grundlage vorangehen. Ich halte das für möglich, weil ich überzeugt bin,
dass die palästinensische Zivilgesellschaft aus sehr reifen, politisierten Leuten besteht, die viel
durchgemacht haben und diese Erfahrung nutzen können, um ihre Führer dazu zu bringen, sich
verantwortlich zu verhalten und erneut einen nationalen Dialog zu initiieren, der uns auf den richtigen Weg
einer Staatsbildung bringen wird.
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