SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 16

"Ein Körper, der aus den Fugen geraten ist"

Palästina droht die innere Spaltung

In einem Interview mit dem Wochenblatt Al Ahram gab Leila Shahid, seit November 2005 Gesandte Palästinas bei der EU in Brüssel, Auskunft über aktuelle Zwietracht unter den Palästinensern, die humanitäre Situation in Gaza und mögliche Auswege. Nachstehend veröffentlichen wir Auszüge (Übersetzung aus dem Französischen: Sophia Deeg).

Wie wirkt sich die aktuelle Zwietracht unter den Palästinensern auf deren legitime Bestrebungen aus, ihren Staat zu gründen?

Die Situation ist zur Zeit sehr schwierig. Wir ähneln einem Körper, der aus den Fugen geraten ist, wir sind nicht durch ein gemeinsames Territorium verbunden und daher nicht in der Lage, einen Bürgerkrieg zu führen. Was sich in Gaza abgespielt hat, war der Beginn eines Bürgerkriegs. Leider kann niemand garantieren, dass etwas derartiges nicht auch im Westjordanland oder in den Flüchtlingslagern losgeht, denn es gibt Kräfte, die den Bürgerkrieg anheizen. Die USA verfolgen eine Bürgerkriegsstrategie, und das nicht nur in Palästina, sondern auch im Libanon oder im Irak. Die Amerikaner und die Israelis gehen davon aus, dass die wirksamste Methode, die Palästinenser zu schwächen, darin besteht, sie in einen Bürgerkrieg zu treiben. Dasselbe haben sie den Libanesen und den Irakern zugedacht. Deshalb verlangt die aktuelle Situation den Verantwortlichen der Hamas, ebenso wie denen der Fatah ein besonders hohes Maß an Verantwortungsgefühl ab, da sie die beiden wichtigsten Parteien in dieser zu beendenden Auseinandersetzung sind. Entsprechendes gilt für die palästinensische Gesellschaft insgesamt.

Wie sieht die humanitäre Situation in Gaza aus?

Katastrophal. Die Menschen leben dort wie in einem großen Gefängnis. Selbst wer Arbeit hat wie die Landwirte, hat keine Möglichkeit etwas ein- oder auszuführen. Die Menschen können sich nirgendwohin bewegen. Das schließt jede Verbesserung ihrer Lebensbedingungen aus. Zwei Drittel der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, 70% sind arbeitslos. Die Israelis haben beschlossen die palästinensische Gesellschaft zu vernichten, indem sie sie ersticken, zerstückeln in immer kleinere Teile aufteilen. Sie glauben, dass sie so die Palästinenser dazu bringen, zu gehen.
nHat diese Politik letztendlich den Aufstieg der Hamas begünstigt?
Der entscheidende Faktor für die Stärkung der Hamas ist das Versagen der Fatah. Sie versprach den Menschen, dafür zu sorgen, dass die Besatzung enden würde. Sie versprach, die Wirtschaft anzukurbeln und eine gute Partnerschaft zur EU aufzubauen. Alles würde besser werden. Genau das Gegenteil trat ein. Die Bombardements nahmen zu, die Siedlungen wurden erweitert und schließlich hat man die Mauer errichtet. Die Friedensaussichten liefen ins Leere und niemand sich darum gekümmert hat, das zu verhindern und Israel zur Raison zu rufen: weder die Europäer noch die Amerikaner. Aufgrund dieses Scheiterns der Fatah, wandten sich die Menschen der Hamas zu und sagten sich, dass man mit Gewalt vielleicht weiter kommt als mit der Diplomatie der Fatah.

Wie führte die Rivalität zwischen Fatah und Hamas schließlich zum Bürgerkrieg?

Die Palästinenser wählten die Hamas, damit sie mit Israel verhandelt, und nicht weil sie ein islamistisches Programm hat. Sie wollten von einer verantwortungsvolleren Partei vertreten werden. Leider weigerten sich die Amerikaner, die Europäer und sogar die arabischen Staaten mit der Hamas zu verhandeln. Daraufhin hat Mahmoud Abbas angefangen, mit der Hamas über eine Koalitionsregierung zu sprechen. Man einigte man sich auf die Bildung einer Regierung mit einem Programm, das allen Forderungen gerecht wird. Dennoch verfügten die Amerikaner, dass mit dieser Regierung nicht verhandelt werden dürfe. Wenn man es in dieser Weise ablehnt, mit den Menschen zu sprechen — was lässt man ihnen dann noch anderes als die Gewalt?

Worin sehen Sie einen Ausweg aus dieser Lage? Werden die Palästinenser immer getrennt bleiben?

Nein, es liegt an den Palästinensern, dafür zu sorgen, dass nicht zwei Palästinas entstehen. Die palästinensische Nation hat 60 Jahre lang überlebt, obwohl 60% ihrer Bevölkerung Flüchtlinge sind, die im Ausland leben, und nur 40% in den palästinensischen Gebieten sind. Wir mögen ideologisch unterschiedlich eingestellt sein, aber wir sind alle vereint in dem Streben nach Wiederherstellung eines Mutterlandes, und das wird nicht in zwei oder drei Palästinas entstehen. Nicht wenige wollen uns in diese Richtung drängen, allen voran die Israelis, wohl wissend, dass dies die beste Methode ist, die Bildung eines palästinensischen Staates zu vereiteln.
Wir müssen uns klarmachen: Hinter uns liegt eine schwere Krise, aber jeder muss daraus seine Lehren zu ziehen, sein Verhalten kritisch beleuchten und auf einer neuen Grundlage vorangehen. Ich halte das für möglich, weil ich überzeugt bin, dass die palästinensische Zivilgesellschaft aus sehr reifen, politisierten Leuten besteht, die viel durchgemacht haben und diese Erfahrung nutzen können, um ihre Führer dazu zu bringen, sich verantwortlich zu verhalten und erneut einen nationalen Dialog zu initiieren, der uns auf den richtigen Weg einer Staatsbildung bringen wird.


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