SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 18

Theorie

Henning Böke: Maoismus: China und die Linke — Bilanz und Perspektiven, Stuttgart: Schmetterling, 2007, 216 Seiten, 10 Euro

In der Reihe "Theorie.org" des Schmetterling-Verlags, in der bereits Einführungen u.a. in den "Trotzkismus", "Anarchismus", "(Post- )Operaismus" und die "Situationistische Revolutionstheorie" erschienen sind, gibt es ein neuen Buchtitel.
Dies ist wohl das erste Buch seit der gewaltsamen Niederschlagung der Massendemonstration auf dem Tienanmen-Platz 1989, in dem sich jemand aus der radikalen Linken erneut dem Maoismus zuwendet und eine Neubewertung versucht, die zum einen das emanzipatorische Potenzial des Maoismus gegen den "neoliberalen Geschichtsrevisionismus" (Böke) verteidigt, zum anderen seine historischen Grenzen und inneren Widersprüche thematisiert. Böke ist auch einer der wenigen, die sich in den letzten Jahren immer wieder zur historischen Einschätzung der maoistischen Periode in Artikeln geäußert haben. Das Gros der Veröffentlichung zu China stammt seit Jahren von Sozialwissenschaftlern, die begrenzte Forschungsinteressen verfolgen, ohne damit eine antikapitalistische Perspektive zu verfolgen. Das haben sie gemeinsam mit der großen Mehrheit der weit über 10000 ehemaligen Aktivisten des deutschen Maoismus, die sich in aller Regel recht reflexionslos aus dieser Lebensphase verabschiedet und anderen die öffentliche Deutungshoheit über ihre damaligen Motive überlassen haben. Viele zogen mit ihrem Austritt schlicht die Notbremse. Ansehen und Erfolg der K-Gruppen schwanden dramatisch, und das Leben in ihnen hatte immer weniger "Befreiendes". Henning Böke hat mit seinem Buch Folgendes im Sinn:
"Dieses Buch wendet sich einer verlorenen Geschichte im doppelten Sinne zu: einer Geschichte enttäuschter Hoffnungen, in der die radikale Linke zuerst einmal verloren hat, und einer Geschichte, die die Linke des Westens aus dem Gedächtnis verloren hat. Auch einer Geschichte, die unabgeschlossen ist: Die soziale Frage steht in China auf der Agenda. Ihre Lösung ist noch nicht absehbar, auf jeden Fall wird sie Bedeutung für die Welt haben. Die chinesische Revolution ist noch nicht zu Ende."
Ein eigenes Kapitel widmet Böke dem Maoismus der Neuen Linken in Europa und geht dabei ausführlicher auf die theoretischen Arbeiten Louis Althussers und Charles Bettelheims ein, die vom Maoismus beeinflusst waren. Insbesondere die theoretischen und über Mao hinausweisenden Erklärungsansätze Bettelheims zum Charakter von Übergangsgesellschaften werden mit offensichtlicher Sympathie vorgestellt. Ihm widmet Böke auch diesen Rück- und Ausblick.
Das Buch greift alte Fragen neu auf: Worum ging es im Streit zwischen China und der Sowjetunion? Was war die Kulturrevolution? Was wollte die "Vierbande" und warum ist sie gescheitert? Worin bestand der Konflikt zwischen Mao Zedong und Deng Xiaoping? Worauf stützt sich die Behauptung, in China seien um 1960 30 Millionen Menschen verhungert?

Widersprüche und Schwankungen

Das Buch skizziert die moderne Geschichte Chinas vom Kolonialismus bis in die Gegenwart und versucht in den jeweiligen Phasen nachzuzeichnen, worin der spezifisch Beitrag Maos und der Maoisten für die chinesische Entwicklung bestand. Er versucht begreifbar zu machen, welche theoretischen und biografischen Einflüsse das Denken des jungen Mao geprägt haben und arbeitet heraus, dass es in der Praxis einen offenen Widerspruch gab zwischen Maos Zielsetzungen und denen der Parteikampagnen. So konnte Mao, der die Kader dazu befähigen wollte, den eigenen Kopf zu gebrauchen und sich nicht zu sklavischem Gehorsam verführen zu lassen, nicht verhindern, dass es zu Exzessen kam, die Züge des Terrors und der Gehirnwäsche annahmen.
Noch stärker als die auf der Hand liegende Verantwortung der KP-Führung für diese Entwicklung bewertet der Autor das Gewicht der vorgefundenen geschichtlichen Tradition in China, die sich hier gewaltsam Bahn brach. Das Buch beschäftigt sich mit den Gründen für das Scheitern des "Großen Sprungs", in dem China eine Industrialisierung des Landes auf der Basis von Volkskommunen in Angriff nahm. Dieser Versuch begann als utopischer Aufbruch und mündete in der Katastrophe. Einen großen Raum nehmen die Zielsetzungen und der reale Verlauf der Kulturrevolution ein. Böke beschränkt sich dabei nicht darauf, die bekannten ideologischen Gegenpositionen darzustellen, sondern benennt auch die sozialen Kräfte, auf welche sich die sich bekämpfenden Fraktionen in der Partei stützen konnten. Es wird verständlich, wie es 1978 zum vorläufigen Ende des maoistischen Entwicklungsweges und zur Durchsetzung der bis in die Gegenwart prägenden Linie Deng Xiaopings gekommen ist, die für eine autoritäre und eliteorientierte Integration Chinas in den kapitalistischen Weltmarkt steht.
Vereinfacht ausgedrückt kommt der Autor zum Ergebnis, dass der Maoismus wichtige Herausforderungen, die sich aus dem Niedergang des sowjetischen Entwicklungsmodells ergaben haben, erkannt und als Aufgabenstellung formuliert hat, jedoch noch nicht in der Lage war, Lösungen für eine tragfähige Alternative zu finden.
"Widersprüche und Schwankungen in Maos Denken haben Tragödien verursacht. Die Widersprüche waren nicht bloß subjektive: In ihnen schlugen sich objektive Entwicklungsprobleme nieder. Der ‘Große Sprung‘ hat in verhängnisvoller Weise das an sich vernünftige Streben nach einer Verbindung agrarischer und industrieller Entwicklung mit dem Größenwahn eines naiven Modernisierungs-Utopismus verquickt. Nach diesem Fehlschlag trat dann eher der Aspekt des Maoismus in den Vordergrund, der auf überschaubare kleine Strukturen zielt: Die Anshan-Charta, das Dazhai-Modell, die Barfußärzte und viele Experimente während der Kulturrevolution stehen für das Bemühen, Entwicklung und Wachstum als Akt selbstbewusster Produzenten, ihren lokalen Gegebenheiten entsprechend, unter der Kontrolle der Basis zu vollziehen, statt dem Sog einer selbstzweckhaften, von hierarchischen Funktionseliten verwalteten Modernisierungsmaschinerie nachzugeben. Die Parolen der kulturrevolutionären Jahre haben den Arbeitern und Bauern immer wieder eingeschärft, dass sie die Herren des Produktionsprozesses sind, nicht ihre Anhängsel. Die Überwindung der ‘Herrschaft des Produkts über die Produzenten‘, die Erhebung der Produzenten zu den ‘Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung‘ — Zielsetzungen von Marx und Engels, die im Sowjetmarxismus unter dem Fetischismus der Plankennziffern und der ‘Tonnenideologie‘ verschüttet wurden — hat der Maoismus ernster genommen als jede andere geschichtsmächtig gewordene Strömung des Marxismus."
Einen zentralen Schwachpunkt der maoistischen Gesellschaftstheorie sieht Böke in "blinden Flecken" einer Staatstheorie, die weder "unabhängige vermittelnde Institutionen" noch eine "aktive Funktion der Zivilgesellschaft" kennt.
"Die Unschlüssigkeit eines Staatsverständnisses, in dem der Staat einerseits bloß als Repressionsinstrument gilt und de facto zum alleinigen Akteur der Entwicklung wird, hat sowohl die Mehrdimensionalität des Sozialen verdunkelt als auch jede Möglichkeit vereitelt, soziale Bewegung selbst zum Motor von Entwicklung werden zu lassen."

Bettelheim contra Mao

Auch wenn diese Schlussfolgerungen überzeugen, verblüfft es doch, wie positiv die Beurteilung der aktuellen Politik der chinesischen Staatspartei gezeichnet wird. Henning Böke sieht eine schrittweise Etablierung rechtsstaatlicher Verhältnisse und einen Prozess, in dem der Nationale Volkskongress "Züge eines echten Parlaments" annimmt. Die Führung setze "neue Akzente auf soziale Verantwortung" und habe eine Linkswende vollzogen, auch wenn diese dem Geist der Stellvertreterpolitik verhaftet bleibe. Doch auch hier sieht er Bewegung: "In der Politik der KP Chinas ist das Bemühen erkennbar, nach und nach die Gesellschaft zu befähigen, ihre Belange auf rationale Weise zu regeln." Vor dem Hintergrund der massiven Repression selbständiger Widerstandsansätze der Wanderarbeiter und der rigoros durchgesetzten Rückkehr zur Proletarität für Millionen ehemaliger Staatsbeschäftigter erstaunt diese Hoffnung in das emanzipationsfördernde Potenzial der Staatspartei. Vielleicht sind die beschriebenen politischen und sozialen Veränderungen ja auch bloß der Versuch, etwas Dampf aus dem Kessel zu nehmen und den Prozess der kapitalistischen Normalisierung beherrschbar zu halten. In dieser Einschätzung des Autors steckt wohl zu viel Mao und zu wenig Bettelheim.
Im Schlusskapitel "Über Marx und Mao hinaus" kritisiert Böke in Anlehnung an Althusser den "abstrakten Universalismus" in der marxistischen Tradition und begründet, warum sich aus den Klassenverhältnissen nicht einheitsstiftende soziale Transformationsperspektiven ergeben, was ihn dazu führt, der "Bildung von Allianzen" eine Schlüsselrolle zuzuweisen. Diese Überlegungen sind der Diskussion wert.
Herausgekommen ist ein Buch, das viele weithin kaum bekannte Informationen zur chinesischen Geschichte und wertvolle Anregungen zur Reflexion linker Theorie und Praxis enthält und damit Stoff für fruchtbare Diskussionen bietet. Es ist ein Angebot an ehemalige Maoisten, ihre damaligen Hoffnungen mit dem Wissen von heute zu reflektieren, und an "Nichtmaoisten", eine Chance einer (ehemals) geschichtsmächtigen linken Strömung nicht nur durch den Zerrspiegel der bürgerlichen Medien zu studieren.

Jochen Gester


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