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In der Reihe "Theorie.org" des Schmetterling-Verlags, in der
bereits Einführungen u.a. in den "Trotzkismus", "Anarchismus", "(Post-
)Operaismus" und die "Situationistische Revolutionstheorie" erschienen sind, gibt es ein
neuen Buchtitel.
Dies ist wohl das erste Buch seit der
gewaltsamen Niederschlagung der Massendemonstration auf dem Tienanmen-Platz 1989, in dem sich jemand aus
der radikalen Linken erneut dem Maoismus zuwendet und eine Neubewertung versucht, die zum einen das
emanzipatorische Potenzial des Maoismus gegen den "neoliberalen Geschichtsrevisionismus"
(Böke) verteidigt, zum anderen seine historischen Grenzen und inneren Widersprüche thematisiert.
Böke ist auch einer der wenigen, die sich in den letzten Jahren immer wieder zur historischen
Einschätzung der maoistischen Periode in Artikeln geäußert haben. Das Gros der
Veröffentlichung zu China stammt seit Jahren von Sozialwissenschaftlern, die begrenzte
Forschungsinteressen verfolgen, ohne damit eine antikapitalistische Perspektive zu verfolgen. Das haben sie
gemeinsam mit der großen Mehrheit der weit über 10000 ehemaligen Aktivisten des deutschen
Maoismus, die sich in aller Regel recht reflexionslos aus dieser Lebensphase verabschiedet und anderen die
öffentliche Deutungshoheit über ihre damaligen Motive überlassen haben. Viele zogen mit
ihrem Austritt schlicht die Notbremse. Ansehen und Erfolg der K-Gruppen schwanden dramatisch, und das Leben
in ihnen hatte immer weniger "Befreiendes". Henning Böke hat mit seinem Buch Folgendes im
Sinn:
"Dieses Buch wendet sich einer
verlorenen Geschichte im doppelten Sinne zu: einer Geschichte enttäuschter Hoffnungen, in der die
radikale Linke zuerst einmal verloren hat, und einer Geschichte, die die Linke des Westens aus dem
Gedächtnis verloren hat. Auch einer Geschichte, die unabgeschlossen ist: Die soziale Frage steht in
China auf der Agenda. Ihre Lösung ist noch nicht absehbar, auf jeden Fall wird sie Bedeutung für
die Welt haben. Die chinesische Revolution ist noch nicht zu Ende."
Ein eigenes Kapitel widmet Böke dem
Maoismus der Neuen Linken in Europa und geht dabei ausführlicher auf die theoretischen Arbeiten Louis
Althussers und Charles Bettelheims ein, die vom Maoismus beeinflusst waren. Insbesondere die theoretischen
und über Mao hinausweisenden Erklärungsansätze Bettelheims zum Charakter von
Übergangsgesellschaften werden mit offensichtlicher Sympathie vorgestellt. Ihm widmet Böke auch
diesen Rück- und Ausblick.
Das Buch greift alte Fragen neu auf: Worum
ging es im Streit zwischen China und der Sowjetunion? Was war die Kulturrevolution? Was wollte die
"Vierbande" und warum ist sie gescheitert? Worin bestand der Konflikt zwischen Mao Zedong und
Deng Xiaoping? Worauf stützt sich die Behauptung, in China seien um 1960 30 Millionen Menschen
verhungert?
Das Buch skizziert die moderne Geschichte Chinas vom Kolonialismus bis in die Gegenwart und versucht in
den jeweiligen Phasen nachzuzeichnen, worin der spezifisch Beitrag Maos und der Maoisten für die
chinesische Entwicklung bestand. Er versucht begreifbar zu machen, welche theoretischen und biografischen
Einflüsse das Denken des jungen Mao geprägt haben und arbeitet heraus, dass es in der Praxis
einen offenen Widerspruch gab zwischen Maos Zielsetzungen und denen der Parteikampagnen. So konnte Mao, der
die Kader dazu befähigen wollte, den eigenen Kopf zu gebrauchen und sich nicht zu sklavischem Gehorsam
verführen zu lassen, nicht verhindern, dass es zu Exzessen kam, die Züge des Terrors und der
Gehirnwäsche annahmen.
Noch stärker als die auf der Hand
liegende Verantwortung der KP-Führung für diese Entwicklung bewertet der Autor das Gewicht der
vorgefundenen geschichtlichen Tradition in China, die sich hier gewaltsam Bahn brach. Das Buch
beschäftigt sich mit den Gründen für das Scheitern des "Großen Sprungs", in
dem China eine Industrialisierung des Landes auf der Basis von Volkskommunen in Angriff nahm. Dieser
Versuch begann als utopischer Aufbruch und mündete in der Katastrophe. Einen großen Raum nehmen
die Zielsetzungen und der reale Verlauf der Kulturrevolution ein. Böke beschränkt sich dabei
nicht darauf, die bekannten ideologischen Gegenpositionen darzustellen, sondern benennt auch die sozialen
Kräfte, auf welche sich die sich bekämpfenden Fraktionen in der Partei stützen konnten. Es
wird verständlich, wie es 1978 zum vorläufigen Ende des maoistischen Entwicklungsweges und zur
Durchsetzung der bis in die Gegenwart prägenden Linie Deng Xiaopings gekommen ist, die für eine
autoritäre und eliteorientierte Integration Chinas in den kapitalistischen Weltmarkt steht.
Vereinfacht ausgedrückt kommt der
Autor zum Ergebnis, dass der Maoismus wichtige Herausforderungen, die sich aus dem Niedergang des
sowjetischen Entwicklungsmodells ergaben haben, erkannt und als Aufgabenstellung formuliert hat, jedoch
noch nicht in der Lage war, Lösungen für eine tragfähige Alternative zu finden.
"Widersprüche und Schwankungen in
Maos Denken haben Tragödien verursacht. Die Widersprüche waren nicht bloß subjektive: In
ihnen schlugen sich objektive Entwicklungsprobleme nieder. Der Große Sprung hat in
verhängnisvoller Weise das an sich vernünftige Streben nach einer Verbindung agrarischer und
industrieller Entwicklung mit dem Größenwahn eines naiven Modernisierungs-Utopismus verquickt.
Nach diesem Fehlschlag trat dann eher der Aspekt des Maoismus in den Vordergrund, der auf
überschaubare kleine Strukturen zielt: Die Anshan-Charta, das Dazhai-Modell, die Barfußärzte
und viele Experimente während der Kulturrevolution stehen für das Bemühen, Entwicklung und
Wachstum als Akt selbstbewusster Produzenten, ihren lokalen Gegebenheiten entsprechend, unter der Kontrolle
der Basis zu vollziehen, statt dem Sog einer selbstzweckhaften, von hierarchischen Funktionseliten
verwalteten Modernisierungsmaschinerie nachzugeben. Die Parolen der kulturrevolutionären Jahre haben
den Arbeitern und Bauern immer wieder eingeschärft, dass sie die Herren des Produktionsprozesses sind,
nicht ihre Anhängsel. Die Überwindung der Herrschaft des Produkts über die
Produzenten, die Erhebung der Produzenten zu den Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung
Zielsetzungen von Marx und Engels, die im Sowjetmarxismus unter dem Fetischismus der Plankennziffern
und der Tonnenideologie verschüttet wurden hat der Maoismus ernster genommen als
jede andere geschichtsmächtig gewordene Strömung des Marxismus."
Einen zentralen Schwachpunkt der
maoistischen Gesellschaftstheorie sieht Böke in "blinden Flecken" einer Staatstheorie, die
weder "unabhängige vermittelnde Institutionen" noch eine "aktive Funktion der
Zivilgesellschaft" kennt.
"Die Unschlüssigkeit eines
Staatsverständnisses, in dem der Staat einerseits bloß als Repressionsinstrument gilt und de
facto zum alleinigen Akteur der Entwicklung wird, hat sowohl die Mehrdimensionalität des Sozialen
verdunkelt als auch jede Möglichkeit vereitelt, soziale Bewegung selbst zum Motor von Entwicklung
werden zu lassen."
Auch wenn diese Schlussfolgerungen überzeugen, verblüfft es doch, wie positiv die Beurteilung
der aktuellen Politik der chinesischen Staatspartei gezeichnet wird. Henning Böke sieht eine
schrittweise Etablierung rechtsstaatlicher Verhältnisse und einen Prozess, in dem der Nationale
Volkskongress "Züge eines echten Parlaments" annimmt. Die Führung setze "neue
Akzente auf soziale Verantwortung" und habe eine Linkswende vollzogen, auch wenn diese dem Geist der
Stellvertreterpolitik verhaftet bleibe. Doch auch hier sieht er Bewegung: "In der Politik der KP
Chinas ist das Bemühen erkennbar, nach und nach die Gesellschaft zu befähigen, ihre Belange auf
rationale Weise zu regeln." Vor dem Hintergrund der massiven Repression selbständiger
Widerstandsansätze der Wanderarbeiter und der rigoros durchgesetzten Rückkehr zur
Proletarität für Millionen ehemaliger Staatsbeschäftigter erstaunt diese Hoffnung in das
emanzipationsfördernde Potenzial der Staatspartei. Vielleicht sind die beschriebenen politischen und
sozialen Veränderungen ja auch bloß der Versuch, etwas Dampf aus dem Kessel zu nehmen und den
Prozess der kapitalistischen Normalisierung beherrschbar zu halten. In dieser Einschätzung des Autors
steckt wohl zu viel Mao und zu wenig Bettelheim.
Im Schlusskapitel "Über Marx und
Mao hinaus" kritisiert Böke in Anlehnung an Althusser den "abstrakten Universalismus"
in der marxistischen Tradition und begründet, warum sich aus den Klassenverhältnissen nicht
einheitsstiftende soziale Transformationsperspektiven ergeben, was ihn dazu führt, der "Bildung
von Allianzen" eine Schlüsselrolle zuzuweisen. Diese Überlegungen sind der Diskussion wert.
Herausgekommen ist ein Buch, das viele
weithin kaum bekannte Informationen zur chinesischen Geschichte und wertvolle Anregungen zur Reflexion
linker Theorie und Praxis enthält und damit Stoff für fruchtbare Diskussionen bietet. Es ist ein
Angebot an ehemalige Maoisten, ihre damaligen Hoffnungen mit dem Wissen von heute zu reflektieren, und an
"Nichtmaoisten", eine Chance einer (ehemals) geschichtsmächtigen linken Strömung nicht
nur durch den Zerrspiegel der bürgerlichen Medien zu studieren.
Jochen Gester
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