SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 18

Kunst

Wegscheide Documenta 12

von Archibald Kuhnke

Fazit nach einem zwölftägigen Aufenthalt auf der Documenta 12 ist für unseren Autor die inspirierende und neuartige Art der Wahrnehmung und Verarbeitung von Kunstwerken.
Die bis zum 23.September laufende Documenta 12 in Kassel ist ein kulturelles, politisches, soziales Zeitereignis ersten Ranges. Nicht weil dort die großen Künstler der Zukunft gezeigt würden — dazu gibt es in der Welt zur Zeit andere Veranstaltungen genug —, sondern weil ein Experiment von noch nicht absehbarer Bedeutung betrieben wird: mehrere Hunderttausend kunstsinnige Menschen werden in einen Diskussionsprozess gestrudelt, der sie, wenn er sie wieder freigibt, verändert haben wird und sie dann polarisiert. Es werden sich — Wegscheide Documenta 2007 — zwei Gruppen bilden, eine, die das Experiment für völlig verfehlt hält, und eine andere, die eine neue Art von Kulturbeschäftigung genossen hat, die ihre zukünftigen Ansprüche an Kultur, Pädagogik, soziales Verhalten und Politik prägen wird.
Die Zeiten, in denen Kunstpäpste ihre Lehrsätze austeilten, haben die Kuratoren jetzt in Kassel beendet. Ihr Blick richtete sich auf Menschen, die versuchen die Welt durch eigenständiges Denken mit Hilfe der Kunstwerke und eigener ästhetischer Erarbeitung zu deuten, sich anzueignen und möglicherweise nach ihren Interessen zu gestalten. Wegscheide 2007?
Freilich bedarf ein solches Projekt einer völlig anderen Darstellungs- und Vermittlungsweise als dies bisher im Kulturbetrieb so üblich war, nämlich ausreichend Zeit beim Betrachten der Werke und Dialoge mit anderen ebenso vom Kunstwerk bewegten Menschen.
Anstatt professionell getexteter Kunstführer, braucht man einfühlsame vermittelte Hinweise und Hintergrundinformationen, die zum Disput anregen.
Warum sollten die Kunsthistoriker mit ihren ewig richtigen Deutungen nicht durch 16-jährige Schüler ersetzt werden, die ihre unverbildete Sicht, ihre noch nicht durch Pragmatismus verätzten Ansichten dem grauhaarigen Museumsbesucher als Kristallisationskerne eigener Kunstbetrachtungen anbieten?
Statt nur Zettel und dickbäuchige Reader über die tragenden Grundgedanken der Ausstellung auszulegen und zu verkaufen, kann man 100 Tage lang jeden Mittag um 13 Uhr ein thematisch gebundenes "lunch lecture" veranstalten, in dem jeder das Wort ergreifen kann (www.documenta.de).

Neuartige Vermittlungsformen

Erstmals gibt es ein Documenta-Kinderprogramm, "Aushecken". Den Eltern ermöglicht es einen entspannten Rundgang, den Kindern eine eigene, kostenfreie Kunstbeschäftigung, die anschließend — so die Prognose der "Aushecker" — zu aufregenden Gesprächen zwischen den Generationen führen können. Statt Kassel wie gewohnt rechts liegen zu lassen, kann man die EinwohnerInnen vor der Eröffnung der Documenta doch zu einem Fest einladen, ja, sogar in Kassels proletarischem Norden Veranstaltungen ermöglichen. Kontakt: bildungszelt@schlachthof- kassel.de.
All diese emanzipatorischen Formen werden auf der Documenta 12 angeboten, praktiziert und erexperimentiert. Und so hat sich auch das Documenta- Publikum nach meinen zwölftägigen Beobachtungen stark verändert; es ist jünger, diskursbereiter, toleranter, lockerer und engagierter geworden. Man will die Kunst nicht nur konsumieren, sondern sich der Kunst und den Künstlern stellen, sich bemühen, eigene Erinnerungen und Assoziationen beim Betrachten der Kunst einzusetzen.
Von außen her beobachtet eine Gruppe — www.mirreichts-nicht.org — die sozialen Innenbeziehungen der Documenta 12, wie z.B. Präkarität bei der Documenta, dafür können auch Documenta-Räume benutzt werden.
Die Untersuchung und Veröffentlichungen der sozialen Rahmenbedingungen sind wohl notwendig. Im April mußte das Aufbauteam zeitweise die Arbeit niederlegen, um zu so existenziellen Fragen wie Bezahlung der An- und Abreise, der Unterkunft, Überstundenzuschlages angehört zu werden. Die Geschäftsführung lehnte alle das ab und bot statt dessen kostenlose Verpflegung in der Documenta-Kantine an. Es wurden 15 Euro pro Stunde bezahlt, egal ob die meist mit Werkvertrag angeheuerten "Selbstständigen" neun, zwölf oder sogar mehr Stunden am Tag arbeiteten.

Politik und Zukunft der Documenta

Der "Politische Raum", den diese Documenta jedem Interessierten eröffnet, ist tatsächlich aus der heutigen Zeit: Migration (Romuald Hazoumé, Danica Dakic), Landschaftszerstörung (Andrea Geyer, George Osody), Herrschaftsverhältnisse (Guy Tillim, Ahlam Shibli, Alice Creischer, Lotty Rosenfeld, Amar Kanwar), Kriegsvor- und -nachbereitungen (Peter Friedl, Yael Bartana, Abdoulaye Konaté, David Thorn), Krankheit (Mary Kelly, Churchill Madikid, Jo Spence), Emanzipation und Kulturen (Amar Kanwar, Dias & Riedweg, Kerry James Marshall), das Mensch-Natur- Verhältnis (Ibon Aranberri), Fremdheit (Kirill Preobrazhensky), staatlicher und nachbarschaftlicher Rassismus (Dierk Schmidt, Kerry James Marshall), Menschheitsernährung (Sakarin Krue-On), Wohnen und Leiden (Jorge Mario Jàuregui, Halil Altindere, Ai Weiwei, Lu Hao, Andrei Monastyrski), Sport als gesellschaftliches Phänomen (Harun Farocki), die Situation der Homosexuellen (Dias & Riedweg, Juan Dvila, Lukas Duwenhögger), Eltern-Kinder-Verhältnis (Tseng Yu-Chin, Kwiekulik), Konsumismus (Alice Creischer & Andreas Siekmann), Kunstavantgarde und politische Herrschaft (Mladen Stilinovic, Grupo de Artistas de Avantgardia), Genmanipulation und Patente auf Lebewesen (Ines Doujak). In weiten Bereichen der Ausstellung ist glücklicherweise auch der feministische Ansatz der Kasseler Kuratorin, Ruth Noack, deutlich zu spüren.
Der Besuch dieser Documenta sei dringendst einem jeden mit ästhetischem Zugang zu den Problemen der Welt empfohlen. Da hier die aufwiegelnden Themen der Menschheit mit emanzipatorischen Darbietungsformen angeboten werden, ist zu befürchten, dass Ende 2008 der neuen Kurator für die Documenta 13 in der möglichst entgegengesetzten Kunstszenenströmung ausgewählt wird. Jemand, der Elite und Gehorsam fordert, sich den Markt- und Kunstmarktverhältnissen unterwirft, den allerallerallerneuesten Kunstströmungen anpasst. Das würde eine richtig prächtig-schöne Documenta mit viel Führung und Führern. Wegscheide 2007.
Wer in diesem Sommer das schöpferisch- experimentelle Klima beim G8-Gegengipfel in Rostock und die ebensolche Atmosphäre der Documenta in Kassel erlebt hat, der kann sich wohl ausmalen, dass aus beiden subjektbetonenden Darbietungsorten Impulse in die ganze Gesellschaft überspringen können. Übrigens sollten Kunstausstellungskritiker sich angewöhnen kritisierte Ausstellungen auch besuchen, statt sie aus der Ferne als "Übelstand" und "Tragödie" zu betiteln. Wenn also zehntausende junge Leute aus aller Welt in Rostock und Kassel einen aufklärerischen Effet mitbekommen haben, wenn das, unterstützt von der emanzipatorischen Linken, zu einem massenhaften kulturellen Umdenken und entsprechder Handlungsenthemmung in vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen führt, dann dürften es die DurchregiererInnen und ihre schamlosen InnenministerInnen in Zukunft schwer haben ihre antihumanen und antidemokratischen Pläne umzusetzen. Wegscheide 2007.
Eine Arbeit von der Documenta sei hier abschließend näher vorgestellt. Leon Ferrari, argentinischer Künstler, Jahrgang 1920, pflegte meist provokatorische, zuweilen pornografische, öfters gotteslästerliche Kunstwerke zu produzieren, bereits 2004 in Kölner Museum Ludwig anlässlich der Ausstellung "ExArgentina" zu sehen. In Argentinien wurde er seinerzeit wegen zwei oben genannten wundervollen Fähigkeiten gerichtlich verurteilt. In Kassel werden von ihm zwei großflächige Blaupausen aus dem Jahr 1981 im Aue-Pavillon gezeigt. Damals verfolgte ihn die Junta und er lebte im Exil. Von weitem sind diese Blaupausen als hübsche Tischdecken wahrzunehmen. Kommt man näher, so sieht man, dass es jedoch ein Wimmelbild ist, auf dem Hunderte von einfach angedeuteten Autos nebeneinander fahren. Im oberen Bild fahren alle Autos, unterschiedliche Marken, linear waagerecht. Dort laufen Fußgänger auf rechtwinklig miteinander verbundenen Fußgängerbrücken, die ein grobes, zur horizontalen Mittelachse symmetrisches Raster bilden. Darauf laufen in mehreren Reihen sich drängende, zum Teil sich sogar in die Hacken tretende Menschen.
Im unteren Bild sieht man auf vielfältig verschlungene und verschleifte, noch extremer dicht befahrene Autobahnen, die von einem einzigen schmalen Fußgängersteg durchschnitten werden, auf dem nur noch zwei Personen nebeneinander passen und in größerer Zahl ameisenhaft darüberschnüren. Auch die Freiheitsräume der Läufer sind hier enger geworden. In diesem Bild sind nur noch gleichförmige Autotypen zu finden. Ob die aus dem Bild laufenden Autobahnen außerhalb des Bildes alle noch mit einander verbunden sein könnten? Der Zahl der Spuren nach bietet sich dieser Gedanke an. Dann wäre die Bewegung der Fahrzeuge völlig sinnlos: moving without progress. Wie die im Oval fahrende Kindereisenbahn.
In beiden blueprints ist die Dichte der Fahrzeuge quälend, im unteren Bild sogar noch einmal in gesteigerter Form. Die Fahrtrichtungen scheint von den Fahrern selbst nicht wählbar, weil sie sich in derart eng gefugten Reihungen bewegen müssen, dass jeder Spurwechsel Karambolage bedeutet. Die Vorstellung in einem dieser Fahrzeuge zu sitzen bereitet äußerstes Unbehagen. Aber auch das Gehen bietet keinen beruhigteren Ausweg.
Szenen dieser Art habe ich in Shanghai und Peking schon erlebt. Leon Ferrari steigert die dortige Wirklichkeit jedoch noch, nimmt unser aller von den wirtschaftlichen und politischen Eliten vorprogrammierte verkehrsmäßige Zukunft warnend vorweg.
Gemäß einer bei uns üblichen Lesetradition könnte das untere Bild als das zeitlich spätere gedeutet werden und somit eine Entwicklung dokumentieren.
So können Bilder mit einer durchaus vergleichsweise bescheidenen Formensprache doch lange Erzählungen beinhalten oder doch zumindest zu ihnen anregen, sofern der Betrachter ästhetisch alphabetisiert und assoziativ aktiviert ist.
Diese Arbeit setzt auch der Eitelkeit des Autofahrens ein ironisches Denkmal mit seinem Titel "Pasarelas": "Laufstege" — ja, man sieht die Autos vor Modellen, die Models vor lauter Kurven, die Kurven vor lauter Standardisierung und die Standardisierung vor lauter Autos nicht. Das stundenlange Nachdenken, die tagelange Diskussion, der jahrelange Disput über Bewegung, Städtebau, Straßenführungen, Automobilisierung und fehlende Ruheräume ist angestoßen...


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