SoZ - Sozialistische Zeitung

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SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 19)

Familie, ich hasse dich

Zum Tod von Ingmar Bergman

von Ariane Beauvillard

Am 30.Juli starb auf der Ostseeinsel Fårö der schwedische Regisseur Film- und Theaterregisseur Ingmar Bergman im Alter von 89 Jahren. Mit über sechzig Spielfilmen seit Mitte der 40er Jahre und einer nahezu unübersehbaren Zahl von Theaterinszenierungen war Bergman einer der produktivsten Regisseure überhaupt. Bei dem folgenden Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Artikels, der zuerst im französischen Filmkritik-Onlinemagazin Critikat Critique Cinéma (www.critikat.com) erschienen ist (Übersetzung: Harald Etzbach).

Oftmals konfliktbeladen, immer komplex — bei Bergman sind die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern voller Beschädigungen. Ob es sich um Bluts- oder Herzensbande handelt, sie sind oft der Ursprung von Gewalt und Unverständnis und führen zu einem symbolischen oder physischen Tod. Obwohl es bei seinen letzten Werken einen wirklichen Neuanfang gibt, ist das filmische Gesamtwerk des schwedischen Regisseurs doch wenig optimistisch. Aufgewachsen bei einer emotional erpresserischen Mutter und mit einem lutherischen Pastor als Vater, studierte Bergman unaufhörlich den Schrecken, der aus dem familiären Zusammenleben hervorgehen kann. Mit mehr als sechzig Filmen ist Bergmans Kino über die Jahre immer reicher geworden, ohne sich jedoch abzumildern oder sich zu verleugnen.
In seinem allerersten Film Krise (Kris, 1946) beschreibt Bergman Nelly, eine junge Frau und ihre Mutter Jenny. Nach einigen Szenen erfahren wir, dass Nelly adoptiert worden ist und lernen auch Jessie, ihre natürliche Mutter kennen. Nelly ist schön und verträumt, Jenny ist krank und klammert sich an das Kind, das sie mit Liebe und Besitzgier aufgezogen hat. Jessie ist reich, kommt aus der Stadt und will das Kind zurückgewinnen, das sie verstoßen hatte. Jenseits der offensichtlichen Logik, die darin bestünde, aus der zurückgekehrten egoistischen Muter eine Opportunistin und aus der "wahren" Mutter eine verhöhnte Heilige zu machen, wirft Bergman beinahe alle in einen Topf. Denn die Bindungen des Herzens wie die des Bluts werden durch die Nähe des familiären Raums verfälscht. Alle gehören schließlich in eine festgelegte Welt: Jessie bezahlt moralisch für das, was sie in Nelly kaufen wollte, diese kehrt in die Welt zurück, wo sie tanzen kann, und Jenny wird verurteilt, die Zuschauerin dessen zu sein, was sie in Gang gesetzt hat.
Ohne eine eigentlich moralische Dimension zu haben, zeigt das Ende von Bergmans Filmen immer einen pessimistischen Ausgang, wenn die Familie im Zentrum geblieben ist, und einen optimistischeren, wenn die Rettung aus einer anderen Richtung kommt. Das Beispiel von An die Freude (Till glädje, 1950) ist charakteristisch: Stig hat seine Frau Marthe bei einem Unfall verloren, seine Tochter hat überlebt. Er ist Musiker, hat einst seine Familie wegen seiner Arbeit vernachlässigt, eine Beziehungskrise durchlebt und musste die Erziehung seiner Tochter erlernen. Seltsamerweise entsteht die große Freude mit der der Film endet, nicht durch die Hoffnung oder das Glück seine Tochter am Leben zusehen, sondern durch die Musik, durch die Kunst, in der Stig schließlich den wirklichen Lebenssinn findet, so als könne die Familie, diese Mischung aus Entscheidung und Zufall der Natur, nicht der Ort der individuellen Freiheit sein.
In vielen Bergman-Filmen findet sich diese schändliche, amoralische, trennende oder tragische Dimension der familiären Bindung: Die junge schwangere Frau in Die Jungfrauenquelle (Jungfrukällan, 1960) ist nicht verheiratet. Sie ist selbst unehelich und reproduziert schließlich die Schande, die seit mehreren Generationen auf ihrer Familie liegt. Obwohl sie nicht im Zentrum der dramatischen Konstruktion steht, ist die junge Frau dennoch in jeder Sequenz des Films präsent. Sie ist auch die einzige, die in Bewegung ist, während alle anderen beobachtet werden oder sich selbst beobachten. Ihre Schwester Karin wird von allen wegen ihrer Schönheit bewundert. In ihr sehen sie ein Sinnbild der Reinheit. Ihre Mutter hat mit ihr, dem einzigen Kind, das ihr geblieben ist eine verschmelzende Beziehung, die die Reinheit zerstört.
Bergman empfindet ohne Zweifel ein wenig Zärtlichkeit für die "schwarzen Schafe" der Familie, für die Jungen. Wenn Mütter ohne ihre Kinder fortgehen, wenn Kinder fortgehen, ohne ihren Eltern zu danken, wenn es schließlich niemandem gelingt, sich als freier Mensch zu erschaffen, dann weil alle Kinder oder Eltern von jemandem sind. Die Blutsbande, die nicht immer Herzensbande sind, schließen die Menschen in einem System, einer Rolle oder einem Schicksal ein. In der Bildgestaltung spielt Bergman in seinen Schwarzweißfilmen viel mit dem Licht, um die Einstellungen mit den "Abweichenden" abzutrennen. Er platziert sie zugleich in einem sozial, ästhetisch und symbolisch außerordentlich genauen Dekor. Jedes Möbelstück, jede Tür sperrt die Menschen ein wenig mehr ein. Selbst das sich weitende Meer in Wie in einem Spiegel (Såsom i en spegel, 1960/61) ist kein Feld der Möglichkeiten oder der Öffnung zu einem anderen Leben oder einem weiteren Blick.

Permanenter Konflikt

Bergmans Originalität besteht darin, dass im dramatischen Zentrum seiner Filme fast nie die Idee des Nichtgesagten entwickelt wird. Dieses ist immer präsent, explodiert aber, und findet sein Ziel in der Gewalt des Wortes.
Einfach aus dem Grund, weil die Familie im strengen Sinn natürlich sein soll, bringt sie eine Art physische und mentale Degenerierung hervor: Kranke Kinder, mental, gefühlsmäßig oder geistig behindert, kommen häufig vor. Die Frau in Die Jungfrauenquelle wird verachtet, weil sie unehelich ist, aber auch weil sie leicht hinkt. Sie ist nicht so attraktiv wie Karin und nicht würdig, so bewundert zu werden wie ihre Halbschwester. Das kranke Kind, oftmals ein Mädchen, dient immer dazu, an die zwei Gesichter der Verbindung von Kindern und Eltern zu erinnern. In Herbstsonate (Höstsonaten, 1978) kann Lena nicht gehen, sie spricht fast nicht. Als die Mutter von Lena und Eva nach siebenjähriger Abwesenheit zurückkehrt, weigert sie sich, ihr Kind zu sehen. In Wie in einem Spiegel hat Karin, um die sich der Vater niemals wirklich gekümmert hat, eine psychische Krankheit. Das Kind ist hier eine emotionale und finanzielle Last. Eine der ersten Auseinandersetzungen zwischen den frisch Geschiedenen in Szenen einer Ehe (Scener ur ett äktenskap, 1973) entsteht über die Kosten für eine Klassenfahrt, auch in An die Freude kommt der wirtschaftliche Aspekt häufig vor.
Die Laune einer Mutter wie das Kind in Die Zeit mit Monika (Sommaren med Monika, 1953), Anlass des Bedauerns über das Leben, wie es Eva und Lena für die von Ingrid Bergman gespielte Mutter in Herbstsonate sind oder Kristallisationspunkt von Niederlagen und Leiden, wie es Karin in Sarabande (Saraband, 2003) ist — durch das Kind werden die Ängste und die Fehler der Eltern aber auch die der Familienzelle als soziale Konstruktion und Reproduktionsform aufgedeckt.
Auf dem Gipfel des Konflikts entsteht bei Bergman offensichtlich die Konfrontation: Bestehend aus dumpfen Schreien, lang herangereiften und sich wiederholenden Vorwürfen, großen Plänen, die manchmal schockierend sind und einer greifbaren Gewalt der Äußerungen und der Gesichter, ist die Konfrontation nicht notwendig der Endpunkt des Konflikts. Sie bestärkt ihn, obwohl sie oft gegen Ende des Films stattfindet. In Krise ist der Konflikt indirekt. Auf der Rückreise nach Stockholm trifft Nelly ihre Adoptivmutter wieder. Alles ist schwarz, düster, in Schweigen gehüllt. Obwohl sie endlos diskutieren, sind sie nicht mehr in der Lage Zärtlichkeit zu zeigen. In Herbstsonate, Die Zeit mit Monika und Das Lächeln einer Sommernacht (Sommarnattens leende, 1955) ist die Konfrontation leidenschaftlich. Hier spricht die Liebe, die verstummt und dann zu Hass geworden ist.

Das Verlangen und seine Abwesenheit

Zärtlichkeit — das ist, was die Personen bei Bergman nicht kennen gelernt haben oder das sie nicht haben können. Die Mädchen sind wegen ihrer Mütter keine befreiten Frauen geworden: Eva wird ihrer Mutter nie verzeihen, dass sie ihr keine Lebensfreude mitgegeben hat. Monika flieht vor ihrem Kind wie sie vor ihren Eltern geflohen ist. Karin in Wie in einem Spiegel schließt sich in ihrer Krankheit ein, obwohl ihr Vater sich ihr — zu spät — nähert. Der Mangel ist der Motor ihres Lebens, wie ihr Verlust. Das wiederkehrende Thema vor der Scheidung in Szenen einer Ehe ist der Übergriff der Mütter von Marianne und Johan auf ihr Leben: das sonntägliche Mittagessen, die Verpflichtung Anwältin zu sein wie der brillante Vater. "Wir haben die Freude gehabt, unsere Eltern verrückt zu machen", rufen sie — und werden kurz darauf wieder zu deren Kindern.
Alle haben diese Unfähigkeit, nach vorn zu gehen, ohne von dem intellektuellen oder natürlichen Verlangen behindert zu werden, umzukehren und zurückzugehen. Wie soll man lieben, ohne zu vergeben? Bergman entwirft ein sehr düsteres Bild der Familie, aber auch die Auswirkungen des Getrenntseins auf die Individuen sind düster. Es gibt weder Freiheit noch wirkliche Veränderung, das ist, was uns der letzte Film von Ingmar Bergman zu sagen scheint. Sarabande kam 2003 in die Kinos: Marianne und Johan treffen sich nach dreißig Jahren wieder. Sie entdecken, dass ihre Tochter eine brillante Anwältin geworden ist — wie ihre Mutter und ihr Großvater. Auch sie selbst haben sich nicht verändert. Sie ist verurteilt, verliebt und fordernd, er dazu, allein und nachdenklich zu sein. Die Familie hat sich aufgelöst — geografisch und emotional. Bei den jungen Menschen ist die Reproduktion weitergegangen, bei den Alten ist die Erinnerung eine Möglichkeit der Rettung. Und die Konfrontation hat sich in Rückzug oder eine Rückbesinnung auf sich selbst gewandelt. Aber, wie sagte Johan dreißig Jahre zuvor zu Marianne: "Das darf man denken, aber nicht sagen."


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