SoZ - Sozialistische Zeitung |
Am 30.Juli starb auf der Ostseeinsel Fårö der
schwedische Regisseur Film- und Theaterregisseur Ingmar Bergman im Alter von 89 Jahren. Mit über sechzig Spielfilmen
seit Mitte der 40er Jahre und einer nahezu unübersehbaren Zahl von Theaterinszenierungen war Bergman einer der
produktivsten Regisseure überhaupt. Bei dem folgenden Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Artikels,
der zuerst im französischen Filmkritik-Onlinemagazin Critikat Critique Cinéma (www.critikat.com) erschienen ist
(Übersetzung: Harald Etzbach).
Oftmals konfliktbeladen, immer komplex bei Bergman sind die Beziehungen zwischen
Eltern und Kindern voller Beschädigungen. Ob es sich um Bluts- oder Herzensbande handelt, sie sind oft der Ursprung von
Gewalt und Unverständnis und führen zu einem symbolischen oder physischen Tod. Obwohl es bei seinen letzten Werken
einen wirklichen Neuanfang gibt, ist das filmische Gesamtwerk des schwedischen Regisseurs doch wenig optimistisch.
Aufgewachsen bei einer emotional erpresserischen Mutter und mit einem lutherischen Pastor als Vater, studierte Bergman
unaufhörlich den Schrecken, der aus dem familiären Zusammenleben hervorgehen kann. Mit mehr als sechzig Filmen ist
Bergmans Kino über die Jahre immer reicher geworden, ohne sich jedoch abzumildern oder sich zu verleugnen.
In seinem allerersten Film Krise (Kris, 1946) beschreibt
Bergman Nelly, eine junge Frau und ihre Mutter Jenny. Nach einigen Szenen erfahren wir, dass Nelly adoptiert worden ist und
lernen auch Jessie, ihre natürliche Mutter kennen. Nelly ist schön und verträumt, Jenny ist krank und klammert
sich an das Kind, das sie mit Liebe und Besitzgier aufgezogen hat. Jessie ist reich, kommt aus der Stadt und will das Kind
zurückgewinnen, das sie verstoßen hatte. Jenseits der offensichtlichen Logik, die darin bestünde, aus der
zurückgekehrten egoistischen Muter eine Opportunistin und aus der "wahren" Mutter eine verhöhnte Heilige
zu machen, wirft Bergman beinahe alle in einen Topf. Denn die Bindungen des Herzens wie die des Bluts werden durch die
Nähe des familiären Raums verfälscht. Alle gehören schließlich in eine festgelegte Welt: Jessie
bezahlt moralisch für das, was sie in Nelly kaufen wollte, diese kehrt in die Welt zurück, wo sie tanzen kann, und
Jenny wird verurteilt, die Zuschauerin dessen zu sein, was sie in Gang gesetzt hat.
Ohne eine eigentlich moralische Dimension zu haben, zeigt das
Ende von Bergmans Filmen immer einen pessimistischen Ausgang, wenn die Familie im Zentrum geblieben ist, und einen
optimistischeren, wenn die Rettung aus einer anderen Richtung kommt. Das Beispiel von An die Freude (Till glädje, 1950)
ist charakteristisch: Stig hat seine Frau Marthe bei einem Unfall verloren, seine Tochter hat überlebt. Er ist Musiker,
hat einst seine Familie wegen seiner Arbeit vernachlässigt, eine Beziehungskrise durchlebt und musste die Erziehung
seiner Tochter erlernen. Seltsamerweise entsteht die große Freude mit der der Film endet, nicht durch die Hoffnung oder
das Glück seine Tochter am Leben zusehen, sondern durch die Musik, durch die Kunst, in der Stig schließlich den
wirklichen Lebenssinn findet, so als könne die Familie, diese Mischung aus Entscheidung und Zufall der Natur, nicht der
Ort der individuellen Freiheit sein.
In vielen Bergman-Filmen findet sich diese schändliche,
amoralische, trennende oder tragische Dimension der familiären Bindung: Die junge schwangere Frau in Die
Jungfrauenquelle (Jungfrukällan, 1960) ist nicht verheiratet. Sie ist selbst unehelich und reproduziert schließlich
die Schande, die seit mehreren Generationen auf ihrer Familie liegt. Obwohl sie nicht im Zentrum der dramatischen
Konstruktion steht, ist die junge Frau dennoch in jeder Sequenz des Films präsent. Sie ist auch die einzige, die in
Bewegung ist, während alle anderen beobachtet werden oder sich selbst beobachten. Ihre Schwester Karin wird von allen
wegen ihrer Schönheit bewundert. In ihr sehen sie ein Sinnbild der Reinheit. Ihre Mutter hat mit ihr, dem einzigen Kind,
das ihr geblieben ist eine verschmelzende Beziehung, die die Reinheit zerstört.
Bergman empfindet ohne Zweifel ein wenig Zärtlichkeit
für die "schwarzen Schafe" der Familie, für die Jungen. Wenn Mütter ohne ihre Kinder fortgehen, wenn
Kinder fortgehen, ohne ihren Eltern zu danken, wenn es schließlich niemandem gelingt, sich als freier Mensch zu
erschaffen, dann weil alle Kinder oder Eltern von jemandem sind. Die Blutsbande, die nicht immer Herzensbande sind,
schließen die Menschen in einem System, einer Rolle oder einem Schicksal ein. In der Bildgestaltung spielt Bergman in
seinen Schwarzweißfilmen viel mit dem Licht, um die Einstellungen mit den "Abweichenden" abzutrennen. Er
platziert sie zugleich in einem sozial, ästhetisch und symbolisch außerordentlich genauen Dekor. Jedes
Möbelstück, jede Tür sperrt die Menschen ein wenig mehr ein. Selbst das sich weitende Meer in Wie in einem
Spiegel (Såsom i en spegel, 1960/61) ist kein Feld der Möglichkeiten oder der Öffnung zu einem anderen Leben oder
einem weiteren Blick.
Bergmans Originalität besteht darin, dass im dramatischen Zentrum seiner Filme fast nie die Idee des Nichtgesagten
entwickelt wird. Dieses ist immer präsent, explodiert aber, und findet sein Ziel in der Gewalt des Wortes.
Einfach aus dem Grund, weil die Familie im strengen Sinn
natürlich sein soll, bringt sie eine Art physische und mentale Degenerierung hervor: Kranke Kinder, mental,
gefühlsmäßig oder geistig behindert, kommen häufig vor. Die Frau in Die Jungfrauenquelle wird verachtet,
weil sie unehelich ist, aber auch weil sie leicht hinkt. Sie ist nicht so attraktiv wie Karin und nicht würdig, so
bewundert zu werden wie ihre Halbschwester. Das kranke Kind, oftmals ein Mädchen, dient immer dazu, an die zwei
Gesichter der Verbindung von Kindern und Eltern zu erinnern. In Herbstsonate (Höstsonaten, 1978) kann Lena nicht gehen,
sie spricht fast nicht. Als die Mutter von Lena und Eva nach siebenjähriger Abwesenheit zurückkehrt, weigert sie
sich, ihr Kind zu sehen. In Wie in einem Spiegel hat Karin, um die sich der Vater niemals wirklich gekümmert hat, eine
psychische Krankheit. Das Kind ist hier eine emotionale und finanzielle Last. Eine der ersten Auseinandersetzungen zwischen
den frisch Geschiedenen in Szenen einer Ehe (Scener ur ett äktenskap, 1973) entsteht über die Kosten für eine
Klassenfahrt, auch in An die Freude kommt der wirtschaftliche Aspekt häufig vor.
Die Laune einer Mutter wie das Kind in Die Zeit mit Monika
(Sommaren med Monika, 1953), Anlass des Bedauerns über das Leben, wie es Eva und Lena für die von Ingrid Bergman
gespielte Mutter in Herbstsonate sind oder Kristallisationspunkt von Niederlagen und Leiden, wie es Karin in Sarabande
(Saraband, 2003) ist durch das Kind werden die Ängste und die Fehler der Eltern aber auch die der Familienzelle
als soziale Konstruktion und Reproduktionsform aufgedeckt.
Auf dem Gipfel des Konflikts entsteht bei Bergman
offensichtlich die Konfrontation: Bestehend aus dumpfen Schreien, lang herangereiften und sich wiederholenden Vorwürfen,
großen Plänen, die manchmal schockierend sind und einer greifbaren Gewalt der Äußerungen und der
Gesichter, ist die Konfrontation nicht notwendig der Endpunkt des Konflikts. Sie bestärkt ihn, obwohl sie oft gegen Ende
des Films stattfindet. In Krise ist der Konflikt indirekt. Auf der Rückreise nach Stockholm trifft Nelly ihre
Adoptivmutter wieder. Alles ist schwarz, düster, in Schweigen gehüllt. Obwohl sie endlos diskutieren, sind sie
nicht mehr in der Lage Zärtlichkeit zu zeigen. In Herbstsonate, Die Zeit mit Monika und Das Lächeln einer
Sommernacht (Sommarnattens leende, 1955) ist die Konfrontation leidenschaftlich. Hier spricht die Liebe, die verstummt und
dann zu Hass geworden ist.
Zärtlichkeit das ist, was die Personen bei Bergman nicht kennen gelernt haben oder das sie nicht haben
können. Die Mädchen sind wegen ihrer Mütter keine befreiten Frauen geworden: Eva wird ihrer Mutter nie
verzeihen, dass sie ihr keine Lebensfreude mitgegeben hat. Monika flieht vor ihrem Kind wie sie vor ihren Eltern geflohen
ist. Karin in Wie in einem Spiegel schließt sich in ihrer Krankheit ein, obwohl ihr Vater sich ihr zu spät
nähert. Der Mangel ist der Motor ihres Lebens, wie ihr Verlust. Das wiederkehrende Thema vor der Scheidung in
Szenen einer Ehe ist der Übergriff der Mütter von Marianne und Johan auf ihr Leben: das sonntägliche
Mittagessen, die Verpflichtung Anwältin zu sein wie der brillante Vater. "Wir haben die Freude gehabt, unsere
Eltern verrückt zu machen", rufen sie und werden kurz darauf wieder zu deren Kindern.
Alle haben diese Unfähigkeit, nach vorn zu gehen, ohne
von dem intellektuellen oder natürlichen Verlangen behindert zu werden, umzukehren und zurückzugehen. Wie soll man
lieben, ohne zu vergeben? Bergman entwirft ein sehr düsteres Bild der Familie, aber auch die Auswirkungen des
Getrenntseins auf die Individuen sind düster. Es gibt weder Freiheit noch wirkliche Veränderung, das ist, was uns
der letzte Film von Ingmar Bergman zu sagen scheint. Sarabande kam 2003 in die Kinos: Marianne und Johan treffen sich nach
dreißig Jahren wieder. Sie entdecken, dass ihre Tochter eine brillante Anwältin geworden ist wie ihre Mutter
und ihr Großvater. Auch sie selbst haben sich nicht verändert. Sie ist verurteilt, verliebt und fordernd, er dazu,
allein und nachdenklich zu sein. Die Familie hat sich aufgelöst geografisch und emotional. Bei den jungen
Menschen ist die Reproduktion weitergegangen, bei den Alten ist die Erinnerung eine Möglichkeit der Rettung. Und die
Konfrontation hat sich in Rückzug oder eine Rückbesinnung auf sich selbst gewandelt. Aber, wie sagte Johan
dreißig Jahre zuvor zu Marianne: "Das darf man denken, aber nicht sagen."
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |