SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 22

Wie starb Benno Ohnesorg?

Uwe Soukup, Der 2.Juni 1967, Berlin: Verlag 1900, 2007, 272 Seiten, 19,90 Euro

"Unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, ist seit 1949 ununterbrochen eine freiheitliche, solidarische, weltoffene Republik, auf die wir stolz sein können." Das hat die amtierende Kanzlerin Angela Merkel 2001 erklärt. Sie scheint die ersten 50 Jahre dieser Republik wohl nur aus dem Archiv des Konrad-Adenauer-Hauses zu kennen. Wie wenig sich die Wirklichkeit mit diesem Selbstbild der konservativen Eliten deckt, zeigt das Datum 2.Juni 1967, das sich in diesem Jahr zum 30. Mal gejährt hat. Am 2.Juni wurde Benno Ohnesorg erschossen, eine Tat, die obwohl alle Indizien in diese Richtung weisen, auch heute nicht "Mord" genannt werden darf.
Der Schriftsteller Uwe Soukup hat die Ergebnisse seiner jahrelangen Recherchen über die Umstände des Todes von Ohnesorg in einem Buch zusammengetragen, das wie in einem Film dem Leser noch einmal das "geistig-moralische Klima" der Bundesrepublik vor 1968 auf gespenstische Weise vorführt. Das erste Kapitel beginnt mit den Worten: "Sollte je an einer beliebigen Polizeiakademie die Übung auf dem Lehrplan stehen, den friedlichen Protest einiger Demonstranten zuerst in eine veritable Straßenschlacht und dann in eine langjährig gewaltsame Auseinandersetzung umzuwandeln, müsste man den 2.Juni als Anschauungsmaterial heranziehen. Schließlich ist genau das der Berliner Polizei an diesem Tag gelungen."
Dieser Sichtweise wird heute kaum noch widersprochen. Dies gilt z.B. für die FAZ, die bereits damals das Verhalten der Polizei wie folgt kommentierte: "Die vor einer Woche am Opernhaus eingesetzte Polizei hat nicht nur im Affekt, sondern ohne gravierende Notwendigkeit, mit Planung einer Brutalität den Lauf gelassen, wie er bisher nur aus Zeitungsberichten über faschistische oder halbfaschistische Länder bekannt wurde." Eben solche wie der damalige Iran, in dem die Schergen des Schah Oppositionelle mit Elektroschocks und glühendem Eisen folterten und dann mit oder ohne Geständnis hingerichtet haben. Dies war vielen kritischen Studenten bekannt, die sich dafür interessierten und nicht wie viele ihrer damaligen Mitbürger eine "Verschwörung des Schweigens" (Karl-Heinz Bohrer) bildeten.
Weniger schweigsam waren die Presseverantwortlichen im Hause Springer. Sie "tobten, logen, fälschten, was das Zeug hielt" (Soukup). Zum Beispiel verbreiteten sie die eskalationsversprechende Nachricht, ein Polizist sei von den Demonstranten erstochen worden. Die Redaktion in der Kochstraße wählte auch ein Bild des schwerverletzten Ohnesorg, das ihn im Untertitel zum Opfer der Steinwürfe der Studenten machte. Reza Pahlevi, ein "Mann des Westens", hatte dem damaligen Bürgermeister Albertz bei seiner Abreise noch den Tipp gegeben, noch mehrere dieser Störer zu erschießen. Erst dann werde er Ruhe haben. Und der CDU-Bundeskanzler Kiesinger entschuldigte sich beim Schah für die "unglaublichen Vorgänge" in Berlin.
Unglaublich war der Protest, nicht die Prügelorgie der Polizei und die gezielte Tötung eines friedlichen Demonstranten. Dies ist jedenfalls das Ergebnis von Soukups Recherchen. Der politische Polizist und Meisterschütze Karl-Heinz Kurras hat Ohnesorg ohne jegliche Bedrängung und Bedrohung aus sicherer Entfernung von hinten in den Kopf geschossen. Obwohl kein einziger Polizist eine Notwehrsituation bezeugen konnte, und auch das Gericht wusste, dass Kurras in vielem die Unwahrheit sagte, sorgte offensichtlich die Staatsräson dafür, dass er zeitlebens ein freier Mann blieb.
Zur empörenden Wahrheit gehört auch, dass Benno Ohnesorg erst zweieinhalb Stunden nach dem Schuss von Kurras gestorben ist. Dazwischen liegt die Weigerung ihn ärztlich zu versorgen und eine anschließende Irrfahrt durch die Stadt, die dann im Krankenhaus Moabit endete. Die danach noch verbleibenden anderthalb Stunden bis zu seinem festgestellten Tod im Krankenhaus liegen im unaufgeklärten Dunkel. Einer im Unfallwagen mitfahrende verletzte Demonstrantin wurde im Moabiter Krankenhaus die Behandlung verweigert, weil sie, offensichtlich aus Angst mit einem Strafverfahren überzogen zu werden, ihre Personalien nicht angeben wollte. Bekannt ist nur, dass Ärzte dieses Krankenhauses, wohl in Ursachen vertuschender Absicht, dem Attentatsopfer ein vier Zentimeter großes Knochenstück mit der Kugel aus dem Schädel entfernten und dann die Wunde wieder vernähten. Es gehört zu den Verdiensten des noch nicht neofaschistisch gewendeten Horst Mahler dieses ärztliche Fehlverhalten überhaupt bekannt gemacht zu machen.
Soukup schreibt abschließend: "Dass die Westberliner Polizei damals nicht nur Fallen gestellt hat, sondern dass ihre Organe mit ganz eigener krimineller Energie die ‘Szene‘ bis an die Schwelle des Terrorismus und darüber hinaus getrieben haben, muss bis zum Beweis des Gegenteils als gesichert angenommen werden."
Das Buch ist mit vielen eindrucksvollen Bildern illustriert, und Soukup versteht es entlang der Ereignisse auch ein Bild des Machtkampfs in der Westberliner SPD zu zeichnen. Es zeigt, wie "durch und durch verrottet" (Herbert Wehner) diese Partei an der Nahtstelle des Kalten Krieges war. Es ist — so Soukup — problematisch diese Partei "nach den Kategorien links und rechts" zu analysieren. Die Anführer der wechselnden Fraktionen wollten in der Regel nach oben und dabei war den meisten fast jedes Mittel recht. So äußerte sich der zurückgetretene Heinrich Albertz zu seinem Rivalen und späteren Senator für Arbeit und Soziales, Kurt Neubauer: "Neubauer ist ein Verbrecher. Dem ist alles zuzutrauen."

Jochen Gester


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