SoZ - Sozialistische Zeitung |
"Unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, ist seit 1949
ununterbrochen eine freiheitliche, solidarische, weltoffene Republik, auf die wir stolz sein
können." Das hat die amtierende Kanzlerin Angela Merkel 2001 erklärt. Sie scheint die ersten
50 Jahre dieser Republik wohl nur aus dem Archiv des Konrad-Adenauer-Hauses zu kennen. Wie wenig sich die
Wirklichkeit mit diesem Selbstbild der konservativen Eliten deckt, zeigt das Datum 2.Juni 1967, das sich in
diesem Jahr zum 30. Mal gejährt hat. Am 2.Juni wurde Benno Ohnesorg erschossen, eine Tat, die obwohl
alle Indizien in diese Richtung weisen, auch heute nicht "Mord" genannt werden darf.
Der Schriftsteller Uwe Soukup hat die
Ergebnisse seiner jahrelangen Recherchen über die Umstände des Todes von Ohnesorg in einem Buch
zusammengetragen, das wie in einem Film dem Leser noch einmal das "geistig-moralische Klima" der
Bundesrepublik vor 1968 auf gespenstische Weise vorführt. Das erste Kapitel beginnt mit den Worten:
"Sollte je an einer beliebigen Polizeiakademie die Übung auf dem Lehrplan stehen, den friedlichen
Protest einiger Demonstranten zuerst in eine veritable Straßenschlacht und dann in eine
langjährig gewaltsame Auseinandersetzung umzuwandeln, müsste man den 2.Juni als
Anschauungsmaterial heranziehen. Schließlich ist genau das der Berliner Polizei an diesem Tag
gelungen."
Dieser Sichtweise wird heute kaum noch
widersprochen. Dies gilt z.B. für die FAZ, die bereits damals das Verhalten der Polizei wie folgt
kommentierte: "Die vor einer Woche am Opernhaus eingesetzte Polizei hat nicht nur im Affekt, sondern
ohne gravierende Notwendigkeit, mit Planung einer Brutalität den Lauf gelassen, wie er bisher nur aus
Zeitungsberichten über faschistische oder halbfaschistische Länder bekannt wurde." Eben
solche wie der damalige Iran, in dem die Schergen des Schah Oppositionelle mit Elektroschocks und
glühendem Eisen folterten und dann mit oder ohne Geständnis hingerichtet haben. Dies war vielen
kritischen Studenten bekannt, die sich dafür interessierten und nicht wie viele ihrer damaligen
Mitbürger eine "Verschwörung des Schweigens" (Karl-Heinz Bohrer) bildeten.
Weniger schweigsam waren die
Presseverantwortlichen im Hause Springer. Sie "tobten, logen, fälschten, was das Zeug hielt"
(Soukup). Zum Beispiel verbreiteten sie die eskalationsversprechende Nachricht, ein Polizist sei von den
Demonstranten erstochen worden. Die Redaktion in der Kochstraße wählte auch ein Bild des
schwerverletzten Ohnesorg, das ihn im Untertitel zum Opfer der Steinwürfe der Studenten machte. Reza
Pahlevi, ein "Mann des Westens", hatte dem damaligen Bürgermeister Albertz bei seiner
Abreise noch den Tipp gegeben, noch mehrere dieser Störer zu erschießen. Erst dann werde er Ruhe
haben. Und der CDU-Bundeskanzler Kiesinger entschuldigte sich beim Schah für die "unglaublichen
Vorgänge" in Berlin.
Unglaublich war der Protest, nicht die
Prügelorgie der Polizei und die gezielte Tötung eines friedlichen Demonstranten. Dies ist
jedenfalls das Ergebnis von Soukups Recherchen. Der politische Polizist und Meisterschütze Karl-Heinz
Kurras hat Ohnesorg ohne jegliche Bedrängung und Bedrohung aus sicherer Entfernung von hinten in den
Kopf geschossen. Obwohl kein einziger Polizist eine Notwehrsituation bezeugen konnte, und auch das Gericht
wusste, dass Kurras in vielem die Unwahrheit sagte, sorgte offensichtlich die Staatsräson dafür,
dass er zeitlebens ein freier Mann blieb.
Zur empörenden Wahrheit gehört
auch, dass Benno Ohnesorg erst zweieinhalb Stunden nach dem Schuss von Kurras gestorben ist. Dazwischen
liegt die Weigerung ihn ärztlich zu versorgen und eine anschließende Irrfahrt durch die Stadt,
die dann im Krankenhaus Moabit endete. Die danach noch verbleibenden anderthalb Stunden bis zu seinem
festgestellten Tod im Krankenhaus liegen im unaufgeklärten Dunkel. Einer im Unfallwagen mitfahrende
verletzte Demonstrantin wurde im Moabiter Krankenhaus die Behandlung verweigert, weil sie, offensichtlich
aus Angst mit einem Strafverfahren überzogen zu werden, ihre Personalien nicht angeben wollte. Bekannt
ist nur, dass Ärzte dieses Krankenhauses, wohl in Ursachen vertuschender Absicht, dem Attentatsopfer
ein vier Zentimeter großes Knochenstück mit der Kugel aus dem Schädel entfernten und dann
die Wunde wieder vernähten. Es gehört zu den Verdiensten des noch nicht neofaschistisch
gewendeten Horst Mahler dieses ärztliche Fehlverhalten überhaupt bekannt gemacht zu machen.
Soukup schreibt abschließend:
"Dass die Westberliner Polizei damals nicht nur Fallen gestellt hat, sondern dass ihre Organe mit ganz
eigener krimineller Energie die Szene bis an die Schwelle des Terrorismus und darüber
hinaus getrieben haben, muss bis zum Beweis des Gegenteils als gesichert angenommen werden."
Das Buch ist mit vielen eindrucksvollen
Bildern illustriert, und Soukup versteht es entlang der Ereignisse auch ein Bild des Machtkampfs in der
Westberliner SPD zu zeichnen. Es zeigt, wie "durch und durch verrottet" (Herbert Wehner) diese
Partei an der Nahtstelle des Kalten Krieges war. Es ist so Soukup problematisch diese Partei
"nach den Kategorien links und rechts" zu analysieren. Die Anführer der wechselnden
Fraktionen wollten in der Regel nach oben und dabei war den meisten fast jedes Mittel recht. So
äußerte sich der zurückgetretene Heinrich Albertz zu seinem Rivalen und späteren
Senator für Arbeit und Soziales, Kurt Neubauer: "Neubauer ist ein Verbrecher. Dem ist alles
zuzutrauen."
Jochen Gester
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