SoZ - Sozialistische Zeitung |
1907 stand Stuttgart im Brennpunkt der Aufmerksamkeit der internationalen Arbeiterbewegung:
Zum ersten und einzigen Mal auf deutschem Boden, waren hier vom 18. bis 24.August 884 Vertreter aus 25 Ländern zum
7.Kongress der II.Internationale zusammengekommen von Japan bis Argentinien, von Russland bis Südafrika.
Allein aus Deutschland kamen 289 Delegierte, um brennende Fragen zu beraten und ein gemeinsames Vorgehen zu
beschließen. Es ging um nichts Geringeres als um Maßnahmen gegen den drohenden imperialistischen Krieg (nach
fast vierzig relativ friedlichen Jahren), um die Frage Massenstreik, Gewerkschaften und die Revolution, um die
Einschätzung des Kolonialismus, der Ein- und Auswanderungsbewegungen, das Frauenstimmrecht und um Fragen der
Arbeiterjugend.
Die Gegensätze zwischen den imperialistischen
Staaten spitzten sich mit beängstigenden Geschwindigkeit zu. 1906 fand der sog. "Pantersprung" des
deutschen Kaisers Wilhelm II. nach Agadir, Marokko, statt, der als demonstrativer Anspruch auf einen Teil der (bereits
von England, Frankreich beanspruchten) afrikanischen und asiatischen Kolonien eine unmissverständliche Kriegsdrohung
war. Es ging um die imperialistische Neuverteilung der Welt mit der Parole: "Auch wir wollen einen Platz an der
Sonne!" Allseitiges Wettrüsten war die Folge. Kurz zuvor war noch eine gemeinsame Militäraktion gegen
China (gegen den sog. Boxeraufstand) u.a. zur Durchsetzung des freien Opiumhandels durchgeführt worden.
Auf der anderen Seite gab es ein enormes Anwachsen der
Arbeiterbewegung und der revolutionären Frage. 1905 wurde das zaristische Russland von der ersten Revolution
erschüttert; vielfach wurden von marxistischen Programmen geleitete sozialdemokratische Parteien zur stärksten
Partei in ihrem jeweiligen Land und eilten von Wahlsieg zu Wahlsieg. Die Frage, wie kommen wir zur Überwindung des
kapitalistischen Systems, stellte sich immer drängender. Gleichzeitig waren Risse und Widersprüche innerhalb
sozialdemokratischer Parteien schon deutlich spürbar und nahmen zu.
Mit Opportunismus, Reformismus und der Revision von revolutionär-marxistischen Positionen, mit Losungen wie
"friedliches Hineinwachsen in den Sozialismus" machten sich die immer gewichtiger werdende
Gewerkschaftsbürokratie und Parteiverwaltungsapparate, aber auch Theoretiker wie Bernstein für bloß
reformerisches Einwirken und Anpassen an herrschende Zustände stark.
Im scharfen Gegensatz dazu standen Vertreter des
revolutionären Marxismus wie Rosa Luxemburg, W.I.Lenin, Clara Zetkin u.a., die um die Neueinschätzung des
imperialistischen Charakters der Epoche und des neuen Stadiums des Kapitalismus rangen, sowie um neue Formen des
revolutionären Klassenkampfs. Um die Kernfragen gab es auf dem Kongress eine in der Sache sehr scharfe, in der Form
die Einheit wahrende Auseinandersetzung. Der rechte Flügel der Sozialdemokratie war schon stark spürbar; in der
deutschen Partei als der größten und international führenden besaß er bereits die Oberhand. Dennoch
schafften es die Linken, ihre Hauptpositionen in den Kongressresolutionen mehrheitlich durchzubringen, vor allem in der
entscheidenden Frage von Krieg und Frieden; eine knappe Mehrheit erzielten sie in der Kolonialfrage. Kritische Beobachter
waren allerdings schon damals skeptisch, inwieweit diese Beschlüsse in der Praxis bei einer weiteren Zuspitzung der
Situation umgesetzt würden.
Auf dem 1912 in Basel folgenden Internationalen
Sozialistenkongress fand die Stoßrichtung von Stuttgart zwar nochmals Bestätigung, als aber 1914 der
imperialistische Weltkrieg vom Zaun gebrochen wurde, fielen die Parteien der II.Internationale zum großen Teil um,
sie wurden zu "Vaterlandsverteidigern" bzw. zu Verfechtern der "Burgfriedenspolitik"; die Linken
fanden sich meist in der Minderheit und wurden verfolgt. Jean Jaurès wurde 1914 in Frankreich ermordet, Rosa
Luxemburg, Clara Zetkin, Karl Liebknecht mit Zuchthausstrafen überzogen.
Während des Ersten Weltkriegs gab es von den Linken
Versuche, die II.Internationale zu retten und Aktionen gegen den Krieg zu koordinieren. 1917 stürzte die
Februarrevolution in Russland den Zarenthron, im Oktober setzten die Bolschewiki die Stoßrichtung der Resolution von
Stuttgart um und führten die erste siegreiche proletarische Revolution durch. Unabhängig davon, wie man die
spätere Sowjetunion einschätzen mag, blieb die Oktoberrevolution lange Zeit das einzige praktisch erfolgreiche
Beispiel für die Konsequenz aus den Stuttgarter Beschlüssen. Wenn das rückständige Russland damals
nicht allein geblieben wäre und auch in anderen Ländern eine sozialistische Entwicklung eingesetzt hätte,
hätte die Weltgeschichte einen deutlich anderen und wahrscheinlich weniger katastrophalen Verlauf genommen.
1918 erschütterte die Revolution auch Deutschland und Österreich - Ungarn. Die Kaiser mussten gehen, zunächst übernahmen Arbeiter- und Soldatenräte die
Macht. Doch trotz der Versuche der Linken, die insgesamt zu wenig organisiert und uneinheitlich waren, die Revolution
weiter zu treiben bis zur politischen Machteroberung durch die Arbeiterklasse, setzten sich die Rechten an der Spitze der
Sozialdemokratie durch. Der SPD-Vorsitzende Ebert erklärte damals: "Ich hasse die Revolution wie die
Sünde!" Sie ließen als "Rat der Volkskommissare" alle revolutionären Bemühungen mit
Hilfe nationalistischer "Freikorpseinheiten" blutig niederschlagen; SPD-"Volkskommissar" Noske
erklärte dazu: "Einer muss der Bluthund sein!" Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und andere wurden ermordet.
Dies geschah ebenso, nach wenigen hoffnungsvollen revolutionären Tagen mit roten Fahnen auf dem ehemaligen
königlichen Wohnsitz im Wilhelmspalais, in Stuttgart. Nur in Bayern und Bremen konnten sich noch einige Zeit
Räteregierungen halten, bis sie im Auftrag der sozialdemokratischen Regierung durch die Reichswehr blutig abgesetzt
wurden.
Wenn die Beschlüsse von Stuttgart (1907) in die Tat
umgesetzt worden wären, hätte die finsterste Zeit in der deutschen Geschichte wahrscheinlich verhindert werden
können.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |