SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2007, Seite 11

Brasiliens Landlose

Kampf gegen Agrobusiness

Mitte Juni fand in Brasília der 5.nationale Kongress der brasilianischen Landlosenbewegung MST statt. Fast 18000 Teilnehmenden aus 24 Bundesstaaten, zahlreiche Gäste und Delegierte von befreundeten Organisationen machten aus dem Kongress die größte Versammlung von Landlosen, die jemals auf dem lateinamerikanischen Subkontinent stattgefunden hat.
Die Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere die enttäuschende Bilanz der Regierung Lula und der zunehmende Einfluss eines internationalen Agrobusiness, stellen die MST allerdings vor eine Reihe neuer und schwieriger Aufgaben. So erklärte João Pedro Stédile, der nationale Koordinator der Bewegung, Anfang Juli in einem Interview mit dem Magazin Época, das Modell der Agrarreform, für das die MST in den letzten zwanzig Jahren gekämpft habe, sei "verbraucht".
Historisch, so Stédile, seien "klassische" Agrarreformen in den meisten Ländern Europas, den USA und Japan seit dem Zweiten Weltkrieg als Mittel zur industriellen Entwicklung und zur Schaffung eines inneren Marktes durchgesetzt worden. In Brasilien seien aber alle Gelegenheiten hierzu verpasst worden: Ende des 19.Jahrhundert mit dem Ende der Sklavenwirtschaft, Anfang der 30er Jahre beim Beginn der Industrialisierung des Landes, 1964 vor der Machtübernahme durch die Militärs und schließlich während der Rückkehr zu einer zivilen Regierung Mitte der 80er Jahre, als es auch unter bürgerlichen Politikern Sympathien für das Projekt einer nationalen Entwicklung zu geben schien. Seit den 90er Jahren aber seien solche Ideen verschwunden und neoliberale Konzepte hätten sich durchgesetzt, die die brasilianische Wirtschaft dem internationalen Finanzkapital unterordnen wollen.
Die MST steht in dieser Situation nicht mehr nur einer Oligarchie von Großgrundbesitzern, sondern einer deutlich stärkeren Koalition von Grundbesitzern, international operierender Agrarindustrie und Finanzkapital gegenüber. Die Landlosenbewegung will und muss auf diese neue Entwicklung mit einer Ausweitung ihrer Aktivitäten antworten: So soll künftig der Kampf für den Schutz der Umwelt eine noch größere Rolle spielen als bisher. Außerdem will die MST noch stärker als bisher mit anderen sozialen Bewegungen zusammenarbeiten. Dass die jetzige Regierung hierbei wohl kein Partner sein wird, ist spätestens im März dieses Jahres deutlich geworden, als bei wechselseitigen Besuchen Lula und George W. Bush eine Ausweitung der brasilianischen Produktion von Agrotreibstoff für den nordamerikanischen Markt vereinbarten.

Umweltschutz statt Agrobusiness

Die Abschlusserklärung des Kongresses enthält neben den bekannten Forderungen der MST — Enteignung der großen Ländereien und Demokratisierung des Landbesitzes, Orientierung der landwirtschaftlichen Produktion auf den Binnenmarkt, Alphabetisierung und Bildung für die Landarbeiter, Kampf gegen Sklavenarbeit und Gewaltausübung durch die Großgrundbesitzer — eine Reihe von Positionierungen gegen das Agrobusiness und für den Schutz der Umwelt.
So wendet sich die MST gegen die Rodung von Wäldern zur Ausweitung des Großgrundbesitzes, den Gebrauch von Pestiziden, die Anlage von Monokulturen zur Produktion von cash crops wie Soja, Zuckerrohr oder Eukalyptus und die Verwendung genmanipulierten Saatguts. Transnationale Unternehmen wie Monsanto, Nestlé, BASF und Bayer sollen bekämpft, einheimisches Saatgut und traditionelle Sorten vor dem Zugriff der Multis geschützt werden. Die Produktion von Agrotreibstoffen soll schließlich in der Hand der Kleinbauern liegen, um so die Eigenversorgung der Regionen mit Energie zu sichern.
Der sich herausbildenden Allianz von Großgrundbesitz und internationalem Kapital kann die Landlosenbewegung nur wirksam entgegentreten, wenn sie ihre Basis in der Gesellschaft verbreitert, breite Bündnisse eingeht und eine offensive Öffentlichkeitsarbeit betreibt. "Die Herausforderung besteht darin, der Gesellschaft bewusst zu machen, welche Rolle diese Unternehmen spielen. Und dies geht nicht nur mit Landbesetzungen. Andere Methoden sind notwendig, um den Dialog und den Bewusstseinsprozess in der Gesellschaft voranzutreiben", sagt Marino dos Santos, Mitglied der nationalen Leitung des MST in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Brasil de Fato.
Eine zentrale Aufgabe, so Dos Santos, sei die verstärkte Einbeziehung von Jugendlichen und Frauen. Zum internationalen Frauentag am 8.März hatte es in den letzten beiden Jahren bereits symbolische Aktionen gegeben, an denen unterschiedliche soziale Bewegungen beteiligt waren. Und auch die Mobilisierungen gegen den Bush-Besuch wurde von einem breiten Bündnis getragen. Die zunehmende Distanz der MST zur Lula-Regierung eröffnet der Bewegung außerdem die Möglichkeit, stärker als bisher mit politischen Organisationen links von der Arbeiterpartei (PT) und kritischen Gewerkschaftsorganisationen wie Intersindical und Conlutas zusammenzuarbeiten.

Harald Etzbach


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