SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2007, Seite 16

Boliviens Rechte auf Konfrontationskurs

Das Volk mobilisiert zur Verteidigung der Verfassunggebenden Versammlung

von Federico Fuentes

Für Boliviens indigene Bevölkerungsmehrheit gibt es kein Zurück. Die Präsidentschaftswahl von 2005, bei der Evo Morales der erste indigene Präsident des Landes wurde, markierte einen Wendepunkt in der Geschichte Boliviens nach mehr als 500 Jahren Kampf gegen Imperialismus und Kolonialismus. Sie war ein bewusster Schritt nach vorne für Boliviens indigene Bevölkerungsmehrheit in ihrem Kampf für Gerechtigkeit und Gleichheit.
Wie Morales in einem Interview mit der BBC vom 22.August ausführte, sagte Boliviens Rechte von Anfang an: "‘Dieser kleine Indio wird nur drei oder vier Monate Präsident bleiben.‘ Die Zeit verging, und jetzt sagen sie, dieser kleine Indio wird lange bleiben, wir müssen etwas tun. Und das heißt, Verwirrung oder Destabilisierung fördern."
Deshalb ist die aufständische Rechte entschlossen, das Land und die Regierung zu destabilisieren, "auch wenn das bedeutet, das Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen oder einen gewaltsamen militärischen Coup zu provozieren", um Morales zu stürzen, und mit ihm die Hoffnungen und Träume von Millionen indigener und nichtindigener Menschen, nicht nur in Bolivien, sondern auf der ganzen Welt zu zerstören.
Rassistische Propaganda soll die Menschen anstacheln, "mit dieser Indioscheiße Schluss zu machen", gewaltsame Zusammenstöße werde provoziert, faschistische Jugendgruppen bauen Straßensperren, Waffen werden ins Land geschmuggelt — all das sind Bestandteile einer Verschwörung, die das Ziel verfolgt, Morales zu stürzen.
Die öffentlich bekannten Gesichter der Rechten, die ihr Zentrum in den reichen Regionen des Ostens hat, sind die Gouverneure der Opposition und die nicht gewählten, von der Wirtschaft kontrollierten Bürgerkomitees. Hinter ihnen stehen die transnationalen Erdgasfirmen, das große Agrobusiness und die USA, die alle von der Ausplünderung des enormem natürlichen Reichtums in Bolivien profitiert und dabei das Land zu einem der ärmsten der Welt gemacht haben.
Aber ihre Aufgabe wird schwierig. Die Wahl "dieses kleinen Indios" geschah auf einer Welle der sozialen Rebellion, angefeuert von einer zunehmenden Ablehnung des Neoliberalismus und dem Aufkommen und Erstarken eines nationalen und indigenen Stolzes. Sie war auch das Resultat einer vor mehr als zehn Jahren bewusst gefällten Entscheidung der Indigenen, Campesinos und Kokabauern, sich ein eigenes politisches Instrument zu schaffen, die Bewegung für den Sozialismus (MAS — Movimiento al Socialismo).
Da sie die Unterstützung eines bedeutenden Teils der Mittelschicht und der Intellektuellen für ihr Projekt gewinnen konnte, gelang es der Partei, 2005 die Wahlen zu gewinnen und die traditionellen Politiker zu schlagen, deren Unterwürfigkeit gegenüber den USA das Land beinahe erstickt hätte.
Heute haben jene Bolivianer, die zuvor wegen ihrer Hautfarbe den Platz vor dem Präsidentenpalast nicht betreten durften und deshalb an anderen Orten protestierten, um frühere Regierungen zu stürzen, Machtpositionen übernommen. Dies war ein mächtiger Antrieb dafür, dass das Volk seine Selbstachtung zurückgewonnen hat — jetzt beruft es sich mit Stolz auf seine Wurzeln.

"Neugründung" Boliviens

Die zentrale Aufgabe der MAS-Regierung war die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung zur "Neugründung" Boliviens, um die Ungerechtigkeit zu beenden und die Rechte der zuvor ausgeschlossenen indigenen Mehrheit anzuerkennen.
Trotzdem hat die Versammlung selbst ein Jahr nach der Amtseinführung des neuen Präsidenten noch keinen einzigen Artikel einer neuen Verfassung verabschiedet. Die gleiche politische Minderheit, die den Niedergang des Landes verursacht hat, ruft heute auf zur Verteidigung von "Demokratie" und "Autonomie" mit dem Ziel, ihre politischen Enklaven und ihre politische Macht zu retten und Sektoren der weißen und Mestizenmittelschicht im Osten wie im Westen gegen die Regierung zu mobilisieren.
Verschleppungstaktik und gewaltsame Proteste, wie zuletzt in Sucre, bedrohen die Sicherheit dieser Versammlung und haben einige indigene Delegierte gezwungen, sich vor rassistischen Angriffen zu verstecken. Am 7. September beschloss das Direktorium der Versammlung, die Sitzungen für einen Monat auszusetzen, weil es nicht in der Lage sei, Sicherheit zu garantieren.
Am 10.September marschierten mehr als 10000 Campesinos und Indigene in einer Machtdemonstration durch Sucre, um die Verfassunggebende Versammlung und die nationale Einheit zu verteidigen. Später am gleichen Tag beschlossen die sozialen Organisationen während eines von 10000 bis 15000 Menschen besuchten Sozialgipfels, "die Verfassunggebende Versammlung und den Prozess der unwiderruflichen, umfassenden Veränderung zu verteidigen, der durch die historischen Kräfte unserer Völker und die indigenen, alteingesessenen und Campesino-Nationen vorangetrieben wird, zusammen mit den Volksorgansationen, auch mit unserem Leben".
Die sozialen Bewegungen erklärten, sie seien in einer Situation des "Notstands". Sie verpflichteten sich, Komitees zur Verteidigung der Verfassunggebenden Versammlung zu gründen, und fügten hinzu, sie würden, wenn nötig, "weitere radikalere Maßnahmen" ergreifen.
In einer Erklärung des Gipfels wurden 18 strategische Punkte benannt, für die die Teilnehmer mobilisieren wollen, um sicherzustellen, dass sie Eingang in die neue Verfassung finden. Dazu gehört die Schaffung eines einheitlichen, aus verschiedenen Nationen bestehenden, gemeinschaftlichen und demokratischen Staats, die Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen, Steuern auf große Vermögen, die entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes und die sofortige Verteilung des Landes. Außerdem soll es die Möglichkeit zur Neu- und Abwahl aller gewählten Gremien und die Beschlagnahme aller aus Korruption erworbenen Güter geben.
Im Augenblick hat sich die Situation in Sucre beruhigt. Die von der Opposition angedrohten Aktionen für den 10.September wurden abgesagt. Eine neue Runde des Dialogs wurde angekündigt, um zu prüfen ob es möglich ist. aus der Sackgasse herauszukommen. Aber die Anspannung bleibt, und es kann nur spekuliert werden, wie lange die Ruhe andauern wird.
Das Direktorium der Versammlung hat angekündigt, es werde ein Gerichtsurteil zurückweisen, das einen Beschluss der Versammlung für ungültig erklärt, mit dem die Hauptstadtfrage von der Tagesordnung genommen wurde. Der von der Rechten angeheizte Konflikt über die Frage, ob dies La Paz, die jetzige politische Hauptstadt, oder Sucre, die jetzige Verwaltungshauptstadt sein soll, hatten den jüngsten Konflikt mit hervorgerufen. Die Zukunft der Verfassunggebenden Versammlung und die von Bolivien ist noch nicht entschieden.

Gekürzt aus: Green Left Weekly, Nr.724, 14.9.2007 (www.greenleft.org.au) (Übersetzung: Harald Etzbach).




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