SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2007, Seite 19

Krisen gehören zum Geschäft

Über den Zusammenhang von Börse und Realwirtschaft

von Ingo Schmidt

Die Abschwächung der Konjunktur zeichnete sich schon vor dem Immobilienkrach ab. Finanzkrisen zeigen eine Rezession an, sie rufen sie nicht hervor.
Im Sommer war die Welt noch in Ordnung. Die Konjunktur zeigte nach oben, und noch schneller stiegen die Börsenkurse. Doch dann führte das Ende des Immobilienbooms in den USA zu einer Finanzkrise. Die konnte zwar durch drastische Zentralbankinterventionen bislang eingedämmt werden, aber die Euphorie ist dahin; die Finanzwelt plagt Katzenjammer.
Wie immer in solchen Fällen, verlagert sich die Spekulation von der Börse zur Prognose. Wussten Banker, Broker und Rating-Agenten im Aufschwung stets — die Entwicklung der Börsenkurse zeigte es ja — wohin die wirtschaftliche Reise geht, greifen sie nun nach jedem Prognosestrohhalm, der ihnen von Ökonomen, Wirtschaftsjournalisten oder gar Politikern hingehalten wird. Die geben sich zwar gut informiert, wissen aber auch nichts Genaues.
Alle stellen sich die bange Frage, ob sinkende Börsenkurse zu einer Rezession führen werden. Kritiker des Finanzmarktkapitalismus sehen sich dagegen in ihren Warnungen bestätigt, dass unregulierte Finanzmärkte Spekulationsblasen und extreme Kursschwankungen produzieren, die unweigerlich zu Krisen führen würden.
Der Zusammenhang zwischen Börseneuphorie und Konjunkturaufschwung auf der einen, Börsenkrach und Krise auf der anderen Seite ist jedoch keineswegs so eindeutig, wie Finanzmarktfans gegenwärtig befürchten und Kritiker immer schon vorausgesagt haben. Ebenso wenig eindeutig sind die Beziehungen zwischen Kursschwankungen und Krise.
Ein Blick auf die Finanzkrisen im Ursprungsland des Börsenkapitalismus, den USA, zeigt zunächst, dass nicht jede Finanzkrise mit einer Rezession verbunden ist. Der Börsenkrach 1987 hat die Konjunkturentwicklung überhaupt nicht berührt, dafür kam es 1990/91 zu einer Rezession, die ihrerseits die gute Stimmung an der Börse nicht getrübt hat.
Bei genauem Hinsehen zeigt sich zudem, dass die Konjunktur sich mitunter bereits in Richtung Krise bewegt, während an der Börse noch Optimismus herrscht. Dies war 1929 und 2001 der Fall. Auch für die jetzige Krise gilt: Schon bevor die gegenwärtigen Immobilien- und Finanzkrisen ausbrachen, zeichnete sich bereits eine Abschwächung der US- und Weltkonjunktur ab.
Darüber hinaus sind die Wertverluste, die zwischen einem Höhepunkt der Börsenentwicklung und ihrem Tiefpunkt im Laufe einer Finanzkrise eintreten, seit der Großen Depression 1929 erheblich geringer geworden. Die im Dow Jones erfassten Firmen mussten nach dem Schwarzen Freitag einen Wertverlust von fast 90% hinnehmen, in den 70er Jahren hingegen nicht einmal 50%. Das Platzen der Dot-Com-Blase 2001 führte nur noch zu einem Wertverlust von gut 35%. Weil das Kurs- und Umsatzniveau aber dramatisch gestiegen ist, wird dieser Unterschied nicht so wahrgenommen.
Sind die Befürchtungen der Finanzwelt und die Warnungen von Kritikern also gleichermaßen unbegründet? Haben gar notorische Börsenfreunde Recht, die behaupten, deregulierte Finanzmärkte hätten die Wirtschaftsentwicklung stabilisiert, dennoch eintretende Krisen seien auf exogene Schocks oder politische Intervention zurückzuführen?
Die Fälle, in denen der Konjunkturzyklus schon "über den Berg" war, bevor eine Finanzkrise einsetzte, legen es nahe, nicht nach einer Kausalbeziehung zwischen Finanzmarkt und Wirtschaftsentwicklung zu suchen. Krisen sind vielmehr ein grundlegender Bestandteil kapitalistischer Entwicklung. Ihre Ursachen liegen in der Überproduktion, die zu Absatzstockungen führt, oder in sinkenden Profitraten, die auf eine ungünstige Entwicklung der Arbeitsproduktivität zurückgehen. Turbulenzen und Zusammenbrüche auf den Finanzmärkten sind eine Erscheinungsform von Krisen; sie wirken als möglicher Verstärker innerhalb eines Krisenzyklus.
Seit der Großen Depression haben Regierungen und Zentralbanken in den kapitalistischen Metropolen gelernt, Liquiditätsengpässen mit Geldspritzen und Zinssenkungen zu begegnen. Solange herrschende Klassen keine Verschärfung einer Wirtschaftskrise anstreben, bspw. um militante Arbeiterbewegungen zu disziplinieren, sind sie selbst an einer Abschwächung von Krisen interessiert, weil unverkäufliche Warenbestände und nicht bezahlte Rechnungen den realisierten Profit schmälern.
Die nervöse Aufmerksamkeit, die die aktuelle Finanzkrise begleitet, lenkt von den wirklichen Problemen des Finanzmarktkapitalismus ab. Um es ganz klar zu sagen: Krisen gehören zum Kapitalismus wie das Amen zur Kirche — das war der Fall lange bevor es einen Finanzmarktkapitalismus gab und wird auch dann der Fall sein, wenn es zu einer schärferen Regulierung der Finanzmärkte kommen sollte. Was mit dem Finanzmarktkapitalismus jedoch entstanden ist und auch durch politische Interventionen, die sich auf den Finanzsektor beschränken, nicht verschwinden würde, ist ein zuverlässig und still wirkender Umverteilungsmechanismus.
Börsen werden stets als Hort angespannter Betriebsamkeit präsentiert, gleich ob es um die Ausnutzung von Gewinnchancen im Boom oder das rechtzeitige Abstoßen wertloser Papiere in der Krise geht.
Dieses Spektakel sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus wesentlich mit dem Versprechen eines neuen und stabilen Gesellschaftsmodells einherging. Bis zur Börsen- und Wirtschaftskrise 2001 wurde dieses Modell als New Economy verkauft.
Massenarbeitslosigkeit, Abbau von Löhnen und Sozialleistungen sowie längere Arbeitszeiten haben das Versprechen einer Gesellschaft von Vermögensbesitzern, in der nicht der Arbeitsplatz, sondern Finanzinvestitionen das Einkommen sichern, attraktiv gemacht. Wer wollte nicht den Mühen der Wertschöpfung entfliehen, wenn Börsen wunderbarerweise aus Geld mehr Geld machen?
Anders als im Betrieb wird man an der Börse auch nicht vom Chef herumkommandiert, sondern kann sich als gleichberechtigter Investor im Spiel des Lebens wähnen — dem Dollar oder Euro ist der soziale Status des Besitzers ja nicht anzusehen.
Immer mehr Ersparnisse schlummern deswegen nicht mehr geduldig auf dem Sparbuch vor sich hin, sondern sausen — von der Hoffnung auf Spekulationsgewinne getrieben — durch unüberschaubar verschlungene Finanzkreisläufe. Dieser ganze Börsenbetrieb dient dazu, Renditeansprüche zu formulieren, deren Durchsetzung zum Elend der Arbeitswelt führt — und damit den Wunsch nach Auswanderung in die neue Welt des Finanzmarktkapitalismus, wiederkehrenden Finanzkrisen zum Trotz, immer weiter nährt.
Allerdings haben nicht alle, die den Mindesteinsatz für das Börsenspiel aufbringen können, gleichen Anlass auf das Proletariat herabzusehen, das es zwar zu einem schlecht bezahlten Job, aber nicht zu den mindesten Ersparnissen gebracht hat. Finanzmärkte haben nämlich die unangenehme Eigenschaft, Einkommensansprüche in die Welt zu setzen, die trotz verschärfter Ausbeutung in der Arbeitswelt nicht vollständig befriedigt werden können.
Steigende Börsenkurse rechtfertigen sich nur teilweise durch Umverteilung von Arbeits- zu Vermögenseinkommen, immer wieder gehen sie über das zur Gewinnausschüttung anstehende Finanzvolumen hinaus. Sinken die Kurse, ist das umgekehrt die Mitteilung an Börsenmitspieler, dass sie sich verspekuliert und damit ihren Einsatz verloren haben.
Das gilt für große Spieler — Firmen, die durch Fehlspekulationen zu Übernahmekandidaten werden, es gilt aber vor allem für viele Haushalte, die ihre Ersparnisse damit ganz oder teilweise verlieren. Manche steigen sogar in das vor kurzem noch verachtete Proletariat ab.
Im Finanzmarktkapitalismus ist die börsengestützte Hoffnung auf das große Glück von einer individuellen Marotte zum gesellschaftlichen Organisationsprinzip befördert worden. Selbst vorsichtige Gemüter, die ihre Ersparnisse auf dem Sparbuch lassen, müssen feststellen, dass die Bank ihres jeweiligen Vertrauens an riskanten Spekulationsgeschäften beteiligt ist.
Im Falle einer Finanzkrise sind deshalb auch vermeintlich unriskante Spareinlagen von Zahlungsunfähigkeit und Verlust bedroht bzw. ihre Sicherung wird von Zentralbankinterventionen abhängig. Die durch Börsenkrisen bewirkte Entwertung von Renditeansprüchen und Ersparnissen mag unsinnig und unnötig erscheinen, ist aber durchaus im Interesse der großen Spieler. Nicht nur, dass die ganz Großen die weniger Großen übernehmen können — ein als Zentralisation des Kapitals bekannter Vorgang. Es können sich auch alle Großen zusammen den Einsatz der Kleinen einverleiben — und das ist ein Vorgang der Enteignung.
In den 70er Jahren hatten viele Angehörige der Mittelklasse und besser bezahlte Arbeiterhaushalte Angst, Gütermarktinflation würde die Kaufkraft ihrer Ersparnisse auffressen. Diese Angst wurde von der herrschenden Klasse zur Mobilisierung gegen die Gewerkschaften eingesetzt, die dem verunsicherten Kleinsparer als Motor einer inflationären Lohn-Preis-Spirale dargestellt wurden. Aus diesem Kampf gegen Gewerkschaften und Arbeiterklasse ist der Finanzmarktkapitalismus entstanden. Die damit verbundene Wertpapierinflation hat mittlerweile zu diffusen Ängsten vor Heuschrecken, Börsengeiern und anderen Eingriffen in Handelsgeschäfte geführt. Eine politische Alternative wird dennoch bestenfalls ansatzweise diskutiert.


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