SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2007, Seite 06

"Der Grundsatz ‘Ein Betrieb, ein Tarif‘ passt heute nicht mehr"

Frank Schmidt (GDL) über den Streik der Lokführer

Vier Monate Tarifkampf hat die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) jetzt hinter sich — zuletzt, am 26.10., bestreikte sie 30 Stunden lang den öffentlichen Nah- und Regionalverkehr. Der DB-Vorstand jedoch gibt sich unerbittlich und hofft — wie die Lokführer auch — auf ein ihm günstiges Urteil des Landesgerichts Sachsen am 2.November.
FRANK SCHMIDT ist Bezirksvorsitzender der GDL in NRW. Wenngleich er ein für die Eisenbahner günstiges Urteil erwartet, rechnet er damit, dass der Tarifkampf noch lange dauert. Die bisherige Bahnprivatisierung, die seit 1993 im Gang ist und mit dem Börsengang einen krönenden Abschluss finden sollte, ist zwar ins Stocken geraten; sie hat bei der Bahn aber auch sehr komplizierte Verhältnisse geschaffen.
Mit Frank Schmidt sprachen Hans Peiffer und Angela Klein.

Am Donnerstag (25.10.), eurem letzten Streiktag, hat die Deutsche Bahn in allen großen Tageszeitungen eine Anzeige geschaltet, in der es u.a. hieß: "Wir bieten einen eigenen Tarifvertrag an." Wie ist das zu verstehen?

Ja, wir sollen einen eigenen Tarifvertrag (TV) bekommen, nicht nur über Lohn, sondern auch über Arbeitsbedingungen. Der Pferdefuß daran ist: Wenn wir ihn kündigen, können wir erst dann für unsere Forderungen auch streiken, wenn Transnet und GdBA mit uns gleichlautende Forderungen aufstellen. Wir müssen also immer erst zu den anderen Gewerkschaften laufen und uns von ihnen abnicken lassen, wofür wir kämpfen dürfen.

Ihr dürftet also diesmal einen eigenen Tarifvertrag abschließen, aber für alle folgenden müsstet ihr das OK von Transnet haben?

Richtig.

Das heißt mit anderen Worten: Ihr seid da, wo ihr angefangen habt!

Wir sind genau da, wo wir angefangen haben und gesagt haben: So geht‘s nicht mehr. Wenn wir uns über die Forderungen einig wären, wäre das kein Problem. Transnet ist jedoch ein Gemischtwarenladen, genau wie die GdBA, da spielt das Fahrpersonal eine absolut untergeordnete Rolle, deswegen finden sich Berufsgruppen wie wir da nicht wieder.

Man hält euch immer wieder entgegen, die Tarifeinheit bei der Bahn sei ein so hohes Gut, das dürfe man nicht aufs Spiel setzen. Andererseits liest man, es gibt 30 Tarifverträge bei der Bahn. Wie unterscheiden die sich von dem Tarifvertrag, den ihr abschließen wollt?

Es gibt sehr unterschiedliche Tarifverträge bei der Bahn, z.B. einen Jobticket-TV, der regelt lediglich die Freifahrten zum Arbeitsplatz. Die Bahn hat aber auch innerhalb einzelner Berufsgruppen verschiedene Tarifverträge, z.B. für die Schlosser im ICE-Werk: die haben einen sog. Sprinter- Tarifvertrag, der Arbeitszeiten und finanzielle Fragen regelt, aber nur für die, die am ICE rumschrauben. Da wird also innerhalb der eigenen Klientel schon ein Unterschied gemacht.
Man muss auch aufpassen bei den Zahlen, die die Bahn verkündet: Sie spricht von 240000 Beschäftigten, für die die Tarifverträge der Bahn gelten würden. Das ist Unsinn. Als erstes muss man die 50000 Beschäftigten von Schenker abziehen — früher ein Unternehmen der Bahn, dann privatisiert, jetzt wieder Teil des DB-Konzerns: Die haben einen komplett eigenen Tarifvertrag. Dann kommen rund 20000 von Bax Global, einem anderen Logistikunternehmen der Bahn dazu — bleiben noch 165000 Beschäftigte übrig. Für die gilt das Tarifvertragswerk der Bahn in Gänze.
Unter denen gibt es allerdings auch Ausreißer — so die DB Zeit (JobServices), eine Zeitarbeitsfirma der Bahn, die läuft völlig nebenher. Lokführer, die dort anfangen, finden einen vorgefertigten Tarifvertrag und einen fertig installierten Betriebsrat vor, der von den anderen Gewerkschaften bestimmt wurde.
In anderen Bereichen haben wir keine Mitglieder und stellen deshalb dort auch keine Ansprüche: so bei der DB Netz, da sind 50000 beschäftigt — Fahrdienstleiter, Streckenposten, Gleisbauer usw.; bei der DB Station & Services, das sind die Bahnhöfe... Übrig bleiben die drei Führungsgesellschaften Fernverkehr, Regio und Nahverkehr — dort arbeiten 75000 Mitarbeiter. Davon vertreten wir an die 20000 (80% der Lokführer, ein Drittel der Zugbegleiter) — das ist eine Minderheit, über die sich auch der Bahnvorstand nicht hinwegsetzen kann. Die kann man auch nicht einfach mit anderen Berufsgruppen bei der Bahn vergleichen — allein schon wegen der Arbeitszeiten.
Die Genannten sind alles eigene Firmen, die zwar unter den Gesamtkonzern-Tarifvertrag fallen. Aber die Bahn zeigt ja, dass sie dort, wo es ihr gefällt, wie bei der DB Zeit, auch eigene Tarifverträge nebenher macht.

Dann geht der ganze Streit darum, dass die anderen Tarifverträge, wie bei der DB Zeit, gute Tarifverträge sind, weil sie von Transnet bzw. GdBA abgeschlossen wurden...

Den Tarifvertrag bei der DB Zeit wollte man auch mit uns abschließen, aber das haben wir abgelehnt: Dort wird ein Lokführer für 8,50 Euro eingruppiert, bei einer 32-Stunden-Woche (= 1088 Euro in vier Wochen), das ist absolutes Lohndumping. Er wird an andere Firmen ausgeliehen und soll dort Arbeitsspitzen abbauen. Da sieht der Mindestlohn bei der Post schon anders aus...
Die Bahn will jetzt 1000 Lokführer neu einstellen, die sollen wieder in eine andere, neue Firma gesteckt werden, damit die Bahn nicht mit dem Tarifvertrag der DB Zeit in Konflikt kommt. Also wird dort schon wieder ein neuer Tarifvertrag aufgemacht, wieder für eine bestimmte Berufsgruppe — aber uns in den Führungsgesellschaften will man einen solchen Tarifvertrag nicht geben. Für uns ist es allerdings nur eine Frage der Zeit, bis wir die Lokführer auch in dieser Untergruppe organisiert haben.

Wenn die Bahn einen eigenen Tarifvertrag mit euch abschließt, könnt ihr euch vorstellen, damit wieder in eine Tarifgemeinschaft mit den übrigen Gewerkschaften zu treten?

Selbstverständlich, aber ohne unsere Eigenständigkeit aufzugeben. Wo wir dieselben Forderungen haben, sollten wir zusammenarbeiten. Transnet und GdBA haben für unsere Berufsgruppe aber andere Forderungen aufgestellt.
Wir fordern im Moment nur das zurück, was wir vor Jahren mal gegeben haben. Die Gehälter für Lokführer waren bis 1999 noch ganz anders strukturiert, da erstreckten sich die Lokführerlaufbahnen für Tarifkräfte über drei Besoldungsgruppen. Diese Struktur wurde 1999 zerschlagen, weil die Bahn konsolidiert werden musste, es wurden alle in eine Tarifgruppe gepackt. Das haben wir mitgemacht, weil die Bahn damals ein Sanierungsfall war. Heute aber ist die Bahn eine Firma mit 2,4 Milliarden Euro Gewinn, jetzt wollen wir zurückhaben, was wir damals abgaben.

Ihr sagt, die Arbeitsbedingungen sind euch wichtiger als die Lohnforderung. Das kommt in der Öffentlichkeit überhaupt nicht rüber. Da stehen immer nur die 31%.

Das ist unser Problem. Die Bahn macht eine sehr gute PR-Arbeit, und wir können immer nur widerrufen, was sie verkündet: Das stimmt nicht! Da bleibt kaum Zeit, die eigenen Positionen rüber zu bringen. Wir fordern mehr als die 4,5%, die die Bahn anbietet, das ist klar. Aber in der Hauptsache geht es uns um die Anrechnung von Arbeitszeiten. Ein Beispiel:
Ein Lokführer fährt vom Kölner Hauptbahnhof nach München und hat in München neun Stunden Übernachtung — die werden ihm aber als persönliche Freizeit gerechnet, obwohl er sie nicht bei seiner Familie verbringen kann. Um auf eine 41-Stunden-Woche zu kommen — die Lokführer und Zugbegleiter übrigens als einzige bei der Bahn haben, alle anderen haben eine 40-Stunden-Woche —, müssen sie im Schnitt bis zu 60 Stunden pro Woche auf der Arbeit sein. Das gibt es in keinem anderen Beruf bei der Bahn. Wenn ein Fahrdienstleiter auf seinem Stellwerk sitzt und es kommt kein Zug, er braucht kein Signal zu bedienen, kommt keiner auf die Idee, ihm den "Leerlauf" von der Arbeitszeit abzuziehen, weil das angeblich "unproduktive Zeit" ist. Beim Zugbegleiter und Lokführer wird‘s gemacht.

Wie kommt es, dass dieses Problem in der Öffentlichkeit so wenig aufgegriffen wird?

Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, es ist einer der Gründe, weshalb die Stimmung gegen die GDL kippt. Wir sind jetzt fast vier Monate im Tarifkampf, das wird den Leuten allmählich zuviel.

Beziehst du das nur auf die Konsumenten oder auch auf die Bahnkollegen?

Nur auf die Konsumenten. Bei den Bahnkollegen können wir einwandfrei feststellen: Die Strategie, die der Bahnvorstand gefahren hat, ganz schnell einen Tarifvertrag mit den anderen Gewerkschaften abzuschließen, um uns zu zwingen, dem zuzustimmen, ist daneben gegangen. Ihre PR-Aktionen bisher auch. Denn die Eisenbahnerfamilie, die da immer wieder beschworen wird, gibt es nicht mehr. Die ist 1996 gespalten worden, und zwar durch den Vorstand der Bahn. Es ist mir selber in meiner Laufbahn passiert, dass ich mit dem Zug in Koblenz ankam und dringend auf die Toilette musste. Im Zug waren aber nur defekte Toiletten. Ich bin zur Aufsicht am Gleis gegangen und habe gefragt, ob ich das WC benutzen kann, und der Kollege schaut mich an: Nein, du arbeitest für die DB Regio NRW, wir sind aber Service & Station. Man soll also nicht so tun, als würden wir hier die Belegschaft spalten, das hat die Bahn durch die Teilprivatisierung 1993—1996 alleine geschafft.
Die Lokführer sind so ziemlich die einzigen, die über die verschiedenen Geschäftsbereiche hinweg zusammen- und die viel beschworene Eisenbahnerfamilie noch hochhalten.

Bei der Moderation Ende August habt ihr euch darauf eingelassen, dass es einen eigenständigen Tarifvertrag geben kann, aber nur für die Lokführer. Das Zugbegleitpersonal steht jetzt außen vor. Wie ist das bei denen angekommen? Das widerspricht euren früheren Äußerungen, dass ihr die alle mitnehmen wolltet.

Ja, das widerspricht dem. Andererseits ist diese Vereinbarung ein Kompromiss. 3500 von 10000 ist beim Zugbegleitpersonal eben nicht die Mehrheit. Wenn wir einen eigenen Tarifvertrag bekommen, werden wir aber versuchen, ihn auch auf das Zugbegleitpersonal auszudehnen. Das erfordert, dass wir dort mehr Mitglieder bekommen. Wir brauchen mindestens 50%. Wenn ich das sage, ohrfeige ich die, die schon bei uns sind. Das ist das Problem. Wir haben danach sehr viele Einzelgespräche geführt. Hier in NRW haben wir deswegen nur zwei Austritte gehabt. Wir haben es also doch gut erklären können.
Jetzt ist die Vereinbarung vom Bahnvorstand gekippt worden, deshalb fordern wir jetzt wieder einen Tarifvertrag für alle.

Wir waren am Donnerstag am Kölner Hauptbahnhof und haben euch gesucht. Wir dachten, die GDL macht da Stände und erklärt den Reisenden, warum sie streikt. Aber ihr wart nicht da...

Das habe ich angeordnet, und zwar deswegen: Wir hatten der Bahn Notdienstvereinbarungen angeboten. Das muss sein, wenn es um gefährliche Frachten geht oder darum, Hochöfen u.a. in Gang zu halten, oder um Unfälle. Das sind für uns Notdienste, nicht was die Bahn wollte — nämlich mindestens 30% ihrer planmäßigen Züge als "Notdienst" zu fahren. Die Bahn aber hat versucht, die Streiks dadurch zu unterwandern, dass sie einzelnen Kollegen Notdienstzettel unter die Nase gehalten hat: Du musst jetzt fahren, das ist ein Notdienst — und zwar unter massiver Androhung von Abmahnungen, Ermahnungen und Kündigungen. Bei einigen hat das gewirkt.
Deshalb habe ich gesagt: Wenn unsere Mitarbeiter nicht in der Nähe des Arbeitgebers sind, kann der auch keinen Druck auf sie ausüben. Nach Möglichkeit sollten sie sich an den großen Bahnhöfen, wo die Teamleiter der Bahn in der Nähe sitzen, deshalb nicht aufhalten — und Köln ist ein gefährlicher Bahnhof, da gibt es eine große Dienststelle in der Stolkgasse, wo die Teamleiter sitzen. Wir haben unsere Leute deshalb in Deutz postiert. Das war nicht so günstig, um unser Anliegen rüber zu bringen, aber es war Selbstschutz, zumal viele junge Kollegen darunter sind, 20- bis 30-jährige.

Trotzdem bleibt das Problem, dass ihr in der Öffentlichkeit nicht sehr sichtbar seid. Wie wollt ihr dem begegnen?

An anderen Bahnhöfen war das anders. In Düsseldorf sind wir immer wieder vor den Hauptbahnhof gezogen — rein konnten wir nicht, dort haben wir Hausverbot gehabt, in Dortmund genauso; Köln und Essen waren da eher Ausnahmen.

Habt ihr ein Konzept, wie ihr die Bahnreisenden als Konsumenten breitflächig erreichen könnt?

Wir denken über einen Aktionstag außerhalb eines Streiktags nach. Da können wir uns leichter in die Öffentlichkeit stellen und Flugblätter verteilen. Darüber entscheidet aber unsere Zentrale in Frankfurt am Main.

Was sagt ihr zu dem Beschluss über die Bahnprivatisierung auf dem SPD-Parteitag am letzten Wochenende?

Wenn ich das richtig verfolgt habe, ist das wieder einmal ein netter Wischiwaschibeschluss, der nach allen Seiten offen ist. In einer Hinsicht finde ich es gut, dass die SPD umgeschwenkt ist und die Bahn nicht dem Einfluss von Heuschrecken preisgeben will. Andererseits hat man sich ganz gehörig die Hintertür offen gelassen: Wenn das Modell mit den Volksaktien nicht funktioniert, will man die Gremien nochmal zusammenrufen. Man weiß, wie die besetzt sind und also wie das Ergebnis ausgehen wird. Mir wäre es lieber gewesen, man hätte dort beschlossen: Dann gibt‘s auch keinen Börsengang der Bahn.

Ist das auch GDL-Position?

Das ist erst einmal meine Position, weil ich auch SPD-Mitglied bin. Ich denke aber, dass so auch die Position der GDL aussieht.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Arbeitskampf, den ihr führt, und dem Vorhaben der Bahnprivatisierung insgesamt. Brächte es euch nicht einen Zugewinn an öffentlicher Zustimmung, zwischen diesen beiden Seiten des Konflikts eine Verbindung herzustellen? Nach der Möglichkeit gemeinsamer Initiativen zu schauen?

Hier geht es um Arbeitskampf, nicht um politische Arbeit, das sollten wir nicht vermischen. Eins ist klar: Die Bahn tritt deshalb so hart gegenüber der GDL auf, weil die GDL die einzige Gewerkschaft ist, die von Anfang an, schon 1994, gesagt hat: Die Bahn muss reformiert, aber nicht privatisiert werden. Als dann der Börsengang anstand, hat die GDL gesagt: Wenn Börsengang, dann ohne Schienennetz. Wir sind kein Freund vom integrierten Konzern. Es tummeln sich mittlerweile über 300 Gesellschaften auf deutschen Schienen, die Eisenbahnverkehr machen, da ist es die Aufgabe einer Gewerkschaft, überall dort unterzukommen und die eigene Position unterzubringen. Wir sind nicht die Beschützer des Bahnkonzerns in seiner Gesamtheit, wir sind nicht die Kraft, die den Konzern Deutsche Bahn vor der Zerschlagung rettet, wir glauben allerdings auch nicht, dass es dazu kommt, selbst wenn das Schienennetz ausgegliedert würde.

Seht ihr nicht, dass Entwicklungen wie bei der Post oder der Telekom auch auf euch zu kommen?

Die Privatisierung ist doch schon voll im Gang. NRW ist davon noch relativ verschont geblieben. Jetzt fängt es aber auch hier an, dass wir im Nahverkehr verschiedene Eisenbahnen bekommen: In Ostwestfalen- Lippe fährt mittlerweile eine Nordwestbahn und eine Eurobahn; im Herbst nimmt die Abellio-Bahn ihren Betrieb auf; dann haben wir die Prignitzer Eisenbahn; im Railion-Bereich (Güterverkehr) die beiden größten Anbieter hinter der Bahn AG, darunter die SBB Cargo Deutschland — das sind alles Unternehmen, wo Leute von uns beschäftigt sind.
Unser Ziel ist, gerade auch im Nahverkehr, dass der Wettbewerb nicht, wie bisher, über die Löhne stattfindet. Der schwarze Peter liegt auch da bei der Transnet: Überall dort, wo die Transnet Tarifverträge abgeschlossen hat, liegen sie weit unter Bahnniveau. Nehmen wir z.B. die Prignitzer Eisenbahn. Dort arbeitet ein Lokführer laut Tarif für 1700 Euro brutto. Dort wo die GDL alleiniger Tarifpartner ist, wie bei SBB Cargo, liegt der Tarif bei 123—126% DB-Niveau; ein Lokführer bekommt dort ein Einstiegsgehalt von 2399 Euro; innerhalb von acht Jahren steigern die sich auf 3019 Euro. Dennoch arbeitet die Firma wirtschaftlich und jagt der Railion einen Auftrag nach dem anderen ab. Die Bahn ist selber dran schuld, dass sie Aufträge verliert.
Im Nahverkehr sieht es etwas anders aus. Da ist die Frage, ob die Bahn sich einen Gefallen tut, wenn sie auf einem einheitlichen Tarifwerk für alle besteht, das ihr selber Wettbewerbsnachteile bringt.

Ihr streikt nach einem kastrierten Streikrecht. Es für mich unvorstellbar, wie ein Arbeitsgericht einen Antrag wie den der Bahn, euren Streik zu untersagen, annehmen kann. Da sind die Gerichte ja schon parteilich. Wieviel Solidarität erfahrt ihr in dieser Frage von den anderen DGB- Gewerkschaften?

Die Gerichtsurteile von Nürnberg und Chemnitz sind in höchstem Maße gefährlich und jeder Gewerkschafter müsste dabei aufschreien. Unterstützung erfahren wir jedoch lediglich von einzelnen — z.B. hat uns ein Betriebsratsvorsitzender von Daimler-Benz geschrieben. Ich kenne nicht eine Gewerkschaft in Deutschland, die sich zu diesem Thema geäußert hätte. Wenn die Gerichte damit durchkommen, bekommen wir in Deutschland eine andere Qualität von Arbeitskämpfen. Der Begriff der "Verhältnismäßigkeit", der da ins Feld geführt wird, ist ja juristisch überhaupt nicht gefasst.
Unverständlich ist auch, dass das Arbeitsgericht Chemnitz ausgerechnet die Schwächsten in der Kette, nämlich die Berufspendler, zum Spielball des Konflikts gemacht hat. Die Bahn trifft der Streik im Regionalverkehr relativ wenig, weil der Verkehr von den Ländern bezahlt ist — zum Glück fordern die jetzt von der Bahn das Geld für die ausgefallenen Züge zurück.

Ihr hofft auf das Urteil des Landesarbeitsgerichts am 2.November?

Das kann nur zurückgenommen werden. Das Urteil von Chemnitz hat bestätigt, dass wir das Recht haben, für einen eigenen Tarifvertrag zu streiken. Dann schließt es Fernverkehr und Güterverkehr aus und argumentiert mit dem wirtschaftlichen Schaden. Da sind viele namhafte Juristen aufgestanden und haben gesagt: So geht es nicht, das ist nicht rechtens. Deshalb sind wir zuversichtlich, dass das LAG Sachsen uns die Streikfähigkeit an diesem Punkt wiedergibt.
Dann sieht es anders aus: Wenn wir bei Railion drei Tage streiken, dann müssen die großen Konzerne anfangen, die Produktion zu drosseln. Die jaulen jetzt natürlich. Aber sie seien daran erinnert: In den 80er Jahren haben sie sich mit der Sicherheit einer Bundesbahn gesund gestoßen, indem sie ihre Lagerhaltung abgebaut und Just-in-time- Produktion eingeführt haben — das hieß damals schon: Entlassungen. In den 90er Jahren haben sie nach Privatisierung und Abschaffung der Beamten geschrien, weil ihnen die Behördenbahn zu teuer war. Damit haben sie aber auch in Kauf genommen, dass bei der Bahn gestreikt werden darf. Heute ist es wieder andersherum, da ist die Bahn ein so wichtiges Gut, dass dort nicht gestreikt werden darf. Das kann nicht sein: Entweder war die Entscheidung für die Privatisierung falsch oder sie dürfen jetzt nicht den Streik verbieten.

Selbst die EU-Kommission hat das deutsche Streikrecht gerügt, aber keine Gewerkschaft hat das je benutzt, um ein anderes Streikrecht offensiv einzufordern.

Das Problem ist: Wir haben gar kein Streikrecht. Was wir haben, ist Richterrecht, zurückzuführen auf Art.9 Abs.3 GG, "Koalitionsfreiheit". Wir haben außerdem Aussagen von Bundesarbeitsgerichten, die ausnahmslos aus den 60er Jahren stammen, wo Grundsätze wie die Verhältnismäßigkeit u.a. angeführt wurden. Eins wurde jedoch nie gemacht, weil die Arbeitskämpfe nie bis zu diesem Punkt geführt wurden: Es ist nie wieder das Bundesarbeitsgericht dazu befragt worden. Es ist nach der Prozessordnung auch ein Problem, überhaupt bis zum BAG zu kommen. Wir können gerne einen Prozess anstrengen, dann sind wir als GDL aber fünf Jahre in der Friedenspflicht und können in der Zeit für unsere Mitglieder nichts tun. Deshalb ist an dieser Stelle der Gesetzgeber gefordert.
Die Signale einiger Kammern des BAG sind klar: Wenn sie zu entscheiden hätten, würden sie im Sinne der GDL entscheiden. Die Arbeitswelt hat sich ja wahrlich seit den 60er Jahren gewandelt. Der Grundsatz "Ein Betrieb, ein Tarif" passt heute nicht mehr. Andere Berufsgruppen haben das viel früher praktiziert als wir. Ich will gar nicht die Piloten und die Ärzte anführen — nehmen wir nur die Buchbinder. Wir fordern nichts, was es nicht schon längst gegeben hat.
Uns will man es nicht geben, weil eine GDL auf Aktionäre abschreckend wirkt, und weil es für die anderen involvierten Gewerkschaften ein Überlebenskampf ist.

Wie kann man euch unterstützen?

Am besten durch Aufklärungsarbeit: über unsere Arbeitsbedingungen, das Angebot der Bahn usw.

Erfahrt ihr internationale Solidarität?

Sehr viel. Wir sind Mitglied im Verband Autonomer Lokomotivführergewerkschaften Europas (ALE), da sind viele Solidaritätsadressen eingetroffen.


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