SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2007, Seite 06

Das Streikrecht ist ein Freiheitsrecht

Fragen an Ulrich Zachert

Ulrich Zachert ist Professor für Arbeitsrecht an der Universität Hamburg. Mit ihm sprach Jochen Gester für die SoZ.

Das Arbeitsgericht Nürnberg hat im August der GDL den Streik untersagt, weil der drohende volkswirtschaftliche Schaden nicht verhältnismäßig sei. Das Arbeitsgericht Chemnitz hat danach das völlige Streikverbot zwar relativiert, es aber für den Güter- und Fernverkehr aufrechterhalten — ebenfalls unter Verweis auf den unverhältnismäßig großen möglichen wirtschaftlichen Schaden. Wird auf dem Wege der Rechtsprechung hier ein Grundrecht ausgehebelt bzw. weiter beschnitten?

Das Streikrecht ist durch den Art.9 Abs.3 Grundgesetz als Freiheitsrecht konzipiert. So sieht es das Bundesverfassungsgericht. Eine Prüfung von Streikzielen nach dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit, wie sie den genannten Entscheidungen von Nürnberg und Chemnitz zugrunde liegt, führt zu einer richterlichen Detailkontrolle, die dem hohen Wert dieses Grundrechts, das auch Element sozialer Demokratie ist, nicht gerecht wird.

Bereits 1998 hat der Europarat die damalige Bundesregierung aufgefordert, auf dem Gesetzesweg das restriktive deutsche Koalitionsrecht so zu ändern, dass es nicht mehr gegen die Sozialcharta der EU verstößt. Weder die Regierung Kohl noch die nachfolgenden Regierungen haben das ernstgenommen. Wie kann eine Regierung das aussitzen?

In der Kritik des Ministerkomitees des Europarats ging es um das Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks und von Streiks, die nicht auf einen Abschluss von Tarifverträgen zielen. Das Ministerkomitee hält dies aus meiner Sicht zu Recht nicht mit Art.6 Abs.4 Europäische Sozialcharta (ESC) für vereinbar.* Die Schwierigkeit besteht darin, dass es sich bei diesen "Streikbegrenzungen" um Richterrecht handelt. Wenn hier der Gesetzgeber eingreift, könnte das ein Streik- oder sogar ein Gewerkschaftsgesetz provozieren, das je nach gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnissen weitere Einschränkungen provoziert.
Hoffnung macht, dass die neue Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes (u.a. zu Solidaritätsstreiks) Art.6 Abs.4 ESC ausdrücklich nennt und in seine Bewertungen einfließen lässt. Die ESC ist zwar nach herrschender Meinung als völkerrechtlicher Vertrag innerstaatlich nicht direkt anwendbar, muss aber von der Rechtsprechung im Rahmen einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung von Art.9 Abs.3 GG berücksichtigt werden.

Die Fraktion Die Linke hat vor einem Jahr im Bundestag eine Debatte initiiert, bei der sie einen Antrag auf gesetzliche Verankerung des politischen Streikrechts gestellt hat. Geerntet hat die Fraktion in der anschließenden Aussprache vor allem Hohn und Spott. Welche Wege bieten sich an, das Arbeitskampfrecht dennoch im Sinne der Belegschaften zu verändern? Bleibt nur die historisch bewährte Methode, sich Rechte massenhaft zu nehmen, bis sie auch juristische Gültigkeit bekommen?

Es ist ebenso banal wie richtig: Recht ist immer auch Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese sind aktuell offensichtlich nicht so, dass in Deutschland Mehrheiten für politische Streiks bestehen oder organisiert werden können. Gleichwohl tragen konkrete Aktionen dazu bei, dass sich das Recht, auch das Arbeitskampfrecht, in Richtung größerer Freiräume bewegt. So hat das Bundesarbeitsgericht vor kurzem bestätigt, dass ein Streik um sog. Sozialtarifverträge, die Bedingungen für Betriebsstilllegungen festlegen, zulässig ist. Hintergrund waren Aktionen von Betroffenen in Metallbetrieben. Gute Argumente in der juristischen Kontroverse sind die eine Seite der Medaille, die andere das praktische "Sich Einbringen". In der Tat, Demokratie braucht Beteiligung und auch das "Träumen nach vorwärts".

*Artikel 6 Absatz 4 der Europäischen Sozialcharta lautet: "Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: ... 4.das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen anzuerkennen."


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