SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2007, Seite 07

Kinderarbeit

Verlorene Kindheit

von Larissa Peiffer-Rüssmann

Schätzungsweise 370 Millionen arbeitender Kinder gibt es in der Dritten Welt, Tendenz steigend. Laut ILO sind diese Kinder zwischen 5 und 14 Jahren alt. 120 Millionen dieser Jungen und Mädchen arbeiten Vollzeit, 250 Millionen Teilzeit. Der größte Teil (61%) der Kinder schuftet in Asien, auf Afrika entfallen 32%, auf Lateinamerika 7%. Diese Zahlen beziehen sich nicht auf die Mithilfe in Familienbetrieben.
Krasse materielle Armut ist die Hauptursache dafür, dass Kinder in Drittweltländern gezwungen werden, ihre Familien durch harte Arbeit zu unterstützen oder ganz auf sich gestellt fürs eigene Überleben zu arbeiten.
In der ILO-Konvention 182 vom 17.Juni 1999 wird als ausbeuterisch definiert: Arbeit von Kindern unter 13 Jahren; Arbeit von Kindern zwischen 12 und 14 Jahren, die länger als 14 Stunden in der Woche dauert; gefährliche Arbeit von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren (Arbeit unter Tage, in engen Räumen wie Abwässerkanäle, mit gefährlichen Maschinen/Werkzeugen, Umgang mit schweren Lasten, Arbeit in ungesunder Umgebung und mit gefährlichen Substanzen, lange Arbeitszeiten oder Nachtarbeit).
Als die schlimmsten Formen der Kinderarbeit bezeichnet sie: alle Formen der Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken wie Kinderverkauf und Kinderhandel, Schuldknechtschaft, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit sowie die Zwangsrekrutierung von Kindern in bewaffneten Konflikten; die Vermittlung oder das Anbieten eines Kindes zur Prostitution oder zur Pornografie; die Heranziehung eines Kindes zu unerlaubten Tätigkeiten wie den Umgang mit Drogen; Arbeit, die die Gesundheit, die Sicherheit oder die Sittlichkeit von Kindern schädigt.
Obwohl die Ausbeutung von Kindern in fast allen Staaten verboten ist und 158 Staaten diese Konvention unterzeichnet haben, hat sich bis heute nichts geändert, im Gegenteil.

Neoliberalismus erzeugt Kinderarbeit

Ein Bericht von Terre des Hommes zur wachsenden Verarmung der unteren 30—70% der lateinamerikanischen Bevölkerung macht dies deutlich: "Konnte bis Anfang der 80er Jahre ein Arbeiter oder Lehrer seine durchschnittlich fünfköpfige Familie noch mit dem Nötigsten versorgen, so stellt sich dies mittlerweile als nicht mehr ausreichend dar. Neben der Frau müssen seit Mitte der 80er Jahre auch zunehmend Kinder mitverdienen. Der ‘typische Vater‘ erwirtschaftet heute nur noch knapp zwei Drittel des zum Überleben notwendigen Einkommens, den sog. Überlebenswarenkorb. Um den Rest müssen sich Frau und Kinder kümmern. Spricht man seit etwa Mitte der 80er Jahre von der ‘Feminisierung der Armut‘ so könnte man mittlerweile von der ‘Infantisierung der Armut‘ sprechen, denn mit jedem Tag wächst die Zahl arbeitender Kinder."
Ende der 70er Jahre gab es laut UNO weltweit 52 Millionen arbeitende Kinder. Innerhalb eines Jahrzehnts stieg ihre Zahl im Zuge der wirtschaftsliberalen Strukturanpassungen schlagartig auf 200 Millionen, heute nähern wir uns der 400- Millionen-Grenze. Ein konkretes Beispiel für diese Entwicklung ist die Situation der Kinder in den Bergwerken Boliviens, wo heute viel mehr von ihnen arbeiten als noch vor zehn Jahren. Im Gefolge der neoliberalen Wirtschaftsreformen wurden die staatlich geführten Bergwerke verkauft und im Rahmen der Privatisierung wurden 32000 Arbeiter entlassen. Heute arbeitet die ganze Familie, einschließlich der Kinder, unter gefährlichen und gesundheitsschädigenden Bedingungen in den Steinbrüchen und Minen. Eine bolivianische Nichtregierungsorganisation (NGO) hat herausgefunden, dass über 98% der Kinder zwischen acht und zwölf Jahren illegal beschäftigt sind, 72% acht bis zehn Stunden täglich arbeiten und weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt werden.

Kinderarbeit ächten oder achten

Angesichts dieser Entwicklungen ist es zu begrüßen, wenn die Kinderarbeiter als die direkt Betroffenen beginnen, sich nicht nur Gedanken über ihre prekäre Situation zu machen, sondern sich mit ihren Wünschen und Forderungen an die Öffentlichkeit wenden. In den letzten Jahren hat es verschiedene Treffen von arbeitenden Kindern auf nationaler und internationaler Ebene gegeben, angefangen mit dem "Ersten Internationalen Treffen von Kinderarbeitern aus Afrika, Asien und Lateinamerika" 1996 in Indien. Weitere Treffen von arbeitenden Kindern und Jugendlichen gab es in Bolivien und Peru sowie das Kinderforum gegen ausbeuterische Formen der Kinderarbeit in Asien.
In allen Erklärungen der Kinder wird deutlich, dass sie auf den großen Konferenzen zum Thema Kinderarbeit gehört und mit ihren Problemen ernst genommen werden wollen. Sie fordern eine Schul- und Berufsausbildung, gute Gesundheitsversorgung und die Bekämpfung der Armut als der eigentlichen Ursache für Kinderarbeit. Da sie täglich mit den Sorgen und Problemen in ihren Familien konfrontiert sind, wollen sie arbeiten, um das Überleben zu sichern. Doch gleichzeitig klagen sie die Regierungen und die Gesellschaft an, dass sie nichts gegen Armut und Ausgrenzung unternehmen und es zulassen, dass ihre Situation schamlos ausgenutzt wird.
Sie fühlen sich missbraucht und durch zu niedrige Löhne, zu lange Arbeitszeiten und gesundheitsgefährdende Arbeiten ausgebeutet. Sie lehnen die profitorientierte Kinderarbeit ebenso ab wie schwere, gefährliche oder die Psyche schädigende Beschäftigungen. Sie verlangen die sofortige Abschaffung der Kinderprostitution und ein Verbot für das Anwerben von Kindersoldaten. Bei aller Bereitwilligkeit zur Arbeit erkennen sie sehr wohl, dass sie weder Zeit zum Lernen noch Zeit zum Spielen haben.
Obwohl Terre des Hommes und andere NGOs die ausbeuterischen Formen der Kinderarbeit auflisten, anprangern und die Folgen schildern, wird von ihnen angesichts der Realität in der Dritten Welt die Forderung der Kinder nach Arbeit bereitwillig aufgegriffen — im Gegensatz zu den UN-Beschlüssen, der ILO-Konvention und den Kampagnen der Welthungerhilfe. Ihr Plädoyer, "Kinderarbeit nicht generell zu bekämpfen", sie "menschlicher" zu gestalten, liest sich sehr widersprüchlich und wirkt hilflos angesichts der realen Verhältnisse, von denen sie glauben, dass sie sich in absehbarer Zeit nicht ändern werden.

Kinderarbeit und Konzerngewinne

Wird die Gier der Konzerne nach Profit gezügelt, wenn die Betroffenen Zugeständnisse machen? Die Praxis der Konzerne in Afrika, Indien und Lateinamerika lassen da berechtigte Zweifel aufkommen. Trotz anderslautender Erklärungen machen sie weiter Milliardenumsätze auf Kosten der Kinder.
Mehr als die Hälfte des Kakaos, den bspw. Ferrero, Sarotti und Ritter Sport verarbeiten, stammt von der Elfenbeinküste. Dort schuften 600000 Kinder auf den Kakaoplantagen unter ausbeuterischen Bedingungen bis zu 12 Stunden täglich für gerade mal 30 Cent am Tag. Viele von ihnen wurden ihren Eltern unter dem Vorwand, sie bekämen eine handwerkliche Ausbildung, abgeschwatzt. Sie hausen in armseligen Hütten, weit weg von zu Hause und ohne den Schutz ihrer Familie.
Auch große Saatgutunternehmen wie Bayer Leverkusen, Monsanto, Unilever und Syngenta profitieren über ihre Zulieferbetriebe, die für sie Baumwollsaatgut produzieren, von Kinderarbeit. Eine neue Studie aus Indien enthüllt, dass dort bis zu 400000 Kinder in einer 12-Stunden-Schicht für rund 50 Cent Tageslohn arbeiten und schutzlos Pestiziden ausgesetzt sind. Den Multis sind diese Produktionsbedingungen und der massenhafte Einsatz von Kindern bekannt, aber an einer Änderung sind sie nicht interessiert.
In Europa glaubte man zu Beginn des 20.Jahrhunderts, das Problem der Kinderarbeit überwunden zu haben. Zu Beginn des 21.Jahrhunderts erleben wir eine Neuauflage von Kinderarbeit. In den westlichen Ländern Europas ist es vor allem Portugal, wo Kinder in großem Ausmaß in der Landwirtschaft beschäftigt sind oder in Schuhfabriken Schuhe nähen, während viele Facharbeiter arbeitslos sind.
Seit dem Ende des Ostblocks gibt es auch in Osteuropa aufgrund der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten immer mehr Kinderarbeiter, die als billige Arbeitskräfte eingesetzt werden.
Alleine die Beseitigung der Armut als Ursache für Kinderarbeit wird die Ausbeutung von Kindern auf Kosten von Schulbildung und Berufsausbildung beenden. Eine Untersuchung in der Dritten Welt hat ergeben, dass die meisten Eltern ihre Kinder niemals zur Arbeit schicken würden, wenn sie nicht äußerste Not dazu zwänge. Dieses große Angebot an billigen Arbeitskräften zu niedrigen Löhnen führt wiederum dazu, dass die Kinderarbeit auch eine Ursache für die Armut ihrer Familien ist — ein Teufelskreis.


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang