SoZ - Sozialistische Zeitung |
Die innenpolitische Lage Mexikos wird zunehmend unsicher. Die Regierung
bereitet sich darauf vor, soziale Konflikte mit miitärischer Gewalt zu unterdrücken.
Mehr als ein Dutzend Journalisten, Hunderte
politische Gefangene aus Oaxaca, von denen einige bis heute nicht wieder aufgetaucht sind, und eine selbst
für mexikanische Verhältnisse noch nie da gewesene Rechtsunsicherheit charakterisieren das erste
Amtsjahr von Felipe Calderón von der rechtskonservativen Nationalen Aktionspartei (PAN).Calderón
ist nach einem, zusammen mit der Institutionalisierten Revolutionspartei (PRI), eingefädelten
Wahlbetrug seit dem 20.November 2006 mexikanischer Staatspräsident.
Auch in Chiapas sind Übergriffe auf
die von indianischen Gemeinden besiedelten Gebiete in der Nähe der Biosphäre von Montes Azules
unweit der guatemaltekischen Grenze an der Tagesordnung. Während die Bauern gegen den geplanten
Staudammbau von La Parrota im Bundesstaat Guerrero noch Widerstand leisten, plant die Regierung die
Errichtung eines Flughafens just an jener Stelle, wo die Bewohner von Atenco vor vier Jahren noch heftigen
Widerstand geleistet haben. Gleichsam zur Warnung vor zukünftigen Protesten wurden die Anführer
der Bewegung von Atenco im Frühjahr dieses Jahres zu nicht weniger als 67 Jahren Haft verurteilt; in
vielen Bundesstaaten wurde gegen friedliche Demonstranten das sog. Antiterrorismusgesetz angewandt.
All das kommt nicht von ungefähr. Kurz nach der Machtübernahme hat die neue Regierung
Calderón die Gehälter der Militärs substanziell erhöht und im Juli die Aufgaben der
Staatssicherheit vom Innenministerium dem militärischen Sicherheitsdienst übertragen. Zum ersten
Mal seit siebzig Jahren, als Lázaro Cárdenas das ausgeklügelte System der Einheitspartei PRI
auf der Basis von Massenorganisationen errichtete und damit die mexikanische Revolution konsolidierte,
haben die Militärs in Mexiko wieder das Sagen.
Im Unterschied zur PRI, die das Land bis
zum Jahr 2000 beherrschte, versucht die PAN gar nicht erst, ihre Machenschaften zu verbergen. Das zeigte
sich kürzlich, als Calderóns Vorgänger, der ebenfalls aus der PAN stammende Vicente Fox, in
aller Öffentlichkeit seinen Palast vorstellte, den er zusammen mit seiner
"präsidiablen" Frau Marta Sahagún hatte bauen lassen. Und obwohl es gegen die
Pensionsreform im ganzen Land erbitterten Widerstand gab und gibt, zog der Präsident und seine
unheilige PAN-PRI-Allianz das Gesetz, das die Lohnabhängigen dazu verpflichtet, für weniger
Rente länger zu arbeiten, einfach durch.
An der neoliberalen Reform des
Sozialversicherungssystems konnten auch die Vertreter der öffentlichen Bediensteten des Instituto
Sindical de Seguridad Social (ISSSTE) nichts ändern, die seit Monaten vor dem Monumento de la
Revolución in der Hauptstadt kampieren, unter denen sich auch die kämpferischen
Lehrergewerkschaften aus Oaxaca befinden. Ebenso wenig gelang es dem um seinen Wahlsieg betrogenen
Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador von der linken Partei der
demokratischen Revolution (PRD) und seiner millionenstarken Anhängerschaft, auch nur ein Komma aus dem
Vorschlag der Regierung für eine umfassende Steuerreform zu streichen, die u.a. eine kontinuierliche
Erhöhung der Benzinpreise vorsieht.
Es scheint, als rechne die Regierung
Calderón schon jetzt mit einer rapiden Verschlechterung des sozialen Klimas und als sei sie bereit,
die allgemein erwarteten massiven Proteste mit Gewalt zu unterdrücken. Mehr noch: Nicht wenige
Anführer der vielen sozialen Bewegungen und zahlreiche Linksintellektuelle stellen sich darauf ein, in
den Untergrund zu gehen; und das nicht etwa weil sie beabsichtigen, sich einer der Guerillabewegungen
anzuschließen, die in letzter Zeit mit Attentaten auf Pipelines der staatlichen Erdölgesellschaft
Pemex auf sich aufmerksam machten, sondern weil sie eine Welle willkürlicher Verhaftungen
befürchten.
Angesichts dieser Situation sprechen in- und ausländische Beobachter von einer zunehmenden
"Kolumbianisierung" Mexikos und meinen damit eine Zeit, die in Kolumbien selbst schon teilweise
der Vergangenheit angehört, nämlich die, als sich der Staat mit einem der großen
Drogenkartelle verbündete, um die anderen damit rivalisierenden Kartelle mit Hilfe korrupter
Militärs auszuschalten.
Tatsächlich gibt es in mehreren
Großstädten im Norden jeden Abend eine Ausgangssperre, und selbst in der Touristenstadt Acapulco
sind Schießereien am helllichten Tag keine Ausnahme. Das alles hat zur Folge, dass der unbefangene
Besucher in verschiedenen Bundesstaaten, insbesondere in den von der PAN oder der PRI regierten, auf
Schritt und Tritt Straßensperren begegnet, und Geheimpolizisten selbst bei Lehrveranstaltungen an den
Universitäten ihre nicht immer ganz unauffälligen Gesichter zeigen.
Die Sicherheitsbehörden zeigen sich
von den Klagen und Anklagen der zahlreichen nationalen Menschenrechtsorganisationen ebenso wenig
beeindruckt wie von Amnesty International, deren Präsidentin Irene Khan bei ihrem letzten Besuch die
Regierung äußerst scharf kritisierte. Sie vertrauen auf das Gewohnheitsrecht der Straflosigkeit,
das traditionellerweise jedem zukommt, der eine Uniform trägt.
Ein Beispiel unter vielen: Vor ein paar
Monaten wurden einige Militärs in Saltillo vor Gericht gestellt, die offensichtlich 14 Prostituierte
vergewaltigt und ermordet hatten. Als der Bischof von Saltillo, Raul Vera, den Familienangehörigen der
ermordeten Frauen zur Seite stand, entging er nur knapp einem Attentat.
Im Zentrum der Macht gibt es Anzeichen
dafür, dass die Korruption unter der Herrschaft der Regierungskoalition PAN-PRI in einem noch nie da
gewesenen Ausmaß um sich gegriffen hat. Ein Beispiel dafür ist die Affäre um den
chinesischen Chemikalienhändler Zhen Li Ygon, in dessen Wohnung während des
Präsidentenwahlkampfs 2006 an die 205 Millionen Dollar in bar deponiert wurden. Den Aussagen von Zhen
zufolge geschah dies im Auftrag des damaligen Wahlkampfmanagers der PAN und heutigen Parteichefs, was
dieser natürlich in Abrede stellte. Das Geld wurde sofort nach der Beschlagnahmung auf eine US-
amerikanische Bank überwiesen, um etwaige Spuren zu verwischen. Zudem wurden Beamte der Finanzpolizei,
die die in Koffern deponierten Geldscheine abgeholt und registriert hatten, in der Zwischenzeit ermordet.
Gegen Zhen, der sich nach seiner Flucht in die USA in Haft befindet, läuft derzeit ein
Auslieferungsbegehren der mexikanischen Regierung.
Der Fall um den "Chino" gab
natürlich in der mexikanischen Öffentlichkeit Anlass zu verschiedensten Gerüchten. War das
Geld für den Wahlkampf bestimmt, wie die einen sagen? Oder waren es Mittel der CIA, die dazu
hätten dienen sollen, vor dem Hintergrund eines damals als wahrscheinlich geltenden Wahlsiegs von
López Obrador Under-cover-Operationen nach dem Vorbild von Iran- und Contragate durchzuführen?
Die Antwort steht unter dem Sternenbanner.
Angesichts der angespannten Lage polarisieren sich die Kräfte auch auf der Seite der Opposition und
des Widerstands. In Mexiko gibt es derzeit eine ganze Bandbreite von sozialen Bewegungen, zu denen die
Gewerkschafter der ISSSTE, die Bauern von La Parrota und die Aufständischen von Atenco ebenso
zählen wie die Anhänger der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN und der Widerstand der
Volksbewegung in Oaxaca, der trotz der heftigen Repressionswelle im November vergangenen Jahres weitergeht.
Im Juni dieses Jahres gingen in Oaxaca
erneut über 10000 Menschen auf die Straße, und derzeit bereiten sich die verschiedensten
Bauernorganisationen auf eine große Mobilisierung an der vermauerten Grenze zu den USA vor, wo am
1.Januar 2008 die letzte Etappe des NAFTA-Vertrags in Kraft treten soll, der den ungehinderten und
zollfreien Import von landwirtschaftlichen Produkten aus den USA ermöglichen soll.
Was das für ein Land bedeutet, in dem
über 50% der Bevölkerung nach wie vor auf dem Land leben, ist kaum vorstellbar; zumal
gleichzeitig ein Großteil der Maisproduktion in diesem Jahr für den Export in die USA bestimmt
ist, wo er zu Ethanol verarbeitet werden soll, um das erwartete Erdöldefizit der USA abzudecken. So
soll etwa der gesamte Maisvorrat in Sinaloa noch dieses Jahr in die USA exportiert werden, was den Preis
für die Tortillas das Grundnahrungsmittel aus Maisfladen sprunghaft von 8 auf 18 Pesos
je Kilo treiben wird.
Soziale Konflikte sind also
vorprogrammiert. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sie politisch gelöst werden können,
u.a. weil die Oppositionspartei PRD in sich gespalten ist: in einen institutionellen Flügel, der aus
Abgeordneten, Senatoren und gut bezahlten Mitgliedern von immer weniger Landesregierungen besteht, und die
Anhängerschaft des ausgetricksten Präsidentschaftskandidaten López Obrador, der sich am
20.November des vergangenen Jahres von Millionen von Menschen als "presidente legítimo"
ausrufen ließ und inzwischen eine Art Gegenregierung zusammengestellt hat, die die Regierung
Calderón nach wie vor nicht anerkennt.
Angesichts dieser inneren Polarisierung des
Landes gleicht die gegenwärtige Lage in Mexiko einer Ruhe vor einem allseits erwarteten Sturm. Die
meisten sozialen Bewegungen bereiten sich in ihren strategischen Plänen auf einen längeren Kampf
vor, der zum Jahreswechsel beginnen soll und 2010 in eine kritische Phase gehen würde. Auf
Subcomandante Marcos geht die Einschätzung zurück, das Jahr 2010 genau 200 Jahre nach der
Unabhängigkeit und 100 Jahre nach dem Beginn der mexikanischen Revolution könnte zum
Schlüsseljahr für ein mögliches Auseinanderbrechen des politischen Systems werden; ihr ist
durchaus etwas abzugewinnen.
Vielleicht behalten aber doch die Mayas
Recht, deren Kalender für 2012 das Ende eines historischen Zyklus voraussieht, was manche als den
"Untergang der Welt" interpretieren. Die Antwort darauf steht wie immer in den Sternen.
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