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Die letzten Bastionen komfortabler Rentenregelungen für Beschäftigte in den staatlichen
Versorgungsunternehmen Frankreichs fallen. Auch französische Eisenbahner, Eletrizitäts- und
Transportarbeiter sollen künftig nach 40 Beitragsjahren in Rente gehen. Paralle dazu mobiliseren
verschiedene Bewegungen gegen die Verschärfung der Ausländergesetze. Die soziale" und die
"moralische" Linke scheinen gespalten: die erstere konzentriert sich im Wesentlichen auf
gewerkschaftliche Fragen, die andere auf Fragen der Menschenrechte. Bernard Schmid erläutert die
schwierige Situation der Defensive, in der sich die französische Opposition derzeit befindet.
Einst mussten die meisten Lohnabhängigen in Frankreich 37,5
Beitragsjahre hindurch in die Rentenkasse einzahlen, um eine volle Pension zu beziehen. Erstmals wurde
diese Regel 1993 durch die konservativ-liberale Regierung Edouard Balladurs abgeändert: Die
Beschäftigten im privaten Industrie- oder Dienstleistungsgewerbe mussten künftig 40 Jahre
einzahlen. Für die Staatsbediensteten blieb es zunächst noch bei 37,5 Jahren. Die
Ungleichzeitigkeit bei der "Reform" resultierte daraus, dass die Privatbeschäftigten
während der tiefen Rezession der Jahre 1992/93 die von einem extremen Anstieg der
Arbeitslosigkeit begleitet war weitgehend in die Defensive gedrängt waren. Die Angestellten im
öffentlichen Dienst und ihre Gewerkschaften flößten der Regierung zunächst noch Furcht
ein. Aber das Kabinett Balladur hatte eine Zeitbombe platziert, die nur darauf wartete, gezündet zu
werden.
Zehn Jahre später versuchte dessen
konservative Nachfolgeregierung unter Jean-Pierre Raffarin kräftig den Sozialneid anzufachen, indem
sie den öffentlichen Dienst Lehrer, Krankenschwestern, Archäologen als
"Privilegierte" hinstellte, die nur für ihre Besitzstandswahrung streikten. Zum Teil ging
diese Rechnung auf, auch wenn die 2003 beschlossene Reform real für alle Lohn- und
Gehaltsempfänger auch jene im Privatsektor erhebliche Verschlechterungen mit sich
brachte. Denn für alle Beschäftigtengruppen sollte die Zahl der obligatorischen Beitragsjahre auf
42,5 angehoben werden.
Es blieben jene Lohnabhängigen
übrig, die unter Sonderregelungen fallen. Diese "Régimes spéciaux" resultieren zum
Gutteil aus der Periode unmittelbar nach 1945, als im Rahmen des in der Führung der Résistance
geschlossenen "historischen Kompromisses" zwischen der KP und den Gaullisten entschieden wurde,
bestimmte Sektoren wie Transport und Energieversorgung dem Privatsektor und den Marktgesetzen zu entziehen.
Damals rechtfertigte sich die Regelung,
dass etwa die Eisenbahner mit 55 Jahren, Lokführer schon ab 50 in Rente gehen durften, mit den damals
extremen Arbeitsbedingungen auf den Dampflokomotiven. Später dienten die im öffentlichen Dienst
erlämpften Arbeitsbedingungen den Gewerkschaften als Vorlage, um ähnliche Bestimmungen auch in
anderen Sektoren zu fordern. Auf diese Weise sollten alle Berufsgruppen ihre Lage durch eine
"Anpassung nach oben" verbessern.
Heute will die Regierung das genaue
Gegenteil durchsetzen, also eine "Anpassung nach unten" für alle Lohnabhängigen. Wer
sich dem widersetzt, wird als "Verteidiger ungerechtfertiger Privilegien" gescholten.
Nur zwei Gruppen, die ebenfalls von
Sonderregelungen bei der Rente profitieren, bleiben dabei derzeit ausgeklammert. Es handelt sich um
hauptberufliche Militärs und Abgeordnete.
Am 18. Oktober riefen die französischen Bahngewerkschaften zusammen mit Beschäftigten anderer
öffentlicher Betriebe zum einem landesweiten Streik auf, der weithin befolgt wurde. Über 73%
aller Eisenbahner sowie knapp 59% der Beschäftigten bei den Pariser Verkehrsbetrieben und 45% der
Beschäftigten bei den Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF beteiligten sich am Arbeitskampf gegen
die Pläne zur Abschaffung ihrer Rentenregelungen. Die Streikbeteiligung hat bei den Eisenbahnern damit
einen historischen Rekord gebrochen, zuletzt war ein solches Niveau in den 30er Jahren erreicht worden.
Beim Transportarbeiterstreik im Spätherbst 1995 waren es noch 67% gewesen. Die
Straßendemonstrationen waren demgegenüber mit 150000 Teilnehmenden relativ schwach. Hingegen fiel
positiv auf, dass bei weitem nicht nur Transportbeschäftigte auf der Straße waren, sondern eine
Vielzahl sozialer Gruppen, die mehrheitlich nicht von den "Régimes spéciaux" betroffen
sind.
Am 22.Oktober trafen sich die
unterschiedlichen Richtungsgewerkschaften, die in den französischen Transportbetrieben vertreten sind,
am Hauptsitz des größten französischen Gewerkschaftsverbands, CGT, in Montreuil bei Paris.
Am Ende einer dreistündigen Diskussion wurde beschlossen, sich am 31.Oktober wieder zu treffen, um
über eine eventuelle Wiederaufnahme des Streiks zu beraten. Zwischenzeitlich sollen die Verhandlungen
beginnen; am 24.Oktober wurden zunächst die (rechtssozialdemokratische) CFDT und die
("postkommunistische") CGT beim Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand empfangen, um
über die Bedingungen der "Reform" zu diskutieren. Vor allem die CGT erklärte sich vom
Verlauf der Gespräche offen "enttäuscht". Die CFDT zeigte sich zwar nicht offen
enthusiastisch, hatte aber schon in der Vorwoche ihre sofortige Verhandlungsbereitschaft für den Fall
erkennen lassen, dass lediglich Details an der geplanten "Reform" der Rentenregelungen
geändert würden.
Obwohl sie sich nicht so stark auf
Anpassungskurs zur konservativen Politik befindet wie die sozialliberale CFDT, setzt auch die Führung
der CGT auf eine Eingrenzung des Konflikts. Sie hatte beim Streik am 18.Oktober darauf bestanden, diesen
auf 24 Stunden zu begrenzen. Dagegen hatten die linksalternative Basisgewerkschaft SUD Rail wie auch die
Eisenbahner der Gewerkschaft Force Ouvrière (FO) für eine unbefristete Fortführung des
Streiks plädiert. Damit konnten sie sich aber in der Praxis nicht durchsetzen. Trotzdem war der
Verkehr zwei bis drei Tage lang beeinträchtigt.
Die CGT befürchtete, dass ein Streik
der Transportbetriebe nach ein paar Tagen unpopulär werden könnte. Darüber hinaus war die
CGT aber auch nicht gewillt, das Risiko einzugehen, mit hohem Einsatz zu spielen und danach zu verlieren.
Sie befürchtet, dass eineKraftprobe, wenn sie denn verloren geht, die französischen
Gewerkschaften jahrelang in die Defensive zurückwerfen könnte. Deshalb möchte die CGT den
Einsatz, die "Kampfzone" und das Risiko von vornherein begrenzen.
Gleichzeitig gab es in den vergangenen Wochen Proteste, aber auch Polemiken bis hinein ins
Regierungslager über die Vorlage für ein neues verschärftes Ausländergesetz. Es wurde
am 23. Oktober durch die beiden Kammern des französischen Parlaments verabschiedet.
Besonders die geplanten DNA-Untersuchungen
für Visumbewerber, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Frankreich einreisen möchten,
stoßen auch einen Teil der bürgerlichen Rechten ab. Deshalb stimmten immerhin 25 Abgeordnete der
konservativen Regierungspartei UMP mit Nein bzw. enthielten sich der Stimme. Die Opposition vereinigte
dabei christlich motivierte Politiker die christlichen Kirchen haben das Gesetz scharf abgelehnt
einige Liberale sowie Politiker mit Migrationshintergrund.
Eine Großveranstaltung im Pariser
Konzertsaal Le Zénith am 14.Oktober versammelte über 6000 Personen mehr Besucher fasst der
Saal nicht. Zahlreiche Interessierte mussten abgewiesen werden. Vier Organisatoren hatten sie auf die Beine
gestellt: die sozialdemokratische Tageszeitung Libération, die linksliberale Wochenzeitung Charlie
Hebdo und die staatstragend-sozialdemokratische Antirassismusorganisation SOS Racisme sowie Bernard-Henri
Lévy. Radikalere kritische Kräfte fanden sich sicherlich auch im (jüngeren) Publikum,
prägten jedoch nicht den Aufruf und das Gesamtprofil der Veranstaltung, das eher von
Repräsentanten der Kulturschickeria wie dem Fernsehphilosophen und Pseudointellektuellen Bernard-Henri
Lévy (BHL) dominiert wurde.
Besonders unangenehm fiel auf, dass die
mehreren Dutzend Rednerinnen und Redner keinerlei Verbindung zu den Mobilisierungen der sozialen Bewegungen
und Solidaritätskollektive zugunsten der Sans papiers und gegen die neuerliche Verschärfung der
Einwanderungsgesetze herstellten. Am 20.Oktober demonstrierten etwa 6000 bis 8000 Menschen in Paris, 3000
in Lyon und Hunderte in mehreren französischen Städten gegen Abschiebungen und repressive
Ausländergesetze.
Kein einziger Redner bei der
Großveranstaltung im Zénith sechs Tage zuvor hätte diese Demonstrationen angekündigt
oder auch nur erwähnt hätte nicht ein Sänger 60 Sekunden seiner Redezeit an zwei
Vertreterinnen der Initiative RESF ("Netzwerk Erziehung ohne Grenzen") abgetreten, die sich
gegen die Abschiebung schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien engagiert.
Ansonsten lautete die einzige politische
Perspektive, die den Anwesenden angeboten wurde, sie sollten die mitveranstaltenden Zeitungen abonnieren
sowie darauf vertrauen, dass die sozialdemokratischen Parlamentsabgeordneten das neue
Einwanderungsgesetz vor dem Verfassungsgericht zu Fall bringen werden.
Eine der Hauptgefahren der derzeitigen Situation liegt in einer anhaltenden Spaltung zwischen dem, was
die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde im Frühjahr 1997 "gauche sociale" bzw.
"gauche morale" (soziale Linke bzw. moralische Linke) nannte. Die erstere, so die Zeitung damals,
demonstriere gegen Massenentlassungen von Fabrikarbeitern (zu jener Zeit ging es um die Arbeiter des
Renault-Werks in Vilvoorde bei Brüssel), die letztere gegen die seinerzeit anstehende Runde bei der
Verschärfung der Ausländergesetzgebung die Loi Debré, das Gesetz des damaligen
Innenministers Jean-Louis Debré vom Februar/März 1997.
Le Monde versuchte diese "beiden
Linken" einander gegenüberzustellen und auf ihre tiefgreifenden Unterschiede hinzuweisen. Das
ergab eine interessante These für intellektuelle Debatten, aber die (links)liberal dominierte
Redaktion hatte keinerlei politisches Interesse daran, die beiden auf diese Weise getrennt dargestellten
Ansätze von Gesellschaftskritik zusammenzuführen, um linke Perspektiven zu stärken.
Allerdings, damals war die Rede von einer
Spaltung oder gar Unvereinbarkeit zwischen den "beiden Linken" eine glatte Lüge. Zwar hatten
auch damals, Anfang 1997, Angehörige der kulturlinken Schickeria die Aufrufe zum Protest gegen die Loi
Debré mit initiiert. Aber dabei war es nicht geblieben. 150000 Menschen waren im Februar jenes Jahres
dem Aufruf zur Demo in Paris gegen das neue Gesetz zur Schikanierung von in Frankreich lebenden
Ausländern gefolgt. Gewerkschaften und Aktivisten aus allen Spektren der Linken spielten eine
maßgebliche Rolle bei den Protesten, die sich aus dem damaligen allgemeinen Aufbruchsklima für
die sozialen Bewegungen nährten.
Heute scheinen die Dinge
vorläufig anders zu liegen. Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl haben Spuren
hinterlassen, ebenso die vorausgegangenen Niederlagen von sozialen Bewegungen etwa des breiten
Protests gegen die "Rentenreform" von 2003. Auch der neuerliche Rechtsruck der französischen
Sozialdemokratie seit dem vorigen Jahr, symbolisiert (aber nicht erschöpfend erklärt) durch die
Nominierung der blairistischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal, spielt eine nicht
unwesentliche Rolle. Nicht zuletzt bleibt aber die Defensivsituation, in der die gesamte soziale Opposition
sich derzeit gegenüber einem in der Offensive befindlichen rechten Regierungslager befindet, das
Hauptproblem.
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