SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2007, Seite 12

Frankreich

Zwischen gewerkschaftlichen Streiks und moralischem Antirassismus

von Bernard Schmid

Die letzten Bastionen komfortabler Rentenregelungen für Beschäftigte in den staatlichen Versorgungsunternehmen Frankreichs fallen. Auch französische Eisenbahner, Eletrizitäts- und Transportarbeiter sollen künftig nach 40 Beitragsjahren in Rente gehen. Paralle dazu mobiliseren verschiedene Bewegungen gegen die Verschärfung der Ausländergesetze. Die soziale" und die "moralische" Linke scheinen gespalten: die erstere konzentriert sich im Wesentlichen auf gewerkschaftliche Fragen, die andere auf Fragen der Menschenrechte. Bernard Schmid erläutert die schwierige Situation der Defensive, in der sich die französische Opposition derzeit befindet.

Einst mussten die meisten Lohnabhängigen in Frankreich 37,5 Beitragsjahre hindurch in die Rentenkasse einzahlen, um eine volle Pension zu beziehen. Erstmals wurde diese Regel 1993 durch die konservativ-liberale Regierung Edouard Balladurs abgeändert: Die Beschäftigten im privaten Industrie- oder Dienstleistungsgewerbe mussten künftig 40 Jahre einzahlen. Für die Staatsbediensteten blieb es zunächst noch bei 37,5 Jahren. Die Ungleichzeitigkeit bei der "Reform" resultierte daraus, dass die Privatbeschäftigten während der tiefen Rezession der Jahre 1992/93 — die von einem extremen Anstieg der Arbeitslosigkeit begleitet war — weitgehend in die Defensive gedrängt waren. Die Angestellten im öffentlichen Dienst und ihre Gewerkschaften flößten der Regierung zunächst noch Furcht ein. Aber das Kabinett Balladur hatte eine Zeitbombe platziert, die nur darauf wartete, gezündet zu werden.
Zehn Jahre später versuchte dessen konservative Nachfolgeregierung unter Jean-Pierre Raffarin kräftig den Sozialneid anzufachen, indem sie den öffentlichen Dienst — Lehrer, Krankenschwestern, Archäologen — als "Privilegierte" hinstellte, die nur für ihre Besitzstandswahrung streikten. Zum Teil ging diese Rechnung auf, auch wenn die 2003 beschlossene Reform real für alle Lohn- und Gehaltsempfänger — auch jene im Privatsektor — erhebliche Verschlechterungen mit sich brachte. Denn für alle Beschäftigtengruppen sollte die Zahl der obligatorischen Beitragsjahre auf 42,5 angehoben werden.
Es blieben jene Lohnabhängigen übrig, die unter Sonderregelungen fallen. Diese "Régimes spéciaux" resultieren zum Gutteil aus der Periode unmittelbar nach 1945, als im Rahmen des in der Führung der Résistance geschlossenen "historischen Kompromisses" zwischen der KP und den Gaullisten entschieden wurde, bestimmte Sektoren wie Transport und Energieversorgung dem Privatsektor und den Marktgesetzen zu entziehen.
Damals rechtfertigte sich die Regelung, dass etwa die Eisenbahner mit 55 Jahren, Lokführer schon ab 50 in Rente gehen durften, mit den damals extremen Arbeitsbedingungen auf den Dampflokomotiven. Später dienten die im öffentlichen Dienst erlämpften Arbeitsbedingungen den Gewerkschaften als Vorlage, um ähnliche Bestimmungen auch in anderen Sektoren zu fordern. Auf diese Weise sollten alle Berufsgruppen ihre Lage durch eine "Anpassung nach oben" verbessern.
Heute will die Regierung das genaue Gegenteil durchsetzen, also eine "Anpassung nach unten" für alle Lohnabhängigen. Wer sich dem widersetzt, wird als "Verteidiger ungerechtfertiger Privilegien" gescholten.
Nur zwei Gruppen, die ebenfalls von Sonderregelungen bei der Rente profitieren, bleiben dabei derzeit ausgeklammert. Es handelt sich um hauptberufliche Militärs und Abgeordnete.

Gewerkschaftliche Spaltung und Strategien

Am 18. Oktober riefen die französischen Bahngewerkschaften zusammen mit Beschäftigten anderer öffentlicher Betriebe zum einem landesweiten Streik auf, der weithin befolgt wurde. Über 73% aller Eisenbahner sowie knapp 59% der Beschäftigten bei den Pariser Verkehrsbetrieben und 45% der Beschäftigten bei den Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF beteiligten sich am Arbeitskampf gegen die Pläne zur Abschaffung ihrer Rentenregelungen. Die Streikbeteiligung hat bei den Eisenbahnern damit einen historischen Rekord gebrochen, zuletzt war ein solches Niveau in den 30er Jahren erreicht worden. Beim Transportarbeiterstreik im Spätherbst 1995 waren es noch 67% gewesen. Die Straßendemonstrationen waren demgegenüber mit 150000 Teilnehmenden relativ schwach. Hingegen fiel positiv auf, dass bei weitem nicht nur Transportbeschäftigte auf der Straße waren, sondern eine Vielzahl sozialer Gruppen, die mehrheitlich nicht von den "Régimes spéciaux" betroffen sind.
Am 22.Oktober trafen sich die unterschiedlichen Richtungsgewerkschaften, die in den französischen Transportbetrieben vertreten sind, am Hauptsitz des größten französischen Gewerkschaftsverbands, CGT, in Montreuil bei Paris. Am Ende einer dreistündigen Diskussion wurde beschlossen, sich am 31.Oktober wieder zu treffen, um über eine eventuelle Wiederaufnahme des Streiks zu beraten. Zwischenzeitlich sollen die Verhandlungen beginnen; am 24.Oktober wurden zunächst die (rechtssozialdemokratische) CFDT und die ("postkommunistische") CGT beim Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand empfangen, um über die Bedingungen der "Reform" zu diskutieren. Vor allem die CGT erklärte sich vom Verlauf der Gespräche offen "enttäuscht". Die CFDT zeigte sich zwar nicht offen enthusiastisch, hatte aber schon in der Vorwoche ihre sofortige Verhandlungsbereitschaft für den Fall erkennen lassen, dass lediglich Details an der geplanten "Reform" der Rentenregelungen geändert würden.
Obwohl sie sich nicht so stark auf Anpassungskurs zur konservativen Politik befindet wie die sozialliberale CFDT, setzt auch die Führung der CGT auf eine Eingrenzung des Konflikts. Sie hatte beim Streik am 18.Oktober darauf bestanden, diesen auf 24 Stunden zu begrenzen. Dagegen hatten die linksalternative Basisgewerkschaft SUD Rail wie auch die Eisenbahner der Gewerkschaft Force Ouvrière (FO) für eine unbefristete Fortführung des Streiks plädiert. Damit konnten sie sich aber in der Praxis nicht durchsetzen. Trotzdem war der Verkehr zwei bis drei Tage lang beeinträchtigt.
Die CGT befürchtete, dass ein Streik der Transportbetriebe nach ein paar Tagen unpopulär werden könnte. Darüber hinaus war die CGT aber auch nicht gewillt, das Risiko einzugehen, mit hohem Einsatz zu spielen und danach zu verlieren. Sie befürchtet, dass eineKraftprobe, wenn sie denn verloren geht, die französischen Gewerkschaften jahrelang in die Defensive zurückwerfen könnte. Deshalb möchte die CGT den Einsatz, die "Kampfzone" und das Risiko von vornherein begrenzen.

Gegen Verschärfung der Ausländergesetze

Gleichzeitig gab es in den vergangenen Wochen Proteste, aber auch Polemiken bis hinein ins Regierungslager über die Vorlage für ein neues verschärftes Ausländergesetz. Es wurde am 23. Oktober durch die beiden Kammern des französischen Parlaments verabschiedet.
Besonders die geplanten DNA-Untersuchungen für Visumbewerber, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Frankreich einreisen möchten, stoßen auch einen Teil der bürgerlichen Rechten ab. Deshalb stimmten immerhin 25 Abgeordnete der konservativen Regierungspartei UMP mit Nein bzw. enthielten sich der Stimme. Die Opposition vereinigte dabei christlich motivierte Politiker — die christlichen Kirchen haben das Gesetz scharf abgelehnt — einige Liberale sowie Politiker mit Migrationshintergrund.
Eine Großveranstaltung im Pariser Konzertsaal Le Zénith am 14.Oktober versammelte über 6000 Personen — mehr Besucher fasst der Saal nicht. Zahlreiche Interessierte mussten abgewiesen werden. Vier Organisatoren hatten sie auf die Beine gestellt: die sozialdemokratische Tageszeitung Libération, die linksliberale Wochenzeitung Charlie Hebdo und die staatstragend-sozialdemokratische Antirassismusorganisation SOS Racisme sowie Bernard-Henri Lévy. Radikalere kritische Kräfte fanden sich sicherlich auch im (jüngeren) Publikum, prägten jedoch nicht den Aufruf und das Gesamtprofil der Veranstaltung, das eher von Repräsentanten der Kulturschickeria wie dem Fernsehphilosophen und Pseudointellektuellen Bernard-Henri Lévy (BHL) dominiert wurde.
Besonders unangenehm fiel auf, dass die mehreren Dutzend Rednerinnen und Redner keinerlei Verbindung zu den Mobilisierungen der sozialen Bewegungen und Solidaritätskollektive zugunsten der Sans papiers und gegen die neuerliche Verschärfung der Einwanderungsgesetze herstellten. Am 20.Oktober demonstrierten etwa 6000 bis 8000 Menschen in Paris, 3000 in Lyon und Hunderte in mehreren französischen Städten gegen Abschiebungen und repressive Ausländergesetze.
Kein einziger Redner bei der Großveranstaltung im Zénith sechs Tage zuvor hätte diese Demonstrationen angekündigt oder auch nur erwähnt — hätte nicht ein Sänger 60 Sekunden seiner Redezeit an zwei Vertreterinnen der Initiative RESF ("Netzwerk Erziehung ohne Grenzen") abgetreten, die sich gegen die Abschiebung schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien engagiert.
Ansonsten lautete die einzige politische Perspektive, die den Anwesenden angeboten wurde, sie sollten die mitveranstaltenden Zeitungen abonnieren — sowie darauf vertrauen, dass die sozialdemokratischen Parlamentsabgeordneten das neue Einwanderungsgesetz vor dem Verfassungsgericht zu Fall bringen werden.

Versuch eines Fazits

Eine der Hauptgefahren der derzeitigen Situation liegt in einer anhaltenden Spaltung zwischen dem, was die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde im Frühjahr 1997 "gauche sociale" bzw. "gauche morale" (soziale Linke bzw. moralische Linke) nannte. Die erstere, so die Zeitung damals, demonstriere gegen Massenentlassungen von Fabrikarbeitern (zu jener Zeit ging es um die Arbeiter des Renault-Werks in Vilvoorde bei Brüssel), die letztere gegen die seinerzeit anstehende Runde bei der Verschärfung der Ausländergesetzgebung — die Loi Debré, das Gesetz des damaligen Innenministers Jean-Louis Debré vom Februar/März 1997.
Le Monde versuchte diese "beiden Linken" einander gegenüberzustellen und auf ihre tiefgreifenden Unterschiede hinzuweisen. Das ergab eine interessante These für intellektuelle Debatten, aber die (links)liberal dominierte Redaktion hatte keinerlei politisches Interesse daran, die beiden auf diese Weise getrennt dargestellten Ansätze von Gesellschaftskritik zusammenzuführen, um linke Perspektiven zu stärken.
Allerdings, damals war die Rede von einer Spaltung oder gar Unvereinbarkeit zwischen den "beiden Linken" eine glatte Lüge. Zwar hatten auch damals, Anfang 1997, Angehörige der kulturlinken Schickeria die Aufrufe zum Protest gegen die Loi Debré mit initiiert. Aber dabei war es nicht geblieben. 150000 Menschen waren im Februar jenes Jahres dem Aufruf zur Demo in Paris gegen das neue Gesetz zur Schikanierung von in Frankreich lebenden Ausländern gefolgt. Gewerkschaften und Aktivisten aus allen Spektren der Linken spielten eine maßgebliche Rolle bei den Protesten, die sich aus dem damaligen allgemeinen Aufbruchsklima für die sozialen Bewegungen nährten.
Heute scheinen die Dinge — vorläufig — anders zu liegen. Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl haben Spuren hinterlassen, ebenso die vorausgegangenen Niederlagen von sozialen Bewegungen — etwa des breiten Protests gegen die "Rentenreform" von 2003. Auch der neuerliche Rechtsruck der französischen Sozialdemokratie seit dem vorigen Jahr, symbolisiert (aber nicht erschöpfend erklärt) durch die Nominierung der blairistischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal, spielt eine nicht unwesentliche Rolle. Nicht zuletzt bleibt aber die Defensivsituation, in der die gesamte soziale Opposition sich derzeit gegenüber einem in der Offensive befindlichen rechten Regierungslager befindet, das Hauptproblem.


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